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E-Book

Altwerden ist das Schönste und Dümmste, was einem passieren kann

AutorReimer Gronemeyer
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783896844712
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die Alten sind die Musterschüler der Leistungsgesellschaft, die digitale Avantgarde im Vitaldaten-Monitor, die umworbene Kundschaft eines verantwortungslosen Marktes. Schonungslos schreibt Reimer Gronemeyer über das Altwerden im Würgegriff von Konsum und Jugendwahn. Sein hoffnungsvolles Gegenbild ist eine neue Kultur der Nachdenklichkeit. Sie entfaltet sich im unermüdlich bewussten Unterwegssein. Und in der Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen, Nähe zu wagen, neu aufzubrechen. Denn es geht immer um Befreiung. Das persönlichste Buch des renommierten Soziologen Reimer Gronemeyer ist eine Einladung, einen eigenen Umgang mit der großen Aufgabe Alter zu finden.

Reimer Gronemeyer ist Theologe und Soziologe. Er studierte in Hamburg, Heidelberg und Edinburgh und promovierte in Theologie und Soziologie. Seit 1975 hat Gronemeyer eine Professur für Soziologie an der Universität Gießen inne. Zahlreiche Forschungsprojekte führten ihn nach Osteuropa und Afrika. In seinen Veröffentlichungen (zuletzt: »In Ruhe sterben«, 2014), als Mitherausgeber von Fachzeitschriften und in Stiftungsgremien beschäftigt er sich intensiv mit Fragen der alternden Gesellschaft, Demenz und Sterbebegleitung.

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Leseprobe

Kapitel 1:
Altern in Würde?


Wie die Altersbilder mit der Wirklichkeit zusammenstoßen


»Er fühlte sich alt in der Jugend und jung im Alter.«

Hugo Ball über Hermann Hesse

Alt sein – so kommt es mir vor – ist ein Zustand der Betäubung. Ich spüre das Alter nicht oder nur, wenn ich in den Spiegel schaue. Und auch da sehe ich es mehr, als dass ich es empfinde. Meine Falten sind mir gewissermaßen voraus. An ihnen kann ich ablesen, dass ich alt bin, aber ich glaube ihrer Botschaft nicht. Von Zeit zu Zeit klopft das Alter an und will mich beugen, doch gehe ich dann besonders aufrecht, obwohl mir vielleicht gerade nach ›gebeugt‹ zumute ist. Manchmal bewege ich mich auch – die Betäubung weicht für kurze Zeit – extra krumm. Eine Art Probehandeln, ich versuche zu spüren, wie es sein würde, wenn ich einmal wirklich alt wäre. Ich flaniere dann, denke ich, auf dem Seniorenlaufsteg. Ein Catwalk für Auslaufmodelle.

Kürzlich ging ich am Rande eines unbeleuchteten Grabens, es war dunkel, meine Schritte waren wohl etwas unsicher, da ergriff eine jüngere Kollegin meinen Arm, um mich schützend durch die unübersichtliche Situation zu geleiten. Ich habe mich leise abwehrend entzogen. Brauch’ ich das schon? Geht es los? Ich dachte an Henry David Thoreau, der im 19. Jahrhundert allein in den Wäldern Kanadas lebte und gesagt hat: »Wüsste ich gewiss, dass jemand zu mir käme, mit der bewussten Absicht, mir eine Wohltat zu erweisen, ich würde davonlaufen, so schnell mich meine Füße tragen wollten … aus Angst, er könne mir etwas von seinem Guten antun.«1

