[7] Einleitung
Eine kleine Geschichte Chinas? Nichts scheint unpassender am Anfang des 21. Jahrhunderts, das doch ein »chinesisches« Jahrhundert werden soll. China ist heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, auch politisch, militärisch und sportlich ist es zur Weltmacht aufgestiegen. Und je selbstbewusster der erwachte Drache in die Zukunft strebt, desto stolzer blickt er auf seine Herkunft. Ob in Staatsakten, Festreden oder gelehrten Publikationen: allenthalben wird auf Chinas glorreiche »5000jährige« Geschichte verwiesen. Während chinesische Politiker Statuen für historische Persönlichkeiten errichten und Gedenkzeremonien für mythische Kaiser abhalten, fördert die Tourismusindustrie die Renovierung historischer Stätten, das Kino produziert aufwendige Geschichtsepen. In wissenschaftlichen Großprojekten werden Daten der frühesten Herrscher sichergestellt und die Geschichte der letzten Kaiserdynastie festgeschrieben. Im Ausland präsentieren spektakuläre Ausstellungen Chinas kulturelles Erbe, elder statesmen verneigen sich vor der Weisheit der chinesischen Kultur, Fernsehserien, Zeitschriftenbeiträge und Bücher dokumentieren Chinas große Geschichte. Die Geschichte Chinas, so scheint es, darf heute vieles sein: prächtig, episch, einzigartig – nur eins nicht: klein.
Es ist nicht leicht, sich der suggestiven Kraft dieses Geschichtsbildes zu entziehen. Schließlich vermitteln chinesische Historiker schon seit über 2000 Jahren das Bild einer homogenen Hochkultur, die sich im Rahmen eines mächtigen Einheitsreichs entfaltete. Zwar mochten dessen Herrscher im zyklischen Auf und Ab der Dynastien kommen und gehen, auch Grenzen sich hier und da verschieben, doch die Einheit der Tradition blieb unerschütterlich. »China hat politische Teilungen und Vereinigungen erlebt«, so formulierten chinesische [8] Intellektuelle Mitte des 20. Jahrhunderts, »aber im Ganzen bildete stets eine große Linie das bestimmende Prinzip. […] In China ist im wesentlichen ein kulturelles System durchgehend überliefert worden, daran besteht kein Zweifel.« Das »Mandat des Himmels« wechselte, das Reich blieb sich gleich. Paradoxerweise führte dieses Geschichtsbild dazu, dass China weitgehend unhistorisch wahrgenommen worden ist. Im Europa der Aufklärung galt es als »ewiges China«, Land des Stillstandes, in dem die Ereignisse sich wiederholen, ohne dass sich Grundlegendes ändert, kurz: als Land ohne Geschichte. Noch heute wirkt dieser Topos nach. In China wird die Erzählung vom Aufstieg des chinesischen Volkes (mitsamt den »Minderheitenvölkern«, die seit je dazugehört hätten) und seiner Selbstfindung im Nationalstaat gepflegt – als sei die chinesische Nation einfach zu dem geworden, was sie immer schon war. Und in Europa genügt oft der Verweis auf die chinesische »Tradition«, um aktuelle Ereignisse in China zu erklären – als ob sich daran nie etwas geändert hätte. China scheint auf eigentümliche Weise dem Wandel der Zeiten überhoben zu sein.
Während dieses ahistorische Geschichtsbild fleißig gepflegt wird, haben sinologische Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte es Stück für Stück untergraben. Vor allem archäologische Funde legen nahe, dass Zivilisation in China von Anbeginn nicht durch Einheitlichkeit, sondern durch Vielfalt geprägt war. Ihre charakteristischen Ausprägungen sind nicht als Entfaltung ureigener Erbanlagen zu verstehen, sondern nur als Ergebnis eines Prozesses, in dem ganz verschiedene Lebensweisen zusammenkamen und sich einander anpassen mussten. China war stets von unterschiedlichen Kulturen umgeben und durchsetzt; das, was wir als »chinesisch« kennen, ist erst durch diese Kontakte entstanden. Die traditionelle Geschichtsschreibung hat diese Vielfalt sorgfältig verdeckt. Erst [9] neuere quellenkritische Untersuchungen haben nachgewiesen, wie stark diese Geschichte nach einem dogmatischen Idealbild verfasst wurde und wie der Eindruck von Kontinuität durch Rückprojektion jeweils gegenwärtiger Normen erzeugt wurde. Nicht die nationale Geschichte ist in den Nationalstaat gemündet, sondern umgekehrt: erst Chinas Selbstverständnis als Nationalstaat brachte eine Geschichte hervor, die diese neugefundene Identität legitimierte.
