I. Probleme, Möglichkeiten und Grundzüge einer Methodenlehre für den Instrumental- und Vokalunterricht
Eine Erörterung von pädagogischen Methoden setzt ein Nachdenken über Ziele, Inhalte und Funktionen des zugrunde liegenden Unterrichts voraus. Was Instrumental- und Vokalunterricht beabsichtigt, ist vordergründig klar: Menschen zum Musizieren zu befähigen. Die Teilfähigkeiten und -kenntnisse, die dazu gehören, sind vielfältig – und so auch die Unterrichtsinhalte. Nur einige wenige seien genannt: Musik innerlich vorstellen, Vorgestelltes auf dem Instrument oder mit der Stimme realisieren, Realisiertes differenziert wahrnehmen und mit dem Vorgestellten vergleichen können, effizient üben, Notentexte lesen und klanglich verwirklichen, instrumentenspezifische Techniken beherrschen, Musik strukturell verstehen, ihre Stilistik erfassen und realisieren usw. All diese und viele weitere Teilfähigkeiten und -kenntnisse lassen sich ihrerseits weiter ausdifferenzieren; sie beinhalten eine Fülle von zu erwerbenden Feinkompetenzen, die bei jedem Musizieren individuell gefordert sind. So wird jeder Bereich des Instrumental- und Vokalunterrichts zu einem schier unüberschaubar reichen Handlungsfeld. Das hat Konsequenzen für die im Unterricht verwendeten Methoden. Auch sie müssen von großer Vielfalt sein, wenn sie sich auf die hohe Differenziertheit der Lehrinhalte einlassen und wenn sie den Individualitäten der Lernenden – ihren Bedürfnissen, Interessen, Lernweisen und -potenzialen – gerecht werden sollen. Welche Funktionen und Bedeutungen die im Unterricht vermittelten Umgangsweisen mit Musik im Leben von Menschen gewinnen, lässt sich nicht voraussehen. Dass aber methodischer Reichtum des Lehrens und Lernens ein vielseitiges musikalisches Handeln fördert, ist anzunehmen. Methodische Vielfalt dürfte die Chance erhöhen, dass Menschen Wege zu einer ihnen gemäßen, ihr Leben bereichernden Musikausübung finden.
Denkbar wäre, ohne weitere Umstände mit der Aufarbeitung der zahlreichen methodischen Anforderungen und Möglichkeiten im Instrumental- und Vokalunterricht zu beginnen. Bei diesem Vorgehen blieben allerdings die Grundlagen von Methoden im Dunklen. Gewiss: Methodisches Handeln von Lehrenden erwächst aus der Kenntnis der zu vermittelnden Sachen sowie dem Gespür für die individuellen Lernwünsche und -möglichkeiten der Lernenden. Darüber hinaus aber gibt es noch andere Wirkungskräfte, die das Handeln von Lehrern stark beeinflussen, ja steuern: ihre mehr oder minder bewussten Grundeinstellungen zu den Bildungsfunktionen des Musizierens und des Musikunterrichts.
In der alltäglichen Unterrichtspraxis stehen Fragen des methodischen Handelns im Vordergrund. Dort ist es nicht möglich, fortwährend auf einer Metaebene die bildungsspezifische Dimension des konkreten Unterrichts mitzudenken. Ohne Klärung von Bildungsintentionen allerdings wird das Unterrichten leicht beliebig und zufällig. Ein reiches methodisches Handlungsrepertoire mag vor Monotonie bewahren; gleichzeitig aber vergrößert es die Gefahr von Richtungslosigkeit. Vielfalt des methodischen Handelns ist letztlich kein Selbstzweck, sondern eine funktionale Größe, um Menschen und Sachen gerecht zu werden.