Da ist ja ohnehin ein Begleiter im Alter, der irgendwann auftaucht und dann dauerhaft neben einem hergeht und nicht mehr verschwinden will. Ein Gespenst im T-Shirt, auf dem die Schreckmitteilung prangt: »Jetzt geht es los!« Ja, wann schlägt das Alter zu? Heute? Morgen? Da sind die Namen, die ich plötzlich vergesse. Oder: Ich höre von jemandem, der morgens aufwacht und am Auge eine Ausbeulung feststellt. Einige Wochen später ist er tot. Was wird mich hinfällig machen? Was lauert mir hinter der nächsten Ecke auf? Und dann erinnere ich mich zur Aufmunterung an die Nachricht vom 92-jährigen Inder, der jetzt beschlossen hat, seinen letzten Marathon zu laufen. Ein Schwanken zwischen innerer Belustigung und angespannter Hoffnung: Na ja, es kommt ja vielleicht doch noch was? Vielleicht sind wider Erwarten Aufbrüche möglich? Hat nicht Johann Sebastian Bach seine wichtigsten Werke als Uralter geschrieben? Sind nicht Verdis Spätwerke (Falstaff!) die ergreifendsten? Sieht man nicht den greisen Michelangelo schöne junge Knaben aus dem Marmor schlagen? Schon vor vielen Jahren, als ich noch jung war, hat mich dieses Bild tief berührt: Der alte, sehr alte und fast blinde Ernst Bloch liegt auf einer Wiese und der junge Rudi Dutschke neben ihm, die beiden ins Gespräch vertieft. Das Alter kann offenbar mit dem Neuen, dem Jungen, dem Überraschenden verbunden sein. Aber man ist ja nicht Bach oder Verdi oder Bloch …

»Was ich bereue?«, fragt der alt gewordene Schriftsteller Hermann Peter Piwitt. »Dass ich ständig verliebt war, ohne das Zeug dazu zu haben? … Ich habe einige unglücklich gemacht und dafür selbst mächtig an die Backen gekriegt. So, wie es sich gehörte … Ich brauchte fast zwei Jahre, eh ich begriff, warum die Mädchen nicht mehr zurückguckten. Sie strichen nicht mehr ihr Haar hinter die Ohren oder ordneten es oder verwuselten es ein bisschen im Vorübergehen. Sie schwebten einfach vorbei, die kleinen Rotzlöffel, an dem Mann, dem doch nichts fehlte, als dass er sein schönes blondes Haar verloren hatte: aber sonst tipptopp.«2

Ich frage mich, ob es früher leichter war, den Verfall des Körpers, den das Alter mit sich bringt, zu ertragen. Gehe ich durch einen Bahnhofskiosk, wo jede noch so fade Fernsehprogrammzeitschrift einen mit Jugendlichkeit überschüttet, ist man mit seinen Falten eigentlich schon eine Missgeburt. War das – sagen wir mal: für Cicero – auch eine so allgegenwärtige Provokation, obwohl ihn nicht unablässig vervielfältigte Blondchen anglotzten? Wahrscheinlich ja. Er zitiert in seinem großen Werk De senectute (Über das Alter) die Klage des Anakreon:

Grau sind schon meine Schläfen und weiß das Haar am Kopfe,
fort ist der Reiz der Jugend, es wackeln meine Zähne.
Vom süßen Leben bleibt mir nicht mehr viel Zeit noch übrig.
Deswegen muß ich jammern, es graut mir vor dem Hades –
Das ist ein garstiger Winkel, und schlüpfrig ist der Abstieg,
und ist man einmal drunten, dann gibt es kein Zurück mehr.3

Der Altersschmerz war wohl ähnlich präsent. Aber vielleicht zieht das mediale Blondchenfeuer uns auf eine nur noch physische Verkrampfung herunter – was das Altwerden zu einer primitiven Verteidigungsschlacht macht, die von vornherein verloren ist. Je mehr wir auf das äußere Erscheinungsbild des Altwerdens festgelegt sind und damit auf das »Nicht mehr«, desto schwieriger wird es, sich auf die Innenlage zu besinnen. Verleugnung des Alters und nicht Akzeptanz möchte in den Vordergrund treten. Das Innenleben sklerosiert: Mir kommt es so vor, als wenn das innere Tunnelsystem, in dem ich nach der Bedeutung und den Folgen des Altwerdens suchen müsste, völlig von Ablagerungen verstopft ist. Wie bei den Arterien, die mit dem Herzen verbunden sind, so sind heute die Zugänge zum Tunnelsystem der Gefühle in uns verstopft. Und während man vielleicht versucht, in sich zu graben und zu wühlen, um etwas davon zu begreifen, was es heißt: alt werden, kommt bestimmt jemand und spricht von »Altern in Würde«, was bei mir zunächst einmal die Assoziation Rollator, beigefarbene Mütze, Essen auf Rädern oder Apothekenrundschau auslöst.

