1. Aufklärung und Menschenliebe
Psychiatrie als Kopfgeburt der neuen Zeit. Am Anfang sei gefragt, wann und wie es dazu kam, dass sich unter dem Kunstwort Psychiatrie ein eigenes, inzwischen unendlich aufgefächertes Ressort medizinischer Wissenschaft entwickeln konnte. Die meisten Medizinhistoriker stimmen darin überein, dass dies in der Zeit um 1800 geschehen sei: zwischen dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert, in der Ära der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und der folgenden Restaurationszeit, oder kultur- und geistesgeschichtlich ausgedrückt: Psychiatrie im neuzeitlichen Sinn entstand unter dem Einfluss von Aufklärung, Romantik und deutschem Biedermeier. Fernwirkungen aus der Neuen Welt, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, kamen hinzu.
Dieser Blick auf Raum und Zeit besagt zugleich, dass die Etablierung des neuen Forschungsfeldes ein Vorgang von langer Dauer war – und natürlich blieb er auf die Vaterländer nicht beschränkt, die es im deutschen Sprachraum damals gab.[1] Gleichwohl kam das Wort Psychiaterie [!] zum ersten Mal in Deutschland auf: 1808 in Halle an der Saale, das soeben dem napoleonischen Königreich Westphalen zugeschlagen worden war. Dort hatte der preußische Universitätsprofessor Johann Christian Reil (1759–1813) die neue Vokabel in einer langen Abhandlung vorgeführt – als semantische Variante des älteren Ausdrucks Psychologie im Sinn von Seelenkunde. Doch an die dreißig Jahre vergingen, bis der aus dem Griechischen kommende Begriff zur Bezeichnung eines gesonderten Zweigs der Theoretischen und Praktischen Medizin auch international geläufig wurde.
Ohne den neuen Begriff zu kennen, waren Frankreich und Großbritannien der übrigen Welt in der Sache selbst vorausgegangen. Als Beginn moderner Psychiatriegeschichte gilt zumeist die vielzitierte Befreiung der Irren von ihren Ketten, ein symbolischer Akt, der von Philippe Pinel (1745–1826), dem Chef des großen Pariser Männer-Hospitals Bicêtre, vollzogen worden war – noch ehe die jakobinische Terrorherrschaft ihr Ende gefunden hatte.[2] Obwohl Pinels humanitäre Tat schon bald zu einem wieder und wieder erzählten Mythos gedieh, kann der französische Vorsprung nicht in Frage stehen. Nirgendwo sonst gab es im Umgang mit psychisch Kranken so reiche klinische Erfahrungen wie in der Metropole der Großen Revolution, nirgendwo sonst so exakte analytische Verfahren wie ebendort. Nicht weniger wichtig für die Entfaltung der Psychiatrie im deutschen Sprachraum war die beispielgebende Rolle englischer und schottischer Ärzte in Hospitälern und Asylen des Vereinigten Königreichs. Deren spezifische Therapie – das sogenannte moral management – hatte mit Erziehung viel zu tun und stieß auch diesseits des Kanals auf reges Interesse.[3]
Anders lagen die Dinge in der zerklüfteten deutschen Staatenwelt. Hier war, was seinerzeit Erfahrungsseelenkunde oder psychische Heilkunde hieß, verglichen mit dem westlichen Entwicklungsstand unleugbar zurückgeblieben. Doch der Abstand kann nicht übermäßig groß gewesen sein, auch wenn sich manches auf bloße Imitation beschränkte. Vieles von dem, was in London oder in Paris zu sehen war, ließ sich auf die kleinräumigen deutschen Verhältnisse ohnehin nicht übertragen. Doch die Lern- und Aufnahmefähigkeit deutscher Ärzte war groß und ihre Reiselust erstaunlich. Wer als Psychiater ernst genommen werden wollte, der musste sich zumindest in Frankreich und Großbritannien, womöglich auch in Italien, umgesehen haben. Auch ein Großteil der Maschinen und Geräte, mit deren Hilfe sich rasende oder tobende Irre zähmen ließen, war auf den Britischen Inseln erfunden worden.
Was auf Reisen durch Augenschein dem eigenen Gedächtnis nicht einzuverleiben war, das war zu Hause nachzulernen: kaum ein ausländisches Fachbuch von einigem Gewicht, das nicht ins Deutsche übersetzt worden wäre; kaum ein Neugier weckender Zeitschriftenbeitrag in Französisch, Englisch oder Italienisch, den deutsche Literaturblätter und Rezensionsorgane nicht beachtet hätten. So war 1799, zwei Jahre nach dem französischen Original, Pinels zweibändige Philosophische Nosographie oder Anwendung der analytischen Methode in der Arzneikunde bei Cotta in Tübingen erschienen und 1801 erschien in Wien die Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie des gleichen Verfassers. Zahlreiche Übersetzungen zu ähnlichen Themen waren vorausgegangen, und zahllose folgten nach. Der Wissenstransfer in umgekehrter Richtung blieb dagegen gering.