»China« ist also Geschöpf der Geschichtsschreibung. Das chinesische Wort für China, Zhongguo, war ursprünglich ein Plural: es meinte die »Mittleren Staaten« der Nordchinesischen Ebene. Später wurde daraus ein Singular: das »Reich der Mitte«, Siedlungsgebiet der »Chinesen«. Im 17.–19. Jahrhundert nahm Zhongguo schließlich eine Bedeutung an, die weit über das chinesische Kernland hinausging und ein Vielvölkerreich bezeichnete. Damit erst wurde es plausibel, unterschiedliche ethnische, religiöse und regionale Gruppen pauschal als »Chinesen« zu bezeichnen, die sich zuvor als eigenständig definiert hatten. Am besten versteht man »China« als Kollektivsingular, der eine Vielfalt von Verschiedenem in einem Begriff bündelt: separate Orte in einem Raum, unterschiedliche Verhaltensmuster in einer Kultur, ethnisch verschiedene Menschen in einer Nation, lokale Dialekte in einer Hochsprache, disparate Ereignisse in einer Geschichte.
Heute plädieren Intellektuelle wie Wang Hui dafür, »den Begriff ›China‹ von dem europäischen Modell nationaler Identifizierung zu befreien. China ist viel reichhaltiger, flexibler und multikulturell verträglicher, als bisher aufgezeigt wurde.« Diese Einsicht bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung. Wer Chinas Geschichte verstehen will, darf sich nicht von seiner gegenwärtigen Größe beeindrucken lassen. Der genauere Blick zeigt, dass China trotz aller Expansion stets ein kleinteiliges Gefüge geblieben ist, geprägt vom Mit- und [12] Gegeneinander ganz unterschiedlicher Elemente. Jahrtausendelang hat eine dünne Eliteschicht – höchstens 10 % der Bevölkerung – über anonyme Massen geherrscht. Während diese Eliten Politik machten, Recht sprachen, Geschichte, Kunst und Literatur schufen, pflegte die Landbevölkerung eine Vielzahl eigenständiger Lokaltraditionen, die mit der Elitekultur wenig zu schaffen hatten. So prominent diese Elitekultur uns heute erscheint – von einer einheitlichen, von allen getragenen »chinesischen« Kultur kann bis in die Moderne nicht die Rede sein.
Wie könnte es auch anders sein in einem Land, das so groß und divers wie ein ganzer Kontinent ist? 9,6 Millionen km2 umfasst das Gebiet der Volksrepublik China heute, kaum weniger als Europa vom Atlantik bis zum Ural. Zwischen Pamir und Pazifik, Südsibirien und den Tropen sind in China fast jeder Landschaftstyp und jede Klimaart anzutreffen: von tropischer, taifungefährdeter Küstenlandschaft bis zur subpolaren, kontinentalen Steppe; von den felsigen, inselreichen Küsten des Südens bis zu den Sandstränden des Nordens; von fluvialem Tiefland bis zu staubtrockener Wüste und den eisbedeckten Gipfeln des Himalaya. Der höchste Berg der Welt, der Mount Everest mit 8848 Metern, liegt ebenso in China wie einer der tiefsten Punkte, die Turfansenke mit 154 Metern unter Meereshöhe.
Im Westen trennen die Achttausender des Himalaya und Karakorum, der Pamir, Tianshan und das Altai-Gebirge China von Südasien, Mittelasien und Westsibirien. Östlich dieser gewaltigen Bergketten fällt das Land in drei großen Stufen ab, die ihm ein charakteristisches Profil verleihen. Das Tibet-Plateau und Qinghai, beide über 4000 Meter hoch, sind das »Dach der Welt«. Nördlich und östlich davon bilden das Tarim-Becken, das Mongolische Plateau, das nordchinesische Lößplateau, das Sichuan-Becken und das Hochland von Yunnan eine zweite Stufe in etwa 1000–2000 Meter Höhe. Die Hügel und Ebenen [13] im Osten und Süden, schließlich das dichtbesiedelte Kernland Chinas markieren mit unter 500 Metern Höhe die dritte Stufe.
In diesem fruchtbaren, klimatisch begünstigten Hügel- und Tiefland entstand und verbreitete sich die chinesische Kultur. Dort fließen der »Gelbe Fluss«, Huanghe, und der Yangzi, die Lebensadern der chinesischen Welt. Die Wasserscheide zwischen Huanghe und Yangzi, zugleich die wichtigste Barriere zwischen Nord und Süd, bildet das bis zu 4000 m hohe Qinling-Gebirge. Auf etwa 33 Grad nördlicher Breite von West nach Ost verlaufend, wirkt es als klimatische Grenze, die China in zwei grundverschiedene Hälften teilt. Es trennt die sibirischen Winde, die in den Wintermonaten kalte, trockene Luft von Norden bringen, von den feuchtwarmen Monsunwinden des Südens, die im Sommer für reiche Niederschläge sorgen. Die ausgeprägten klimatischen Unterschiede zwischen Nord und Süd führten dazu, dass an den großen Flüssen des Nordens und Südens zwei ganz unterschiedliche Kulturräume entstanden, geprägt durch andere Wirtschaftsweisen, Lebensformen und Mentalitäten.
In Nordchina mit seinen großen Anbauflächen herrscht trocken-kontinentales Klima, geprägt von heißen Sommern und staubigen, klirrend kalten Wintern. Die Niederschläge von 50–60 cm jährlich fallen...