Mit «Ho Front» in den Mai
Endlich war Mai, Kurze-Hosen-Wetter. Die Stadt roch nach Frühling. Bei uns Kindern machte sich das schöne Gefühl breit, dass das Leben unter der Frühlingssonne demnächst wieder leichter, unbeschwerter würde. Und mehr noch als das. Für eine «klassenbewusste proletarische Familie» wie uns war der 1. Mai ein Festtag. In Hamburg, der «roten Festung» – hier war der Anteil von Anhängern der sozialdemokratischen und kommunistischen Partei besonders hoch –, war der 1. Mai längst ein Feiertag. Im Rest des Reiches war das überwiegend nicht so. Fiel der Tag nicht, wie in diesem Jahr, auf einen arbeitsfreien Sonntag, so mussten die vielen Arbeiter, Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten, die an den Kundgebungen teilnahmen, Urlaub nehmen. Und das hieß, auf einen Tageslohn zu verzichten. Falls sie überhaupt Arbeit hatten. Doch das taten sie unverdrossen, denn dieser Tag war im proletarischen Milieu wichtig, galt es doch, am 1. Mai für zentrale Forderungen zu streiten – den Acht-Stunden-Tag oder den arbeitsfreien Sonnabend. Zudem feierte sich die Arbeiterschaft als selbstbewusste Klasse.
Dass allerdings dieser 1. Mai 1932 für lange Zeit der letzte «Kampftag der Arbeiterbewegung» war, der auch als solcher gefeiert werden durfte, das dachte wohl niemand. Die Demokratie der Weimarer Republik befand sich in einer schweren Krise. Hitler führte zwar ein Jahr später offiziell den «Feiertag der nationalen Arbeit» ein, doch damit feierte sich das System selbst, mit den traditionellen Maifeiern der Arbeiter hatte das nichts mehr zu tun.
Im roten Hamburg – noch 1928 hatten die Nazis lediglich zwei Prozent der Wähler für sich gewinnen können, doch bereits 1931 landeten sie mit 26 Prozent nur noch knapp hinter der SPD und vor unserer KPD – waren wir eine durch und durch rote Familie. Meine Eltern glaubten an die Weltrevolution, sie sahen in der Sowjetunion eine Art Paradies auf Erden und vertrauten unseren Führern, die fast alle aus Hamburg kamen oder in Hamburg wirkten: Ernst Thälmann, Etkar André, Fiete Schulz, Heinz Neumann.
Meine Eltern waren gestandene Kommunisten, für die die Teilnahme an der Mai-Demonstration nicht etwa lästige Pflicht, sondern eine Sache des Herzens war. So wie für gläubige Katholiken der Kirchenbesuch, obwohl meine Eltern natürlich Kirche, den Glauben, religiöse Traditionen ablehnten – mit ein paar Ausnahmen. Aber es gab in mancher Hinsicht Parallelen bei den Anhängern radikaler Ideologien und Gläubigen. Unsere Leute verehrten zwar keinen Gott, doch gab es gottgleiche Überväter, die Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin hießen. Unsere Enzykliken bekamen wir nicht vom Heiligen Vater, aber von den Vorsitzenden der maßgeblichen Kommunistischen Parteien – von Ernst Thälmann in Deutschland und Josef Stalin in der Sowjetunion. Der Kreml, das Machtzentrum des damals einzigen sozialistischen Landes der Erde, war für meine Eltern ungefähr dasselbe wie der Vatikan für die Katholiken. Letztlich waren meine Eltern von ihrer politischen Mission nicht nur überzeugt, sondern glaubten an sie – sie waren Gläubige, ohne religiös zu sein. Und der 1. Mai, das war unsere Auferstehung, unser proletarisches Oster- oder Weihnachtsfest, der Geburtstag unserer Bewegung.
