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E-Book

Das neugriechische Schattentheater Karagiozis

AutorWalter Puchner
VerlagHollitzer Wissenschaftsverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl268 Seiten
ISBN9783990121535
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Das neugriechische Schattentheater ist der letzte Zeuge einer einst im ganzen östlichen Mittelmeer verbreiteten Spieltätigkeit. Dieses fachlich scheinbar periphere Phänomen führt den Untersuchenden sehr bald schon in zentrale Bereiche von Theaterwissenschaft und Neogräzistik, wobei Walter Puchners Arbeit eine langjährige Lücke schließt, da die griechische Forschung aufgrund der Sprachschranke schwer zugänglich und überdies sehr verstreut ist. Die umfangreiche Literatur rund um das Schattentheater weist zudem bedeutende Urteilsdivergenzen auf, die vom 'Epiphänomen türkischer Provenienz' bis zum 'einzig echten griechischen Volkstheater' reichen. Diese Ansätze macht der Autor zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung.
Die Arbeit gliedert sich in einen historischen und einen hermeneutischen Hauptabschnitt. Ersterer nimmt das Zeitkontinuum zur methodischen Achse, zweiterer beschäftigt sich selektiv mit einzelnen Problemfeldern. In einem dritten Teil werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und in eine erweiterte Problemsichtung gestellt. Ein Anhang bringt ein alphabetisches Verzeichnis der namentlich bekannten Volkskünstler, ein Verzeichnis der Titel der Schattenspiele samt Quellenangabe, ein Register der gedruckten Textserien sowie die Bibliographie zum Thema. Das Nachwort zur Neuauflage von 2014 sorgt für eine detaillierte Präsentation des heutigen Forschungsstandes und ist unmittelbar mit einer Auswahlbibliographie 1972-2012 gekoppelt.

WALTER PUCHNER (geb. 1947 in Wien) studierte Theaterwissenschaft an der Universität Wien und habilitierte ebenda (1977). In den Jahren 1977-1989 lehrte er an der Universität Kreta. Von 1990 bis 2011 war er als Vorstand des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Athen tätig. Seine akademische Laufbahn umfasst u. a. Lehrtätigkeit an der Universität Wien, Gastprofessuren in Wien und Graz, sowie zahlreiche Vorträge an europäischen und amerikanischen Universitäten. 1994 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ernannt, 2001 wurde ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen.

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Leseprobe

L. DURRELL’S BESCHREIBUNG EINER KARAGIOZIS-VORSTELLUNG


Die hervorragendste Schilderung einer neugriechischen Schattentheateraufführung aus der Reiseliteratur über Griechenland stammt von Lawrence Durrell, der auf Korfu eine Vorstellung („Die öffentlichen Wahlen“) gesehen hat (30er Jahre). Hier seien als eine Art Motte Teile der ausgezeichneten Übersetzung von H. Zand wiedergegeben (LV 31 = Literaturverzeichnis bzw. Bibliographie 31 S. 45 ff.):

Es ist Dienstag: wir machen das Boot im alten Hafen fest und sehen sogleich den kleinen Ivan Zarian, der die große Treppe unter dem Löwen von St. Markus heruntertänzelt, um uns zu begrüßen. Er hat schon auf uns gewartet, um uns eine große Neuigkeit mitzuteilen. Karaghiosis [sic] ist in die Stadt gekommen, und heute abend soll eine Schaustellung stattfinden. Alle Kinder der Stadt und natürlich auch viele Bauern werden dabei sein. Wir schicken Spiro los, für uns Karten zu besorgen, und verbringen den Nachmittag im reinen, weißen Sonnenschein der Esplanade, trinken Limonade und lauschen dem Klirren der Eisstücke in den Gläsern rundum.

Es wird heute der Namenstag eines der unzähligen Heiligen gefeiert, und der ganze Tag ist ein Festtag. Die Cafés sind überfüllt; über das grüne Gras der Esplanada hin wehen die bunten Kleider der korfiotischen Mädchen. Zarian, wie immer von seinem wöchentlichen armenischen Artikel über Literatur zu theoretischen Spekulationen animiert, ergeht sich in leutseligen Erörterungen über das Schattenspiel. Er hat Karaghiosis in der Türkei und im Mittleren Osten schon in den verschiedensten Masken auftreten gesehen; der kleine schwarzäugige Mann trug dort statt seines großen Pavian-Greifarmes einen Phallus ähnlichen Ausmaßes. In seiner griechischen Maske ist er nicht mehr das Symbol pornographischer Possenreißerei, sondern etwas viel Feineres – die Verkörperung des griechischen Charakters.

