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Woher wir kommen – Kindheit
im Malvenhaus
Pamela Wedekind, Erika Mann und Mops Sternheim treten am nächsten Dienstag in einer «Revue zu Vieren» auf. Die Herren Eltern sind aus Österreich, München und Rührung nach Berlin geeilt.
Klaus Mann hat sich bei der Abfassung seiner hundertsten Reklamenotiz den rechten Arm verstaucht und ist daher für die nächsten Wochen am Reden verhindert.
Carlhans Sternheim sowie das Geschwisterpaar Klaus Mann und Pamela Wedekind haben mit ihrer Schwippschwägerin Erika Mann eine Reise um die Welt angetreten, um von Rabindranath Tagore endgültig ihre verwickelten Familienverhältnisse ordnen zu lassen.
(Kaspar Hauser: «Die lieben Kinder», Die Weltbühne, Februar 1929)
Nicht nur Kurt Tucholsky machte sich über die Dichterkinder lustig, die aufgeregt und emsig durch die Republik schwirrten, um der Menschheit unter ererbtem Namen Revolutionäres, Zukunftsweisendes und Niegehörtes mitzuteilen. Für Nichteingeweihte sei die Entwicklung kurz skizziert: Erika und Klaus Mann, die ältesten Kinder Thomas Manns, und Pamela, ältere Tochter des 1918 gestorbenen Dichters Frank Wedekind, hatten sich 1923 in München kennengelernt und waren danach mehrere Jahre lang als unzertrennliches Dreigespann aufgetreten, von mildem Spott der Erwachsenen begleitet, aber auch mit Befremden betrachtet, da man nicht wusste, wer eigentlich zu wem gehört: Klaus, der offen Homosexuelle, hatte sich mit Pamela verlobt, die ihrerseits erotisch mit Erika verstrickt war, die wiederum von ihrem Klaus nicht lassen mochte. Letzterer schrieb dann zwei Theaterstücke, «Anja und Esther» und «Revue zu Vieren», in denen die Dichterkinder sich selbst spielten, unter Regie und Mitwirkung des noch unbekannten Gustaf Gründgens, der seinerseits Erika ehelichte, obgleich die doch eigentlich mit Pamela verbunden war, und trotz der eigenen engen Verbindung mit Klaus. Der Stücke schreibende Thomas-Mann-Sohn Klaus, die politisierende Schwester Erika, die mit den Bänkelliedern ihres Vaters auftrumpfende Pamela und der niedergeborene, aber begabte Gustaf boten Angriffsfläche genug, und das deutsche Feuilleton, vornehmlich das in Berlin ansässige, war an scharfzüngigen Kritikern nicht arm. Dorothea Sternheim, genannt Mops oder Mopsa, die sich bühnenbildnerisch betätigte, und ihr Halbbruder Carlhans wurden da gleich mitverarbeitet. Die jungen Leute mochten den Spott als ungerecht empfinden – schließlich handelte es sich um ihr Leben und ihre Zukunft –, aber der frühe Ruhm schmeckte süß, und das Gefühl von Freiheit und Aufbruch auf der Spielwiese der öffentlichen Wahrnehmung war verführerisch. Pamela wählte eine besonders originelle Variante, indem sie sich von Klaus und Erika Mann trennte und den achtundzwanzig Jahre älteren Dramatiker Carl Sternheim heiratete, Vater ihrer Freunde Carlhans und Mopsa, die, wie das Berliner 8 Uhr Abendblatt schlussfolgerte, zu ihr nun «Mama» sagen mussten.
1933 war alles Spielerische vorbei. Die Berliner Feuilletonisten flohen außer Landes oder bekamen ihre Scharfzüngigkeit durch Drohung, Verhaftung und Folter ausgetrieben. Kurt Tucholsky starb 1935 in Schweden, vermutlich durch eigene Hand, die Geschwister Mann emigrierten und bekämpften das Hitler-Regime von außen. Mopsa Sternheim büßte ihre Zugehörigkeit zur französischen Resistance im Konzentrationslager Ravensbrück und Carlhans Sternheim, ein gutmütiger, verträumter Junge, der so gut wie nichts im Leben erreicht hatte, wurde im Dezember 1944 im Zuchthaus Brandenburg wegen einer flapsigen Bemerkung über Hitler hingerichtet. Pamela verließ den kranken und schwierigen Sternheim und suchte Arbeit in Berlin, wo Tilly, ihre Mutter, eine stürmische und unglückliche Liebesaffäre mit dem Dichter Gottfried Benn hatte. Gustaf Gründgens, inzwischen Intendant des Preußischen Staatstheaters von Görings Gnaden, zögerte zunächst, Pamela zu engagieren, aber als sich Görings Verlobte Emmy Sonnemann für sie einsetzte, engagierte er sie im Herbst 1934. Gründgens und Pamela waren die Einzigen der einstigen Skandaltruppe, die in Deutschland blieben und das Nazi-Regime unbeschadet überstanden, und beide befanden sich, wie der Rest der Deutschen, nach dem Ende des Spuks auf der falschen Seite.
