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E-Book

Ratgeber Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Informationen für Kinder, Jugendliche und Eltern

AutorChristoph Wewetzer, Gunilla Wewetzer
VerlagHogrefe Verlag Göttingen
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783844425475
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wiederkehrende quälende Gedanken, mehrfach wiederholte Handlungen und Gefühle der Angst und Anspannung sind Kennzeichen von Zwangsstörungen. Zwangserkrankungen im Kindes- und Jugendalter sind belastend und beeinträchtigen in erheblichem Ausmaß den normalen Tagesablauf und die Lebensqualität der Betroffenen sowie ihrer Angehörigen. Der Ratgeber richtet sich an Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern. Er informiert sie in verständlicher Form über die vielfältigen Krankheitsmerkmale, über Gründe, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung beitragen, sowie über wirksame Therapieverfahren und Möglichkeiten der Selbsthilfe. Die Kognitive Verhaltenstherapie, gegebenenfalls ergänzt durch eine medikamentöse Behandlung, hat sich als wirksamste Methode zur Bewältigung von Zwängen erwiesen. Die Einzelheiten des Vorgehens in der Therapie werden anhand zahlreicher Fallbeispiele veranschaulicht. Hilfreiche Materialien sowie Hinweise zu Übungen liefern wertvolle Anregungen für Kinder und Jugendliche, wie sie ihre Zwänge Schritt für Schritt bewältigen können. Eltern erhalten außerdem Informationen dazu, wie sie ihre Kinder bei der Bewältigung der Störung unterstützen können. Ziel des Ratgebers ist es, über Zwangsgedanken und Zwangshandlungen aufzuklären und Betroffene zu ermutigen, sich in therapeutische Behandlung zu begeben.

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Leseprobe

[28]2 Wie entstehen Zwänge und was erhält sie aufrecht?

2.1 Ursachen für die Entstehung von Zwängen

Es gibt nicht die „eine“ Ursache für die Entstehung und die Aufrechterhaltung der Zwangsstörung. Zu der Entwicklung dieser Erkrankung tragen einerseits körperliche Faktoren bei und zum anderen Faktoren aus dem sozialen Umfeld, in dem jemand aufwächst und lebt. Umfangreiche wissenschaftliche Forschungsergebnisse zeigen, dass verschiedene Faktoren Einfluss auf die Entwicklung der Erkrankung nehmen können. In Abbildung 4 sind mögliche Faktoren zusammengefasst, die wir im Folgenden noch genauer erklären.

Biologische/körperliche Faktoren

Biologische Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Zwangsstörung. So wird wahrscheinlich bei einem Teil der Kinder und Jugendlichen die Veranlagung, an einer Zwangsstörung zu erkranken, „vererbt”. Dafür spricht, dass die Eltern, aber auch die Geschwister eines an Zwängen erkrankten Kindes häufiger als in der Allgemeinbevölkerung selber unter Zwängen leiden. Auch bei eineiigen Zwillingen, die genetisch ja völlig gleich sind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass beide Kinder an Zwängen erkranken. Bei zweieiigen Zwillingen, die genetisch nicht völlig gleich sind, ist diese Wahrscheinlichkeit hingegen deutlich geringer. Die Erbanlagen (Gene) beeinflussen die Gehirnstrukturen und damit auch den Gehirnstoffwechsel. Mit Gehirnstoffwechsel werden alle Vorgänge im Gehirn bezeichnet, bei denen Informationen weitergegeben oder ausgetauscht werden. Für den Informationsaustausch zwischen den Nervenzellen im Gehirn sind Botenstoffe (sogenannte Transmitter) verantwortlich. Bei der Zwangsstörung spielt der Botenstoff Serotonin eine große Rolle. Es gibt aber auch Krankheiten, die zu Störungen des Gehirnstoffwechsels führen können und dadurch die Entstehung von Zwängen begünstigen. So gibt es eine Krankheit (bakterielle Infektion) bei der die Ansteckung mit einem bestimmten Bakterium (Streptokokken) in einem bestimmten Bereich des Gehirns (Gehirnstrukturen) dazu führt, dass ganz plötzlich ausgeprägte Zwänge auftreten. Eine solche Krankheit ist aber nur sehr selten die Ursache für die Entstehung einer Zwangsstörung.