Das ist ein fruchtbares Thema. Der Nationalcharakter, sagt Zarian, wird auf der Bühne geschaffen. Huxley hat irgendwo geschrieben, daß die Engländer nicht wußten, wie sich ein Engländer zu benehmen habe, ehe Falstaff entstanden war; jetzt ist der Nationalcharakter so genau festgelegt, daß jeder weiß, was von einem Durchschnittsengländer zu erwarten ist. Wie steht es mit den Griechen? Ihr Nationalcharakter basiert auf der Vorstellung, daß sich der verarmte und unterdrückte kleine Mann aus der Welt, die ihn umgibt, mit allen Mitteln der List das Beste herausholen soll. Nimmt man dazu noch das Salz seines selbstkritischen Humors, hat man den unsterblichen Griechen: einen impulsiven, prahlerischen Mann, für dessen Ungeduld alles zu langsam geht, schnell von Sympathien entflammt und ebenso erfinderisch wie anpassungsfähig. Feigling und Held zugleich: ein Mann, der zwischen angeborener heldischer Kühnheit und der hoffnungslosen Beweiskraft seiner Logik hin und her gerissen wird.

[…] Angeheitert vom ausgezeichneten Wein des „Rebhuhns“ überqueren wir gegen sieben Uhr den kleinen, gepflasterten Platz vor der Kirche des Heiligen und suchen unseren Weg durch die Alleen und Gassen der venezianischen Stadt (über uns auf den Balkonen schwatzen die Frauen und halten sich dabei an den Händen) zum Platz, auf dem das Schattenspiel gezeigt werden soll. Lichter und das Gemurmel der Menschen weisen uns den Weg zu einem kleinen Garten bei der italienischen Schule, der etwas tiefer als die Straße liegt. Der Handel mit Ingwerbier und Süßigkeiten hat schon gewaltige Ausmaße angenommen; die Schulkinder und Bauern sitzen zusammengepfercht in dem kleinen Rund vor der blendend weißen Leinwand, auf der unser Held erscheinen soll. Zwei Violinen und eine Trommel spielen eine Art stürmischer Ouvertüre, untermalt von dem Lachen der Kinder und dem Knallen der Ingwerbierflaschen.

[…] Unsere Sitze sind ganz vorne, das Orchester fiedelt vor unseren Nasen, und der Umsatz an Ingwerbier steigt sprunghaft an: Ivan Zarian hat seinen Vater veranlaßt, jedem von uns eine Flasche zu kaufen, N. zieht Nougat vor; Nimiec hat eine Papiertüte voller Erdnüsse erstanden. So ausgerüstet, erwarten wir das Schauspiel des Karaghiosis, seine lustigen Possen zumindest – denn sein Griechisch zu verstehen, haben wir keine Hoffnung.

Jetzt werden die Azetylenlampen an den Hecken gelöscht und die Reihe der gespannten Gesichter nur noch vom Licht der Leinwand auf ihrem rot ausgeschlagenen Gerüst erhellt. Die Schauspieler machen sich fertig: hin und wieder huscht ein Schatten über die Leinwand, und die kleinen Bauernkinder kreischen laut auf, in der Meinung, daß er das Erscheinen ihres Helden ankündige. Aber das Orchester spielt weiter seine quälend monotone Musik, die wie das Geräusch quietschender Schuhe klingt.

[…] quiekt das Orchester noch einmal auf und verstummt. Die Erwartung erreicht ihren Höhepunkt, denn hinter der Leinwand ertönt das vertraute Geräusch zusammengeschlagener Stöcke. Das ist das Zeichen für den Beginn des Spieles.

Die Menge stößt einen kurzen Seufzer der Erleichterung und der Freude aus, als endlich die versoffene Figur des Hadjiavatis über die Leinwand taumelt, schwerfällig die riesigen Augenbrauen hochzieht und ein paar Einführungsworte spricht. „Das ist Hadjiavatis“, rufen die kleinen Kinder in der ersten Reihe in steigender Aufregung, und Vater Nicholas erklärt der Reihe hinter ihm, deutlich hörbar: „Das ist der Schurke Hadjiavatis!“ Aber hinter dieser schroffen Bezeichnung verbirgt sich eine spürbare Sympathie, denn Hadjiavatis ist seiner ausgesprochenen Dummheit wegen beliebt. Er ist für Karaghiosis das, was Watson für Sherlock Holmes ist – vorgeschobener Strohmann und zugleich Quelle der Anregung.

