Einleitung
Im Sacharjabuch sind Visionen und andere Worte versammelt, die Sacharja ben Berechja ben Iddo zugeschrieben werden. Der Name Sacharja bedeutet „Jhwh hat sich erinnert“. In der Hebräischen Bibel ist das ein häufiger Name, der vielleicht erklärt, warum die Namen des Vaters und des Großvaters bei der Bezeichnung dieses Sacharja angefügt sind. Der Name kommt in 1,1; 1,7 sowie 7,1 vor, gefolgt jeweils von einer Datierung auf die Jahre 520 oder 518 v. Chr. Der Höhepunkt von Sacharjas Wirken lag deshalb in der frühnachexilischen Zeit bzw. der Perserzeit. In der heutigen Forschung sind allerdings seit Langem die Unterschiede zwischen den mehrheitlich visionären Erzählungen der Kapitel 1–8 und den eher rätselhaften Botschaften von Sacharja 9–14 bekannt. Häufig wird daraus geschlossen, dass die letzten sechs Kapitel von anderer Hand stammen als die ersten acht. Dieser Sachverhalt bildet den Ausgangspunkt für diese Einleitung in Sacharja 9–14. Ebenso wird im Folgenden ein Überblick über synchrone wie diachrone Auslegungsweisen dieser Kapitel gegeben. Nicht nur in dieser Einleitung, sondern im gesamten Buch wird sich die Bezeichnung „synchrone Analyse“ auf den uns vorliegenden Text beziehen; demgegenüber befasst sich die „diachrone Analyse“ damit, wie der Text seine jetzige Form erlangt hat. Schließlich wird sich diese Einleitung den Fragen nach der Datierung und dem historischen Hintergrund von Sacharja 9–14 widmen, der Identität der rätselhaften „Hirten“ und „Händler“, die in Kapitel 11 eine große Rolle spielen, der Struktur von Sacharja 9–14 sowie der Beziehung von Sacharja 9–14 zum übrigen Zwölfprophetenbuch.
Die Beziehung zwischen Sacharja 9–14 und Sacharja 1–8
Forschungsüberblick
Im Zwölfprophetenbuch steht das Sacharjabuch an elfter Stelle. Benannt ist das gesamte Buch nach dem Propheten Sacharja. Dass diese Zuschreibung den Tatsachen entspricht, wird in der älteren Forschung unter anderem von Edward J. Young oder Roland K. Harrison vertreten. 1 Joyce G. Baldwin stimmt mit Peter R. Ackroyd und auch Anthony R. Petterson darin überein, dass die Verknüpfung der vierzehn Kapitel zeigt, dass Sach 1–8 mit 9–14 „einige Ideen oder Interessen gemeinsam hat“.2 Auch wenn diese Äußerung zutreffend ist, schließt sie doch die Möglichkeit nicht aus, dass ein späterer Verfasser einiges von dem, was Sacharja geschrieben hat, korrigiert oder auf den neuesten Stand gebracht hat.
In jüngerer Zeit haben mehrere historisch-kritische Forscher ähnliche Positionen vertreten wie Baldwin. So hat beispielsweise Byran G. Curtis ausgehend von einer „Untersuchung der gesellschaftlichen Verortung“ dafür plädiert, dass das gesamte Sacharjabuch während einer Generation verfasst wurde und womöglich nur einen Verfasser hat, nämlich Sacharja selbst.3 Ronald W. Pierce erkennt die stilistischen und anderen Unterschiede, die es zwischen Sach 9–14 und 1–8 gibt, doch er bezweifelt, dass beide Teile Sacharjas aus unterschiedlicher Hand stammen. Seiner Ansicht nach stellt das „anschauliche Bild einer Herde, die zum Schlachten bestimmt ist (Sach 11)“, das er zwischen 520 und 480 datiert, den Dreh- und Angelpunkt des gesamten Corpus von Haggai, Sacharja und Maleachi dar.4 Edgar W. Conrad erinnert die Leser daran, dass ihnen lediglich ein literarisches Werk vorliegt, dessen angeblicher Autor Sacharja ist. Darum lautet sein Vorschlag, Sacharja als eine Sammlung zu verstehen, ohne die Unterschiede zwischen den beiden Teilen zu ignorieren.5
Eine Interpretation, die sich an Conrad und an Forscher mit ähnlichen Positionen anlehnt, könnte etwa so aussehen: Der wichtigste Hinweis, den das Buch bezüglich der Verfasserschaft gibt, besteht in der dreifachen Verwendung der Datierungsformel in Sach 1,1, 1,7 und 7,1. Dadurch wird das Buch in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Abschnitt, Sach 1,1–6, erinnert die Leser an die „Vorderen Propheten“. Der zweite Abschnitt, Sach 1,7 – 6,15, enthält Visionen und Ermahnungen zum Wiederaufbau des Tempels. Im dritten Abschnitt, Sach 7,1 – 8,23, wird eingeräumt, dass die Dinge sich nicht wie erwartet entwickelt haben. Dieser Teil schließt allerdings mit der Hoffnung, dass das zukünftige Jerusalem der Ort sein wird, zu dem Menschen aus vielen Völkern kommen werden, um Gott anzubeten. Zwei weitere, keinem anderen Verfasser zugeschriebene Prophetensprüche (Sach 9–11 und 12–14) beziehen sich ebenfalls auf diese Hoffnung. Beide werden mit dem Wort משׂא eingeleitet (das häufig mit „Prophetenspruch“ übersetzt wird).