[29]

Abbildung 4: Erklärungsmodell zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwängen

[30]Persönlichkeitsfaktoren

Mit Persönlichkeitsfaktoren sind die verschiedenen Eigenschaften gemeint, die Menschen voneinander unterscheiden. Solche Eigenschaften werden zum einen vererbt, zum anderen aber auch durch Erfahrungen, wie zum Beispiel durch das elterliche Erziehungsverhalten, beeinflusst. Es gibt nun bestimmte Eigenschaften, die einen Menschen anfälliger für die Entwicklung einer Zwangsstörung machen können. Wenn ein Mensch zum Beispiel besonders gewissenhaft, ängstlich oder vorsichtig ist, und sich schnell Sorgen macht, kann das die Entwicklung der Zwangsstörung begünstigen.

Soziale/familiäre Faktoren

Mit sozialen Faktoren ist das Umfeld gemeint, in dem man lebt – also die Schule oder der Freundeskreis. In diesem Umfeld können auch Belastungen auftreten, die die Entstehung der Zwangsstörung begünstigen können. So zum Beispiel, wenn man sich in der Klasse nicht wohlfühlt, von anderen Kindern gehänselt oder gar gemobbt wird. Vielleicht gibt es aber auch viel Streit und Stress mit Freunden oder man hat nur wenige Freunde und tut sich überhaupt schwer, Kontakte zu anderen Kindern und Jugendlichen zu finden.

Das Erziehungsverhalten der Eltern und das Familienklima können ebenfalls auf die Entwicklung der Zwangsstörung Einfluss nehmen. So kann beispielsweise die elterliche Erwartungshaltung hinsichtlich Ordnung, Sauberkeit oder Perfektion eine Rolle spielen. Nicht selten kennen Eltern von sich selbst zwanghafte, ängstliche Verhaltensweisen oder bestimmte seelische Belastungen, die dann ihr Erziehungsverhalten und das Familienklima beeinflussen können. Es können auch bestimmte Konflikte in der Familie eine Rolle spielen, zum Beispiel, wenn es ständig Streit mit dem jüngeren Bruder gibt.

Besondere Erlebnisse/Erfahrungen

Im familiären und sozialen Umfeld kann auch ein besonderes Erlebnis oder eine schlimme Erfahrung die Entwicklung der Zwangsstörung begünstigen. Besondere Bedeutung kommt dabei Ereignissen zu, die eine [31]Veränderung im Leben bedeuteten. Das kann ein Umzug in eine neue Stadt oder eine schwere Erkrankung sein.

Bei manchen Kindern und Jugendlichen kann auch eine bestimmte schlechte Erfahrung zur Entstehung der Zwangsstörung beitragen. Beispielsweise kann ein Kind, für das Sauberkeit eine große Rolle spielt, sich ausversehen beim Spielen mit Hundekot beschmutzen. Diese Erfahrung kann zu starkem Ekel und zu Ängsten führen, durch die Verschmutzung zu erkranken. Aufgrund dieser Erfahrung kann sich ein extremes Waschen als Zwangshandlung entwickeln.

Umgang mit Gedanken

Bei der Entwicklung von Zwangsgedanken spielt der Umgang mit sogenannten aufdringlichen Gedanken eine große Rolle, die einem ganz plötzlich in den Kopf kommen. Solche Gedanken gehören zum normalen Gedankenfluss des Menschen. Wir haben jeden Tag tausende von Gedanken im Kopf. Logischerweise ist nicht jeder dieser Gedanken wichtig, so dass wir die Gedanken oft gar nicht wahrnehmen oder sofort wieder vergessen. In diesem Gedankenfluss sind natürlich auch immer wieder unangenehme Gedanken, wie zum Beispiel:

„Mein Vater könnte einen Autounfall haben.“

„Tom ist so doof, ich könnte Tom umbringen!“

Menschen mit einer Anfälligkeit für Zwänge können den aufdringlichen Gedanken meist nicht so schnell wieder vergessen. Sie messen dem Gedanken eine große Bedeutung zu und beginnen über ihn nachzugrübeln, wie zum Beispiel:

„Warum kommt mir denn plötzlich so ein schrecklicher Gedanke in den Kopf? Es muss doch eine Bedeutung haben, sonst würde ich das doch nicht denken?“

„Könnte es sein, dass ich Tom wirklich den Tod wünsche?“

Sie bewerten also einen einzelnen Gedanken als besonders wichtig. Weil sie dem Gedanken so eine unangemessen hohe Bedeutung geben, [32]kommt er ihnen in der Folge immer öfter in den Kopf. Es hat sich ein Zwangsgedanke entwickelt und mit ihm ein starkes schlechtes Gefühl, wie zum Beispiel Angst, Sorge oder Ekel.

Lernerfahrungen

Dem „Lernen“ kommt ebenfalls eine große Bedeutung für die Entwicklung von Zwängen zu. Jemand mit der Veranlagung für die Entwicklung einer Zwangsstörung erlebt zum Beispiel etwas Schlimmes wie die schwere Erkrankung eines Elternteils. Beim Anfassen der Türklinke in der Schultoilette kommt ihm plötzlich der Gedanke an diese Erkrankung. Er bekommt Angst und die Sorge, er könne sich am Türgriff an einer Erkrankung angesteckt haben. Sein Gehirn hat eine Verknüpfung zwischen „Türklinke“ und „schwerer Erkrankung“ gelernt. Wann immer er jetzt den Türgriff anfasst, kommt die Befürchtung und das schlechte Gefühl. In der Folge vermeidet er, Türklinken anzufassen oder, wenn es nicht anders geht, wäscht er sich danach mehrfach die Hände. Er „lernt“, dass Vermeidungsverhalten und Zwangshandlungen eine entlastende beruhigende Wirkung haben. Da diese Wirkung aber immer nur kurzfristig anhält, kommt es in der Folge meist zu einer Ausweitung der Zwangshandlungen.

Das ist ähnlich wie bei einem juckenden Mückenstich. Du weißt zwar auch, dass es langfristig zu mehr Jucken führt, wenn du dich kratzt. Da das Kratzen aber kurzfristig hilft, führst du es trotzdem immer wieder aus. Genauso wie du lernen kannst, das Kratzen am Mückenstich zu unterlassen, kannst du auch lernen, Vermeidungsverhalten und Zwangshandlungen zu unterlassen (siehe Kapitel 4.2)!

Merke:

Die Zwangsstörung ist eine seelische Erkrankung, die jeder Mensch, ohne etwas falsch zu machen, bekommen kann. Genauso wie du auch schlimme Kopfschmerzen oder eine Blinddarmentzündung bekommen kannst.

[33] Nicht bei jedem Menschen nehmen alle Faktoren in gleicher Weise Einfluss. Bei dem einen Menschen ist vielleicht die körperliche Veranlagung ein wichtiger Faktor, bei dem anderen ein schlimmes Ereignis.

Lernerfahrungen und der Umgang mit Gedanken spielen eine große Rolle bei der Entwicklung von Zwängen!

Die gute Nachricht ist: In der Therapie erarbeitest du neues Verhalten und einen veränderten Umgang mit Gedanken, so dass du lernst, deine Zwänge zu bewältigen!

2.2 Ursachen für die Aufrechterhaltung von Zwängen

Du weißt nun, dass Zwänge eine Erkrankung sind, die jeder Mensch bekommen kann, dass es dafür unterschiedliche Gründe geben kann und dass Menschen unterschiedlich empfänglich für diese Störung sind. In diesem Kapitel geht es darum, zu erkennen, dass Zwänge nicht nur belasten und quälen, sondern, dass sie auch ein Alarmzeichen dafür sein können, dass es ungelöste Probleme in deinem Leben gibt. Denn Zwänge entwickeln sich gar nicht so selten als Entlastung oder Schutz vor diesen Problemen. Werden diese Probleme nicht erkannt und behandelt, kann dies zur Aufrechterhaltung der Zwänge beitragen.

Das hört sich für dich wahrscheinlich erst einmal unverständlich an. Um dir das genauer zu erklären, wollen wir dich mit Sabrina und Fabian bekannt machen.

Beispiel: Sabrina (17...

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