Als Hadjiavatis erscheint, spielt das Orchester einen kleinen Tusch, seine Auftrittsmelodie, die seinen Monolog völlig übertönt. Darauf schüttelt er sich ungehalten, befiehlt Ruhe und fängt sein Grunzen und Geschrei von vorne an. Offensichtlich ist alles ziemlich hoffnungslos. Nichts stimmt. Er ist arm, kann seine Miete nicht zahlen, kürzlich wurde er überfallen und aus Versehen statt eines anderen fürchterlich verprügelt – ja die ganze Welt ist aus den Angeln. Darum wandert er ziellos die Pappstraße mit ihren Sperrholzhäusern entlang auf der Suche nach einem Freund, und natürlich gibt es nur einen Freund, den Hadjiavatis in einem solchen Fall aufsucht: Karaghiosis. Hartnäckig klopft er an die Tür einer Hütte und ruft: „Karaghiosis, bist du da?“ Darauf bekommt er vorläufig keine Antwort; die Kinder ertragen die Spannung nicht mehr. „Bist du da?“ ruft Hadjiavatis mit noch mehr Nachdruck. Eine gefährlich schwankende Kutsche rollt über die Bühne und überfährt ihn beinahe. Er verflucht sie und schlägt, sobald er sich von seinem Schrecken erholt hat, noch wütender auf die Türe ein. Endlich öffnet sich eine Klappe und der Held steckt seinen Kopf heraus.

Bei den Kindern bricht Geschrei und freudiges Händeklatschen los, das aber sogleich aufhört, weil sie hören wollen, was gesagt wird. Karaghiosis hat eine große, gebogene Nase, einen Höcker im Rücken und den phallischen, bereits erwähnten Arm. Er hat ferner ein böses, lidloses Auge, das auf das Aufblitzen der Schadenfreude wartet wie eine reife Maulbeere aufs Pflücken. „Du willst Karaghiosis sprechen?“ fragt er mit geziemender Zurückhaltung. „Wenn es wegen der Miete ist, wird Karaghiosis, fürchte ich, nicht zu Hause sein. Was das Geld betrifft, das du mir vorige Woche geliehen hast, wirst du dich ohne Frage erinnern, daß ich es dir zurückgezahlt habe.“ Nach diesen Worten verschwindet er, und Hadjiavatis hämmert weiter gegen die Tür. Diesmal erscheint der Kopf eines der unzähligen Kinder des Karaghiosis. Der Vater liegt im Bett und darf nicht gestört werden. Hadjiavatis bittet mit näselnder Stimme um eine Unterredung, aber anscheinend lehnt die Frau des Karaghiosis das ab. Schließlich fällt im Laufe der Unterhaltung das Wort „Brot“, und da fliegt die Haustüre auf und der Held stürmt heraus, fragt voller Hoffnung und Hunger: „Sagtest du Brot, o Hadjiavatis? Habe ich das Wort Brot gehört?“

Hadjiavatis findet eine Brotkruste in seinen Taschen und reicht sie dem ausgehungerten Karaghiosis, der nun bereit ist, sich eine gewisse Zeit mit ihm zu unterhalten. Ihre Unterhaltung dauert in der Tat eine geraume Weile, und sie wird von den entzückt beiseite gesprochenen Worten des Helden gewürzt. „Eine schöne Frau, sagst du? Dann halte sie von mir fern. Du weißt, wie es ist. Meine Schönheit und mein Charme und vieles andere – meine gesellschaftliche Stellung – sie würde sich sofort in mich verlieben.“

Von diesen kleinen Nebenbemerkungen ist jedermann entzückt. Karaghiosis’ absurde Eitelkeit ist eines seiner typischen Merkmale und bringt die Leute am meisten zum Lachen.

Was aber den Hadjiavatis wirklich beschäftigt, ist das Problem der Macht. Warum haben andere Leute Wagen und Diener und er nicht? Warum, in der Tat? wiederholt Karaghiosis und bedient sich dabei wie in Gedanken verloren mit Früchten von einem Obststand.

„Ich will dir was sagen“, erklärt der Held schließlich. „Möchtest du Premierminister werden?“ Hadjiavatis bejaht eifrig und hat wieder einmal vergessen, wie oft beide schon durch die Virtuosität des Karaghiosis in unrettbare Situationen gebracht worden sind. „Also gut“, sagt Karaghiosis. „Hast du etwas Geld?“ Es handelt sich offenbar darum, Wähler anzuwerben. Hadjiavatis hat zum Unglück nur zwei Drachmen und ist dumm genug, sie vorzuzeigen. Im Maulbeerauge des Helden blitzt Lüsternheit auf, und die Kinder (die genau wissen, daß, was immer auch geschehen mag, Hadjiavatis mit Sicherheit sein Geld verlieren wird), schreien laut vor Lachen. Karaghiosis überzeugt sich, daß das Geld echt ist, und dann beschließt er in...

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