In diese Richtung geht auch R. David Moseman mit seiner Bemerkung, dass die Verwendung von משׂא die Kapitel 1–8 und 9–14 sowohl verbindet als auch trennt.6 Das Wort „stellt das, was hätte sein können (Kapitel 1–8), dem gegenüber, was leider Gottes tatsächlich geschehen ist (Kapitel 9–14)“.7 Außerdem hält Moseman fest, dass das letzte Kapitel des zweiten Prophetenspruches (also Sach 14) erneut von der Hoffnung auf ein wiederhergestelltes Jerusalem spricht, zu dem viele Völker kommen werden, um Gott anzubeten.
In jüngerer Zeit hat Marvin A. Sweeney dafür plädiert, dass die Kapitel Sach 9–11 und 12–14 trotz ihrer späten und eigenständigen Abfassung die Funktion einer Erklärung besitzen – nämlich dafür, wie Jhwhs Worte über die in Sach 1,7 – 8,21 ausgemalte Wiederherstellung Zions Wirklichkeit werden könnten.8 Mit Sach 7,14 beginnt das letzte Wort, das Gott in Kapitel 1–8 an den Propheten richtet. Sweeney versteht Sach 9–11 und 12–14 als längere Fortsetzung dieser Rede: „Die Ankündigungen in Sach 9–11 und 12–14 führen den kurzen Prophetenspruch über die Anerkennung Jhwhs durch die Völker in Sach 8,18–23 aus, indem sie auf Jhwhs Absicht hinweisen, die Völker zu bestrafen (Sacharja 9–11) und durch ihre Niederlage die Wiederherstellung Jerusalems herbeizuführen (Sach 12–14)“.9 Wenngleich seine Beobachtungen zutreffend sind, findet sich innerhalb der Kapitel 9–14 eine große Bandbreite von Ansichten. In Hinblick auf Jerusalem werden wohl die Höhepunkte durch Sach 9,9f. (wo Gott der Stadt ihren neuen König vorstellt) und Sach 14,16–21 (wo alle Völker kommen, um Gott anzubeten) gebildet. Dazwischen sündigt Jerusalem in Sach 11,4–17 und 12,10–14,2 und leidet. Zwar liefert Sweeneys Untersuchung eine hilfreiche Sichtweise, was den Tenor von Sach 9–14 insgesamt und eine Lesestrategie für das gesamte Buch betrifft. Allerdings erklärt sie doch nicht die herbe Kritik an Jerusalem, die in einem Großteil dieser Kapitel zu finden ist.
Unterschiede zwischen Sach 1–8 und 9–14
Zudem gibt es noch andere offensichtliche Unterschiede zwischen Sach 1–8 und 9–14. Zunächst unterscheiden sich die Gattungen voneinander. In den ersten sechs Kapiteln von Sach 1–8 finden sich acht Visionen, in Sacharja 9–14 keine einzige. Zweitens sind die Kapitel Sach 1–8 mit Bedacht auf Darius’ zweites und viertes Regierungsjahr datiert, während sich in Sacharja 9–14 überhaupt keine Datierung findet. Dort werden weder Babylon noch Persien namentlich erwähnt, während Sacharja 1–8 das Exil direkt nennt und das Auftreten Sacharjas in das zweite und vierte Jahr des Perserkönigs Darius datiert. Schließlich besitzen die Überschriften in Sach 1,1; 1,7 und 7,1 die gleiche Struktur wie die in Hag 1,1; 1,15b–2,1; 2,10 und 2,20. Dabei ist es nicht nur so, dass sich diese Überschriften ähneln – es finden sich sonst in der Hebräischen Bibel gar keine Überschriften mit dieser Struktur. Überdies gleichen die Überschriften in Sach 9,1 und 12,1 der in Mal 1,1; faktisch deuten sie stärker auf eine Verbindung zu Maleachi hin als auf eine zu Hag und Sach 1–8. Unter anderem aus diesen Gründen haben ganze Generationen von Exegeten dafür plädiert, dass Sach 9–14 eine Ergänzung von Sach 1–8 darstellt oder sogar zwei oder mehr Ergänzungen, wenn man Wilhelm Rudolph und Magne Sæbø10 Glauben schenkt. Dieser letztgenannten Schlussfolgerung schließe ich mich an. Nichtsdestoweniger kann und sollte man die Verbindungen zwischen Sach 1–8 und 9–14 sehen.
Synchrone Analyse von Sacharja 9–14
Wie der größte Teil des Prophetencorpus, so ist auch in Sach 9–14 jeder einzelne Abschnitt genau untersucht worden; die Kapitel wurden in die Zeit zwischen dem 8. und dem 3. Jahrhundert datiert und vor verschiedenen Hintergründen betrachtet. Bei diesen Auslegungen spielen allerdings häufig die Gemeinsamkeiten mit anderen Texten eine größere Rolle als der Gang der Diskussion innerhalb von Sach 9–14. Deshalb empfiehlt es sich, erst einmal eine kurze synchrone Auslegung vorzustellen, bei der die Aufmerksamkeit darauf liegt, was alle sechs Kapitel zusammengenommen zu sagen haben. Die vorliegende Auslegung baut überwiegend auf die Struktur von Sach 9–14 auf, die ich in meinem Kommentar über Haggai, Sacharja und Maleachi11 entworfen habe. An manchen Stellen bezieht sie sich aber auch auf Curtis,12 der auf den Wechsel von längeren und kürzeren Abschnitten hingewiesen hat. Dennoch scheinen mir Sach 12,2 – 13,6 sowie insbesondere Sach 14 Abschnitte zu sein, die redaktionell aus einer Reihe kürzerer Texte zu neuen Einheiten verwoben wurden.
Sach 9: Gottes zukünftiges Reich und die irdischen Könige
Sacharja 9 beginnt mit...