Ich erinnere mich an zwei Begegnungen mit Menschen, die sich selbst zum Aushängeschild einer Pseudojugendlichkeit haben machen lassen. Ein Schauspieler, mit dem ich in einer Talkshow saß, Mitte fünfzig, glattes Gesicht. Er hatte auch gleich sein eigenes Buch zum Thema Lifting zur Hand, das er unablässig anpries. Ich schaute ihn an und dachte: Ja, man kann sich die Demenz, die Erinnerungslosigkeit, auch ins Gesicht operieren lassen. Das gelebte Leben war erfolgreich aus dem Gesicht entfernt worden. Irgendjemand hat mal gesagt: Ab dreißig ist jeder für sein Gesicht verantwortlich. Wenn das wahr ist, ist das Lifting ja auch eine Antwort. Das Gesicht wird gewissermaßen an das Illustriertencover angepasst.

Es geht übrigens nicht um die sogenannte Natürlichkeit. Der spanische Regisseur Pedro Almodóvar lässt in seinem Film Alles über meine Mutter die transsexuelle Sekretärin Lena vor die Bühne treten und eine Rede über Authentizität halten. Im Grunde sei gerade das Falsche an ihr (die Brüste, das Lifting) authentisch, weil sie endlich die geworden sei, die sie sein wolle.

Die andere Person war eine Frau, mit der ich in einem Café in Windhuk, Namibia, saß. Goldene Ringe, goldene Ketten, blondes Haar, braune Haut, weißes T-Shirt. Irgendwann wurde mir der Grund meiner Irritation bewusst: Die straffe Haut im Gesicht kontrastierte mit den faltigen Händen, die diesem alterslosen Gesicht weit vorausgeeilt waren. Irgendwie passten die rassistischen Sprüche, die sie über ihre schwarzen Angestellten absonderte, zu dieser Pseudoattraktivität, einer vorgespiegelten, operativen Jugendlichkeit, einer leblosen Oberflächlichkeit, die doch mehr aus trauriger Konkurrenz als in lebendiger Anziehungskraft bestand.

Eine solche kostspielige Oberflächenbehandlung erlaubt es dann auch, die inneren Faltenlandschaften zu ignorieren. Äußerlich chirurgisch geglättet, lässt sich verbergen, dass innerlich der Schrecken des Altwerdens in einer Gletscherlandschaft eingefroren ist und zum Schweigen gebracht wurde.

Am anderen Ende, in Opposition zur Lifting-Fraktion, stehen diejenigen, die sagen: »Ich bin stolz auf jede Falte in meinem Gesicht.« Das ist natürlich auch ein Schmarrn. Welche dieser Falten spricht von Gier, welche von enttäuschter Liebe, welche von Schuld, welche von unerhörten Glückserfahrungen, welche von bitteren Niederlagen? Wenn das Gesicht und seine Falten etwas erzählen vom gelebten Leben, dann eine zwiespältige Geschichte. Zu der kann man vielleicht sagen: Es ist, wie es ist. Aber: Ich bin stolz auf jede Falte in meinem Gesicht? Nein, das ist Unsinn oder Arroganz …

Wie macht man das heute? Wie geht das: In Würde altern? Sicher ist es mit dem Altwerden nicht mehr so wie zu den Zeiten meiner Großmutter. Die saß mit ihrem dünn gewordenen, zum Knoten gebundenen weißen Haar in der Sofaecke. Schwarzes Kleid, eine weiße, gestärkte Schleife. Sie strickte, sie flickte Socken, sie schälte Kartoffeln und wünschte sich von ihren Enkeln ein Gummiband für ihr Brillenetui, das nicht mehr schloss. Das wurde von uns aus einem alten Fahrradschlauch geschnitten. Sie lebte ganz selbstverständlich mit ihrer Tochter und deren Familie zusammen und starb auch in ihrem Bett aus weißen Metallrohren. Eine eher düstere Lampe hing von der Decke, die am Rand Troddeln hatte und das Zimmer spärlich beleuchtete. Sie half, sie war da und hatte – wenn ich mich richtig erinnere – keine Ansprüche, sie war zufrieden. Das Wort würdig hätte sie für sich wohl nicht in Anspruch genommen. Respekt hatten wir vor dem strengen Großvater aus der anderen, der väterlichen Familie, der aussah wie Wilhelm II., ein verarmter, gescheiterter,...

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