6. Erfolg bringt Liebe – oder nicht?
Sein und Leisten
Die innere Zufriedenheit im Hier und Jetzt ist einem Seinszustand gleichzusetzen, einem Zustand also, in dem die handelnde Person völlig loslässt, sich von äußerem und innerem Erwartungsdruck freimachen kann und daher glücklich über ihre Existenz und dankbar ist, an dem Geschehen teilhaben zu dürfen. Gegenüber dieser Philosophie des Seins steht die Philosophie des Leistens bzw. das verbitterte Leistungsstreben, das den Handelnden immer wieder unter Druck setzt, sodass die Wertigkeit seiner Person nur über die Leistung, nur über den Erfolg definiert wird. Eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und ein gestärkter Selbstwert setzen eine ausgewogene Balance zwischen Sein und Leisten voraus.
Die Bedeutung der Leistung und des Erfolgs
in unserer Gesellschaft
wird durch die Erlebnisse
in unserer Erziehung geprägt.
Ein Beispiel dafür ist, wenn die Eltern dem Kind vermitteln: „Wir lieben Dich, weil Du ein so erfolgreicher Schüler/Sportler/Musiker bist.“ Das Kind erfährt Liebe, Anerkennung und Aufmerksamkeit aufgrund des Erfolgs und entwickelt dabei ein Selbstbild, in dem es nur geliebt wird, wenn es eben erfolgreich ist. Die Definition der Persönlichkeit des Menschen erfolgt ausschließlich über die Leistung. Da der Mensch ohne Liebe und Zuneigung nicht existieren kann, versucht er, immer noch mehr nach Leistung und Erfolg zu streben, um größere Anerkennung zu erfahren.
Krank nach Liebe und Anerkennung
Bleibt der Erfolg jedoch aus,
werden die Misserfolge
auf anderen Ebenen kompensiert,
beispielsweise durch das Haben.
Es wird versucht, die Aufmerksamkeit der anderen durch materiellen Besitz auf sich zu ziehen (z. B. Auto, Wohnung, Kleidung, Schmuck), um dadurch Zuneigung zu erfahren.
Oder man versucht durch unerwünschte Verhaltensweisen aufzufallen, wie etwa durch Zu-spät-Kommen, sich in den Mittelpunkt stellen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Fehlender Erfolg kann auch durch den sekundären Krankheitsgewinn kompensiert werden. Wenn beispielsweise die Frau erfährt, dass der Partner am Abend einen geschäftlichen Termin wahrnehmen muss, fühlt sie sich alleine und klagt über körperliche Beschwerden, wie beispielsweise Kopfschmerzen, die tatsächlich aufgrund der Stresssituation auftreten. Der Mann verschiebt daraufhin den Termin und kümmert sich um seine Frau. Der Krankheitsgewinn besteht darin, dass durch die Kopfschmerzen der Frau Zuneigung und Liebe zuteilwerden. Das Gehirn lernt dadurch, dass Kopfschmerzen belohnt werden. Belohnung führt generell zur Verstärkung eines Verhaltens, und dadurch wird die Wahrscheinlichkeit, dass ebendieses Verhalten häufiger zutage tritt, erhöht. Das nächste Mal, wenn sich die Frau alleine fühlt und sich nach Zuneigung sehnt, reagiert das Gehirn wiederum mit Schmerzen und die betroffene Person wartet auf die Befriedigung durch Zuneigung. Dadurch entsteht Abhängigkeit.
Im Sport werden unter Stressbedingungen oft vergangene und ausgeheilte Verletzungen wieder spürbar.
Häufig treten diese körperlichen Beschwerden an der Schwachstelle des Organismus auf. Sie drücken manchmal den Wunsch des Akteurs nach der Nähe des Physiotherapeuten, des Masseurs oder Arztes aus.
Liebe kümmert sich nicht um Erfolg
Der Seinszustand wäre vergleichbar mit der Situation, wenn die Eltern dem Kind vermitteln: „Wir lieben Dich, weil es Dich gibt.“ Die Aussage gewinnt eine existenzielle Dimension, auch etwas wert zu sein, ohne etwas geleistet zu haben. Dieses vermittelte Gefühl führt zu einem hohen Selbstwertgefühl des Menschen. Anzustreben ist eine Balance zwischen Sein und Leisten.
Die optimale Ausgewogenheit zwischen Sein und Leisten ermöglicht die Fähigkeit, auch in extremen Situationen loslassen zu können.
Erst wenn es unter großen Druckbelastungen wieder gelingt, mit sich eins zu werden, sich zu mögen allein aufgrund der Tatsache, dass man auf dieser Welt ist, macht es einen frei und gelassen und befähigt dazu, über sich selbst hinauszuwachsen und in den optimalen Leistungszustand zu gelangen.
