Der theoretische Hintergrund ist durch den Einbezug vielfacher Aspekte sehr umfassend, wodurch eine tiefgehende Betrachtung der theoretischen Komponenten nur begrenzt möglich ist. Dementsprechend beziehen sich die Darstellungen hauptsächlich auf die, für die Zielgruppe und das Erkenntnisinteresse, relevanten Bereiche. Gleichwohl ist es von entscheidender Bedeutung das zugrundeliegende Verständnis zu dem thematisch bedeutsamen Begrifflichkeiten zu erläutern (siehe Abschnitt 2.1), um diesbezügliche Interpretationen gering zu halten.
Das Zentrum des Kapitels bilden die theoretischen Bezugsmodelle. Wie bei der theoretischen Hinführung ersichtlich, beziehen sich die Vorannahmen auf sozial-kognitive Informationsverarbeitungsprozesse, die in Anbetracht der Auswertung einen höheren Detaillierungsgrad erfordern (siehe Abschnitt 2.2). Auf Grund der Implikation von Informationsverarbeitungsprozessen und der kindlichen Selbsteinschätzung, welche jeweils kognitive Operationen, wie das Erkennen eigener Besonderheiten und normativer Erwartungen (vgl. Franz 1987, 26) erfordern, ist eine Auseinandersetzung mit dem altersspezifischen Entwicklungsrahmen und den diesbezügliche -aufgaben von entscheidender Bedeutung (siehe Abschnitt 2.3).
Um den theoretischen Hintergrund abzurunden erscheint es sinnvoll, über den Kenntnisstand und die Besonderheiten zur „Forschung mit Kindern“ zu informieren (siehe Abschnitt 2.4).
Das Erkenntnisinteresse erfordert die Thematisierung von drei Begrifflichkeiten sowie einen Hinweis auf die damit verbundenen, thematisch relevanten Überschneidungen. Beginnend mit der Zielgruppe erfolgt eine Erläuterung der gewählten Formulierung „Kinder im Primarstufenalter“, da die gewählte Altersspanne sowohl für den theoretischen Hintergrund als auch für das Forschungsdesign bedeutsam ist. Hinsichtlich der Fokussierung auf Kinder in einer entwicklungspsychologischen Umbruchphase wird zudem die Bedeutung des Übergangs in das Schulsystem angeschnitten, wobei sich die Untersuchung insgesamt auf den außerschulischen Kontext bezieht.
Um die Bearbeitung der Themenstellung zu gewährleisten, findet eine Auseinandersetzung mit dem Verhaltensbegriff statt. Im Hinblick auf die Zielsetzungen (siehe Abschnitt 1.3) ist festzustellen, dass die Konzentration auf diesen Aspekt nicht ausreicht und eine Erweiterung um die Thematik der Verhaltensauffälligkeiten unerlässlich ist.
Der Klärung des dritten Begriffs kommt eine besondere Bedeutung zu, da die Selbsteinschätzung unter Berücksichtigung der Verhaltensebene im fachlichen Diskurs wenig Beachtung findet und dementsprechend den Bezug auf bestehende Theorien ausschließt. Demzufolge ist das Vornehmen einer kontextualen Begriffsbestimmung mit einer thematischen Ausrichtung auf das eigene Verhalten notwendig, um eine einheitliches Verständnis zu erzeugen.
Auf Grund des theoretischen Kontexts bestehen zwischen den drei Begrifflichkeiten mehrere Überschneidungen, die bei der weitgehend getrennten Darstellung (siehe Abschnitt 2.1.1 bis 2.1.3) unberücksichtigt bleiben. Demgemäß erfolgt an dieser Stelle ein Vorgriff auf die Aspekte „Verhaltensauffälligkeiten“ und „Selbsteinschätzung“ unter besonderer Berücksichtigung des Primarstufenalters.
Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten (Prävalenz)
Laut Hayer, Petermann und Scheithauer weisen – je nach Erscheinungsform und Verhaltensmuster – 3,5% bis 19,6% aller Kinder im Primarstufenalter Verhaltensauffälligkeiten auf, wobei insgesamt höhere Raten bei den externalisierenden Ausprägungen zu verzeichnen sind (vgl. 2003; Fingerle, Hartmann & Mutzeck 2003, 191 ff.). Die Prävalenzraten für diese Altersgruppe schwanken dabei in Abhängigkeit vom Forschungsinteresse, Studiendesign und den verwendeten Erhebungsinstrumenten erheblich, so dass eine deutsche Studie über Verhaltensstörungen in einzelnen Bereichen – wie bei den Kompetenzdefiziten in der emotionalen-sozialen Entwicklung – bis zu 44,2% ermitteln konnte (vgl. Fingerle, Hartmann & Mutzeck 2003, 195 f.).
Da die vorliegende Arbeit keine Analyse der einzelnen Ausprägungen fokussiert, erfolgt an dieser Stelle keine detailliertere Darstellung. Es ist allerdings festzustellen, dass die Prävalenzraten der Altersgruppe auf einen pädagogischen Handlungsbedarf hinweisen.