Viel spricht dafür, die relative Rückständigkeit des deutschen Irrenwesens im Vergleich zum Westen nicht zu übertreiben. Auch in Preußen und anderen Staaten des Alten Reiches drohten um 1800 psychisch aus der Bahn geworfenen Menschen von Rechts wegen keine Ketten mehr. Hier wurde das Gebot der Menschenliebe von der Medicinalpolizey besorgt, denn in aufgeklärten Monarchien war Irreseyn Behördensache. Dass fürstliche Caritas aber auch als Denkmal des Unverstandes wirken konnte, demonstrierte der unter Kaiser Joseph II. in Wien entstandene Narrenturm. Nachdem der monströse fünfstöckige Rundbau 1784 bezogen worden war, kam bald heraus, dass er als Quartier für psychisch malade Menschen weniger Ruhm als Schande brachte.
Im Übrigen war das Bemühen, psychisch Kranke nicht verloren zu geben, damals nicht neu. Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten einzelne deutsche Fürsten die Errichtung von Tollhäusern mit ihrem gottgegebenen Auftrag begründet, sich der Pflege und Heilung hilfloser Irrer anzunehmen. So hatte, um nur ein Beispiel zu nennen, der blutjunge Herzog Carl Eugen zu Württemberg und Teck am 25. Mai 1746 in landesväterlichem Kanzleistil ein Reskript erlassen, das wie folgt begann: Unseren Gruß zuvor, Ehrsame, Liebe Getreue! Euch ist ohne weitläuffiges Anführen von selbsten zur Genüge bekannt, wie unhinlänglich die in Unserm Hertzogthum und Landen sich hier und dar befundene unbemittelte melancholische und blöde Leuthe, auch wirkliche maniaci und furiosi biss anhero nach allen Theilen besorgt gewesen? Wie ausnehmend so beschwerlich als kostbar derselben offt vieljährige Verwahrung und Unterhalt denen Communen als vornehmlich denen piis corporis des Landes […] gefallen, und wie wenig gleichwohlen der wahren Bedörffnuss dieser elenden Leuthe sowohlen, als dem Publico überhaupt und der Securitati publicae insonderheit andurch gerathen gewesen, sondern vielmehr aus blossem Abmangel der benötigten Anstalten die Kosten überall verdoppelten, der bedaurliche Effect dieser armen Leuthe vielmals nur mehreres exacerbiret, die zum öffteren noch angeschienene gute Hoffnung zu derselben reconvalescenz und Wiedergenesung durch unschickliches behandeln, wo nicht gar zernichtet, doch ungleich erschweret […].
Das klang umständlich und hatte doch Gewicht, denn von Rekonvaleszenz und Wiedergenesung Geisteskranker war bisher keine Rede gewesen. Aus den genannten Gründen hatte der Herzog die Schaffung eines Tollhauses für gut befunden – in Combination mit den übrigen Anstalten des bereits in Ludwigsburg errichteten Fürstlichen Zucht- und Arbeitshauses. Mehrfach unterstrich er den gemeinnützigen Charakter des neuen Instituts, um zu begründen, dass die Landstände, frommen Stiftungen (pia corpora), Kommunen und städtischen Hospitäler zu anteiliger Mitfinanzierung verpflichtet seien. Selbst die Kassen der Rent-Kammer und des Kirchenrates wollte Herzog Carl nicht schonen, und so sagte er seine landesväterliche Hilfe bei der Erstausstattung und Unterhaltung zu.[4]
Tatsächlich haben die fürstlichen Irreneinrichtungen im 18. Jahrhundert zum Ressort der Zucht-, Armen-, Waisen-, Arbeits- und Siechenhäuser gehört. Mit der allmählichen Sonderung der sogenannten Tollhäuser von den Strafanstalten wurde ein erster Schritt getan auf dem Weg zur Heil- und Pflegeanstalt des 19. Jahrhunderts. Ein ähnlicher genealogischer Strang zeigt sich in den Hohen Hospitälern der hessen-darmstädtischen Landesherrschaft. Institutionalisierte Irrenpflege lässt sich dort bis in die Reformationszeit zurückverfolgen. Damals wurden freigeräumte Klöster von protestantischen Fürsten zu Stätten der Armen- und Krankenversorgung gemacht. Und wer zu den Irren zählte, war in der Regel arm.[5] Schließlich gab es noch einen dritten Typ frühneuzeitlicher Irrenfürsorge in Gestalt einschlägiger Spezialabteilungen an städtischen Hospitälern. Die 1743 auf Geheiß des Würzburger Fürstbischofs Friedrich Karl von Schönborn erbauten Blockhütten für delirantes et simul furiosi im Garten des ehrwürdigen Julius-Spitals bieten dafür ein anschauliches Exempel.
Das zitierte württembergische Beispiel zeigt zugleich, dass der Abschied vom überkommenen Hexen-, Teufels- und Wunderglauben eine Voraussetzung für den aufgeklärten Umgang mit Seelenkrankheiten aller Sorten war. Christliche Nächstenliebe...