»Musikalische Bildung findet statt, wenn Menschen in musikalischer Praxis ästhetische Erfahrungen machen. Pädagogisches Handeln, dem an musikalisch-ästhetischer Bildung gelegen ist, muß vielfältige Räume für musikalisches Handeln eröffnen, in denen ästhetische Erfahrungen möglich sind, angeregt und unterstützt werden.« (Rolle 1999, S. 5, zit. nach Kraemer 2004, S. 87) Diese programmatischen Sätze von Christian Rolle weisen besonders dem Instrumental- und Vokalunterricht eine hohe Bildungsqualität zu. Es ist ja geradezu die Bestimmung dieses Unterrichts, dass »Menschen in musikalischer Praxis ästhetische Erfahrungen machen«. Gleichzeitig spricht Rolle die methodische Ebene an. Seine Formulierung drückt aus, was Absicht des vorliegenden Buchs ist: Es möchte »vielfältige Räume für musikalisches Handeln eröffnen, in denen ästhetische Erfahrungen möglich sind«. Methodisches Handeln soll danach streben, »im Unterricht eine Kultur der Bildung zu entwickeln und Unterricht als eine Kultur der Bildung zu realisieren« (Schatt 2007, S. 65). Als Ziel und Maßstab für methodisches Handeln kann daher gelten, musikalische Bildung als Vielfalt ästhetischer Erfahrungen im Unterricht und außerhalb des Unterrichts zu ermöglichen. »Ermöglichen« bedeutet nicht »herbeiführen«: Bei jeder Konzeption methodischen Handelns im Unterricht ist zu bedenken, dass ästhetische Erfahrungen vom Lernenden selbst vollzogen werden. Erfahrungen im Umgang mit Kunst stellen keine pädagogische Verfügungsmasse dar und lassen sich nicht einfach methodisch »machen.«
Im Folgenden sollen zunächst einige Bildungsvorstellungen zur Sprache kommen, die mit den späteren theoretischen und praktischen Ausführungen über Methoden verbunden sind. Beabsichtigt ist weder, neuere Diskussionen über musikalische Bildung (z. B. Rolle 1999, Schatt 2008, Dartsch 2010) fortzuführen, noch den Begriff »musikalische Bildung« weiter gehend instrumentaldidaktisch auszudifferenzieren (dazu z. B. Mahlert 1992, Röbke 2000). Es genügt an dieser Stelle, den Begriff »musikalische Bildung« mit einigen wenigen ihm zugeschriebenen Bedeutungen perspektivisch als ein Leitziel methodischen Handelns ins Spiel zu bringen. Ich möchte Lehrkräfte dazu bewegen, gelegentlich und immer wieder die bildungsspezifischen Grundintentionen der eigenen Tätigkeit neu zu bedenken – nicht als feiertägliche Entrückung von den oft genug beschwerlichen Niederungen der pädagogischen Alltagswirklichkeit, sondern um Orientierung zu gewinnen für deren Herausforderungen. Eine solche Orientierung ermöglicht Ermutigung, Fantasie (nicht zuletzt methodische Fantasie) und Kraft für weiteres Wirken. Ebenso ist sie eine Voraussetzung, um ein deutliches Bewusstsein für den Wert der eigenen pädagogischen Arbeit zu entwickeln.
1. Zur Bildungsqualität des Musizierens und des Unterrichts
Die Überzeugung, dass instrumentales und vokales Musizieren ein unersetzbares Medium menschlicher Bildung darstellt, ist heute in aller Munde. Bekundungen von Bildungsforschern, Politikern, Kulturfunktionären, Pädagogen, Vertretern des Musiklebens stimmen in dieser Ansicht überein.
Mittlerweile werden Bildungswirkungen des Musizierens weniger als noch vor einigen Jahren mit Transfereffekten von Musikausübung begründet. Im Common Sense über die Werte von Kunst und Kultur muss das Musikmachen seinen Wert nicht mehr vor allem durch die angeblichen positiven Auswirkungen auf gesellschaftlich wünschenswerte Persönlichkeitsqualitäten (Konzentrationsfähigkeit, Intelligenz, soziale Kompetenz u. a.) erweisen. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, dass Musizieren eine in sich sinnvolle, sinnstiftende, Menschen stärkende und beglückende Tätigkeit ist: eine Tätigkeit, die wie kaum eine andere Aktivität vielfältige Potenziale von Körper, Geist und Seele verbindet und verdichtet (s. dazu sowie zu weiteren Bildungspotenzialen des Musizierens Mahlert 2003). Überdies verschafft diese Tätigkeit intensive kommunikative Erfahrungen und stiftet vielerlei soziale Verbindungen.
Für den Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers ist der schwer zu ermessende Bildungswert von Musikausübung an die Auffassung gekoppelt: »Musik ist Selbstzweck.« (Oelkers 2007, S. 12) Er sieht die Bildungsfunktionen des Musizierens in folgenden Gegebenheiten:
•»Wer ein Instrument beherrscht, hat einen lebenslangen Begleiter;
•das musikalische Können ist eine biographische Schlüsselkompetenz, die alle Sichtweisen beeinflusst;
•wer im eigenen Spiel Musikstücke nachvollzieht und je neu interpretiert, verfügt über eine Fähigkeit, die durch nichts ersetzt werden kann;
•und wer in musikalischen Anschauungen leben und denken kann, bewegt sich in einer einzigartigen Symbolwelt, die präzise verfährt, gerade weil sie in ihrer Tiefe schwer fasslich ist.« (A. a. O., S. 11 f.)
Aus diesen Gründen hält Oelkers die besonders durch aktives Musizieren sich entfaltende musikalische Bildung für »unverzichtbar«. (A. a. O., S. 11)
Zu erweitern sind Oelkers’ Ausführungen zum Bildungswert des Musizierens durch den Hinweis, dass gerade die Musikausübung in besonderem Maße ein wesentliches Moment von Bildung realisiert. Eindrucksvoll zeigt sich im Musizieren, dass Bildung immer Selbstbildung ist. Dies lässt sich gut verdeutlichen an der Tätigkeit des Übens, die ja unabdingbar zum Musikmachen gehört und einen großen Teil der Zeit in Anspruch nimmt, die Musizierende aufbringen müssen. Zum einen...