Selbsteinschätzung
Wissenschaftlichen Studien zufolge kennzeichnet sich die Selbsteinschätzung von Kindern bis zu acht Jahren durch ein „überoptimistisches und unrealistisches Wunschdenken“ (Hasselhorn 2011, 16), wodurch sich eine realistische Selbsteinschätzung erst im Laufe des achten Lebensjahres zu entwickeln beginnt (vgl. Parsons & Ruble zit. nach Hasselhorn 2011, 16 f.). Dieser Aspekte fließt in die Auswertung mit ein, so dass die Ergebnisse der Fallanalysen auf optimistische Einschätzungen überprüft werden.
Die Zielgruppe übt einen großen Einfluss auf das Forschungsdesign aus, da die Besonderheiten einer spezifischen Population, sich auf die Wahl der Methoden, den Feldzugang sowie die konkrete Erhebungssituation auswirken (vgl. Lamnek 2010, 646). In diesem Fall legt das Thema der Arbeit zugleich die Zielgruppe fest, so dass diesbezüglichen Dimensionen und Merkmale (siehe auch Abschnitt 3.4) zu erläutern sind.
Auf Grund der gewählten Alterspanne müsste die Zielgruppe im engeren Sinne als „Kinder zu Beginn des Primarstufenalters“ bezeichnet werden. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der entwicklungspsychologischen Perspektive, nach dessen Einteilung es sich um „Kinder zu Beginn der späten Kindheit“ handelt (vgl. Fröhlich 2000, 156; Gerrig & Zimbardo 2008, 362). Die Schwierigkeiten der Begriffsfindung begründen sich in den verhältnismäßig großen Zeitspannen, so dass sowohl im systemischen als auch im entwicklungspsychologischen Kontext der Zeitraum von etwa sechs bis hin zu elf Jahren einen Lebensabschnitt (Primarstufenalter – späte Kindheit) darstellt (vgl. ebd.).
Es ist daher festzustellen, dass beide Klassifizierungen im Hinblick auf die Zielgruppe eine gewisse Ungenauigkeit beinhalten, so dass lediglich über den Zusatz „zu Beginn“ eine annähernd geeignete Formulierung erzeugt wird. Nach diesem Hinweis wird im Folgenden – auf Grund einer besseren Lesbarkeit – auf den vollständigen Titel verzichtet. In dem Bewusstsein, dass je nach Argumentation beide Beschreibungen gleichermaßen geeignet sind und auch der Einbezug der zweiten Dimensionen „Transitionen“ keine Tendenzen aufzeigt, fällt die Entscheidung zugunsten der systemischen Perspektive aus.
Die Gründe für die Zielgruppenwahl sind vielfältig und beginnen mit dem Übergang in das Schulsystem, welches in diversen entwicklungspsychologischen Theorien explizit oder implizit hervorgehoben wird (siehe u. a. Phaseneinteilung von Erikson bzw. Piaget, Tab. 3 und 4). Zudem kann der Schuleintritt als ein kritisches Lebensereignis aufgefasst werden, da es sich um eine für das Kind neue Situation handelt, welche mit den bisherigen Handlungsmustern nicht vollständig bewältigt werden kann und dementsprechende Umstellungen erfordert (vgl. Grass & Knörzer 2000,151). An dieser Stelle sei auf Bronfenbrenners Übergangsmanagement verwiesen, bei dem die Veränderungen der Rolle oder des Lebensbereiches, die sog. ökologischen Übergänge, eine entscheidende Bedeutung für den Entwicklungsverlauf innehaben (vgl. 1989, 22). Derartige Umbruchphasen bedeuten ein Vielzahl von Belastung und implizieren neue An- und Herausforderungen an die emotionale, kognitive und soziale Kompetenz (vgl. Gerken et al. 2002, 120). Transitionen erfordern daher eine umfassende Bewältigungsarbeit, die je nach dem individuellen Zusammenwirken der transaktionalen, biopsychosozialen Faktoren (siehe Abschnitt 2.3) gelingen oder misslingen kann (vgl. Grass & Knörzer 2000, 152). Dieser Argumentation folgend bedarf die Zeitspanne während bzw. nach einem Entwicklungsübergang besondere Beachtung und einer umfassenden Unterstützung (vgl. Hottinger, Jäger, Leuchter, Tettenborn, Vogt & Wannack 2001, 10).
Im Hinblick auf die noch zu thematisierenden Verhaltensauffälligkeiten ist anzuführen, dass Entwicklungsprobleme im Kindesalter nicht per se zu langfristigen, klinisch relevanten Störungen führen, aber dennoch die weitere Anpassung des Kindes erschweren (vgl. Schell 2011, 15). So sind bereits im Kindergartenalter Prädiktoren für Entwicklungsprobleme und Anzeichen für Verhaltensstörungen zu beobachten (vgl. Hennemann & Hillenbrand 2005, 136), welche sich bei einem ungünstigen Verlauf zunehmend verfestigen, mangelnde sozial-kompetente Verhaltensweisen nach sich ziehen und somit die Defizite in der Informationsverarbeitung größer werden lassen (vgl. Beelmann 2000, 31; Petermann 2004, 16). Diese Schlussfolgerungen finden Bestätigung in zahlreiche Studien (siehe Caspi, Dickson, Moffitt, Silva & Stanton...