Ich begann damals gerade, die Welt wahrzunehmen, erinnere mich an das Gitter meines Kinderbetts und an nicht viel mehr, aber habe, wie viele meiner Generation, intensiv über diese Zeit nachgedacht und mir vorzustellen versucht, wie es damals gewesen sein könnte. Das schlechte Gewissen muss wie eine nasse Decke über der deutschen Gesellschaft gelegen haben. Wer ehrlich war, hätte zugeben müssen, feige und bequem gewesen zu sein, sich schwach und duckmäuserisch verhalten zu haben – aber wer brachte den Mut dazu auf? Hätte das nicht bedeutet, sich selbst nur noch mit Abscheu betrachten zu können? Das Ergebnis war – und hier setzt bereits eine vage persönliche Erinnerung ein – eine etwas forcierte gute Laune, vermutlich verbunden mit echter Erleichterung darüber, dass der Krieg endlich vorbei war und man wieder normal leben konnte.
Pamela war seit 1940 mit dem Schauspieler Charles Regnier verheiratet und wohnte mit ihm, ihrer Mutter Tilly und ihren Kindern Carola, Anatol und Adriana, geboren 1943, 1945 und 1946, in der Nähe des Ortes St. Heinrich am Starnberger See in einem abseits gelegenen Haus, dem sogenannten «Malvenhaus». An dieses erinnern wir uns sehr gut. Wir hatten mittlerweile festgestellt, dass wir Augen, Ohren, Mund, Arme, Beine, Unterleib haben, waren sozusagen zu Personen geworden, mit denen man rechnen musste und die ihre Umwelt wahrnahmen, in unserem Fall die uns umgebenden Menschen, den Garten mit seinen Bäumen und Sträuchern, den See und sein Ufer und das bereits erwähnte «Malvenhaus».
Im Erdgeschoss wohnte seine Eigentümerin und Namensgeberin Margarethe von Gaffron, Malerin stimmungsvoller Bilder, die ihr Haus mit blauen, inzwischen ziemlich verblichenen Girlanden verziert hatte, die wohl Malven darstellten. Frau von Gaffron war taub, die Verständigung geschah mittels eines Hörrohrs, und ihre Reaktion zeigte, ob die hineingerufene Botschaft angekommen war oder ob sie statt «Wetter» «Glätte» oder statt «Donnerstag» «Eisendraht» verstanden hatte. Umso wacher waren ihre Augen, besonders wenn es darum ging, das Fehlen von Äpfeln zu bemerken, die gestern noch am Baum gehangen hatten. Die Schuldigen waren leicht auszumachen, die Versuchung des Verbotenen war stärker gewesen als das Wissen um den rechten Weg, wir spürten das schon als Kinder, aber konnten (oder wollten) nichts dagegen tun.
Frau von Gaffron war befreundet mit Oma Tilly, alias Tilly Wedekind, Dichterwitwe, die das größte und schönste Zimmer im ersten Stock bewohnte. Tillys Stirn war häufig umwölkt, ihr Blick umflort, das Wort «Depression» wurde genannt, aber nicht erläutert, der Zustand als gegeben hingenommen. Tatsächlich war Tilly manisch-depressiv, es zeitlebens gewesen, auch während der Ehe mit Wedekind, der weder Geduld noch Verständnis dafür aufbrachte und ihre Krankheit (die als solche allerdings noch wenig bekannt war) als «Kopfhängerei» abtat. Dabei hatte Tilly mehr als zwölf Jahre lang gemeinsam mit ihm jedes seiner Stücke aus der Taufe gehoben und dabei neben Bewunderung auch viel Häme, Ablehnung und Presseschelte geerntet. Jetzt schrieb sie Briefe an bedeutende Persönlichkeiten wie Theodor Heuss oder Thomas Mann, mit der Bitte, sich für Wedekinds Werk einzusetzen, das während der Nazi-Zeit nicht gespielt worden war und in Vergessenheit zu geraten drohte. Die Angeschriebenen antworteten höflich, aber ausweichend, besonders wichtig schien ihnen Wedekinds Werk nicht zu sein, und natürlich hatten sie viel Eigenes zu tun. Gelegentlich verreiste Oma Tilly, um Vorträge zu halten, hieß es. Vermutlich las sie dann Texte ihres Mannes und erzählte von den vielen berühmten Menschen, denen sie begegnet war und über die wir sie, wären wir älter, wacher und interessierter gewesen, hätten befragen können. Aber wir waren es nicht, und so blieb sie einfach Oma Tilly, manchmal streng, oft melancholisch und eigentlich immer gütig (auch das nahmen wir nicht wahr).
Familie Regnier bewohnte die zwei anderen Zimmer des ersten Stocks. Beide lagen nach Westen zum See, an sonnigen Nachmittagen glitzerten die Wellen an unseren Wänden. Im See wuchs das Schilf so dicht, dass im Frühling ein Weg hineingeschnitten werden musste. Im Schilf verborgen war eine hölzerne Plattform, ohne Genehmigung gebaut, zu der man hinwaten konnte. Manchmal aßen wir dort zu Abend. Unsere Mutter erzählte bei solcher Gelegenheit, dass ihr früherer Mann, Carl Sternheim (von dem sie nur mit größter Hochachtung sprach) im See gefrühstückt habe, vermutlich im Bodensee, wo er gewohnt hat, von einem Tablett, das vor ihm im Wasser schwamm. Ich probierte es aus, aber das Tablett ging sofort unter, und im Wasser schwammen Brot, Tomaten und andere Lebensmittel. Lag das an meiner Ungeschicklichkeit oder hatte unsere Mutter geflunkert? Oft aßen wir auch auf dem Balkon. Der war so morsch, dass Gäste nach Gewicht platziert wurden – je...