Um die Bedeutung des Hier und Jetzt weiter zu verdeutlichen, bietet sich die Gegenüberstellung von Prozess- und Ergebnisorientierung an. So sind sich weltweit führende Motivationsforscher einig, dass der Erfolg nicht in der Ergebnis-, sondern in der Prozessorientierung liegt. Hier bewahrheitet sich auch der allseits bekannte Spruch „Der Weg ist das Ziel“.
Der optimale Leistungszustand ist also jener Zustand, in dem der Akteur in seiner Handlung aufgeht. Er vergisst alles um sich herum, die Gedanken sind auf die automatisierte Aktion gerichtet und daher im Hier und Jetzt. Der Psychoanalytiker und Buchautor Erich Fromm beschrieb bereits 1956 in seinem Werk „Die Kunst des Liebens“ diesen fokussierten Zustand mit folgenden Worten:
„Konzentriert sein heißt, ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt leben und nicht, während man das eine tut, an das Nächste denken, das anschließend zu tun ist …“
Viktor Frankl (1978) macht mit den Begriffen „Hyperreflexion“ und „Hyperintention“ am Beispiel der Paartherapie deutlich, dass sexuelle Probleme, vor allem Potenzstörungen, dadurch zustande kommen, dass der Mann um jeden Preis sexuell erfolgreich sein und etwas beweisen will (Hyperintention). Dies führt zu Verkrampfung und dahin, dass die Lust an der Handlung selbst mehr und mehr vergeht und reduziert wird. Ähnlich geschieht es bei der Frau, die permanent darüber nachdenkt, ob sie beim Sexualverkehr auch entspricht, ob sie zum Orgasmus kommt und nicht wieder enttäuscht werden würde (Hyperreflexion/Grübelkreislauf). Dies führt zum Libido-Verlust. Das Problem liegt wahrscheinlich daran, dass die beiden Sexualpartner mit ihrer Aufmerksamkeit mehr oder fast ausschließlich bei sich selbst sind und nicht beim Partner. Der Erwartungsdruck steigt ins Unerträgliche.
Für die beschriebenen Probleme setzte Frankl die Paradoxe Intention sehr erfolgreich ein. Hier wurde vom Therapeuten der Rat gegeben, künftig auf den sexuellen Verkehr zu verzichten und den Fokus auf die Gefühle des Partners zu legen. Diese Intervention nahm den Druck, sexuell entsprechen zu müssen, führte zum Loslassen der überhöhten Spannung – große Erfolge in der Sexualtherapie waren die Folge. Fazit: Zu hohe Ergebnisorientierung führt zu Verkrampfung und vermindert die Lust an der Handlung.
Loslassen ist etwas für Mutige
Wer sich mit der überhöhten Absicht, erfolgreich zu sein, in eine Aufgabe begibt, schaltet die Fähigkeiten des Unbewussten aus und blockiert das Fließgleichgewicht, verkrampft und riskiert, seine Möglichkeiten auf ein Minimum zu reduzieren. Bewusst glaubt man, mehr Wollen sei gleichbedeutend mit besserer Leistung. Je mehr man nach etwas strebt und je mehr man um jeden Preis das Ziel erreichen möchte, umso mehr verliert man die Lust und die Freude an der Handlung.
Loslassen fällt leichter, wenn es einem bewusst wird, dass es sich in dieser Aktion letztendlich nur um ein Spiel handelt und auch die Angst vor dem Versagen sich nicht aufschaukeln darf in Bereiche, die mit Leben oder Tod gleichzusetzen sind.
Wer während seiner Handlung bewusst denkt und analysiert, ist immer hinten an und blockiert eine runde, rhythmische, in sich selbst abgeschlossene Aktion. Daher ist es wichtig, auf seine eigenen Fähigkeiten zu vertrauen. Gefragt ist nicht der „linkshirnige“ Analytiker, sondern die kreative, gefühlsorientierte, „rechtshirnige“ Persönlichkeit. Der linken Gehirnhälfte werden in der Regel das logische, rationale und kritische Denken sowie daraus resultierend sprachliche und mathematische Fähigkeiten zugeordnet. Im Gegensatz dazu steht die rechte Gehirnhälfte für Visuell-Räumliches, Ganzheitliches, Intuitives, Umfassendes. Teilweise wird auch das westliche und östliche Denken den zwei Gehirnhälften zugeordnet; und auch auf die unterschiedliche Informationsverarbeitung der beiden Gehirnhemisphären wird immer wieder verwiesen: links geradlinig, rechts gleichzeitig und ganzheitlich. Des Weiteren gibt es Ansätze, die die linke Seite für die bestätigte Wahrheit, die rechte für den Prozess der Wahrheitssuche verantwortlich machen. Die Theorien über die Gehirnhälften lassen nach wie vor viele Fragen offen.
Aus diesen Überlegungen heraus wäre es sicher sinnvoll, bei der ausgewogenen Entwicklung eines Menschen die ganzheitliche Ausbildung beider Gehirnhälften zu berücksichtigen.
Es gibt Zeiten, logisch zu analysieren, aber auch Zeiten für intuitives, ganzheitliches...