Wir Kinder – mein damals fünfjähriger Bruder Hermann und ich, ein Jahr jünger – waren für einige Tage bei Oma und Opa untergekommen. Sie wohnten in einem fünfstöckigen bürgerlichen Mietshaus im Stadtteil Hammerbrook, elbnah im Stadtzentrum südlich von St. Georg gelegen. Im Volksmund wurde die Gegend auch «Jammerbrook» genannt, weil es dort, ähnlich wie im Berliner Wedding, sehr viele Mietskasernen gab, in denen die Arbeiterfamilien in zumeist ärmlichen Verhältnissen lebten. Die Lebensader in diesem Stadtteil bildete die Hammerbrookstraße, durch die die Straßenbahn fuhr. Es gab Geschäfte aller Art, Gaststätten und sogar drei Kinos. Eines davon wurde «Flohkiste» genannt. Die Eintrittskarten kosteten ein paar Pfennige und waren somit auch für Arbeiter erschwinglich. Sehr lange noch wurden hier Stummfilme mit Klavierbegleitung gezeigt, ein «Ansager» erklärte mit viel Pathos die Filmszenen. Die Hammerbrookstraße war damals für mich ein aufregendes Stück Hamburg.
Während im Norden des Viertels bis hin nach St. Georg bereits klein- und gutbürgerliche Häuser das Straßenbild prägten, breitete sich das wahre «Jammerbrook» in den kleinen Seitenstraßen mit ihren dunklen Hinterhöfen aus. Hier lag die Hochburg der Arbeiterparteien KPD und SPD, die Kommunisten hatten einen leicht höheren Anteil als die Sozialdemokraten. Den Nazis fiel es enorm schwer, hier Fuß zu fassen. Mit Mühe hatten sie eines ihrer Versammlungslokale in der Hammerbrookstraße halten können, dort befand sich der sehr umtriebige und radikale SA-Sturm 14.
Wir wohnten mit unseren Eltern ein paar Straßen weiter im Stadtteil St. Georg. Da wir uns keinen der Kindergärten leisten konnten, von denen es ohnehin nur wenige gab, kamen wir oft tageweise bei unseren Großeltern unter. Das entlastete meine noch jungen Eltern erheblich, die nicht nur politisch aktiv waren, sondern auch enorme Geldsorgen hatten. An jenem Sonntag also holte uns meine Mutter dort zum großen Mai-Umzug ab.
«Nun kommt schon, Kinder, zieht euch an», rief meine Mutter, schon reichlich ungeduldig. Wir waren beinahe im Treppenhaus, da kam Opa noch zur Tür gerannt. «Vergiss das hier nicht», sagte er und brachte Mutter das rote Kopftuch hinterher, welches damals alle kommunistischen Frauen zu solchen Anlässen trugen. «Ich mag das hässliche Ding nicht», sagte meine Mutter, band es sich aber dennoch um. Sie war eine schöne, auch etwas eitle Frau – im kommunistischen Establishment des Hamburger Ostens hatte sie als «rotes Lieschen» sogar eine gewisse lokale Prominenz, die sich sowohl auf ihre roten Haare als auch auf ihre politische Überzeugung gründete.
Über dem Hamburger Osten lachte an jenem Maitag 1932 die Sonne, erstmals in diesem Jahr zeigte das Thermometer frühsommerliche 21 Grad. An der einen Hand hielt uns die Mutter, in der anderen hatten wir kleine rote Papierfähnchen mit dem Sowjetstern darauf, so trotteten wir Kinder in Richtung Hauptbahnhof. Dort formierte sich der Demonstrationszug. Zunächst mussten wir noch dem mächtigen Menschenstrom des Verbandes «Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold» Platz machen, auch kurz Reichsbanner genannt. Die Männer trugen blaue Mützen, grüne Hemden, Schulterriemen, schwarze Breecheshosen und Ledergamaschen. Sie standen den Sozialdemokraten nahe und waren ursprünglich als Reaktion auf die braunen Schlägertrupps der SA zum Schutz der Republik gegründet worden. Sie standen aber auch mit dem Rotfrontkämpferbund auf Kriegsfuß, dem militanten Verband der Kommunistischen Partei. Es waren verrückte Zeiten. Die politische Auseinandersetzung wurde nicht im friedlichen Wettstreit der Ideen gesucht, sondern in martialischen Aufmärschen und Gewaltentladungen auf der Straße.
Unsere Leute buhten laut, als der Zug vorbeimarschierte. «Sozialfaschisten» und «Arbeiterverräter», riefen die Freunde meiner Mutter. «Scheißbolschewiken» und «Moskauer Marionetten» hallte aus dem Zug zurück. Doch beide Züge hatten unterschiedliche Ziele. Die Sozialdemokraten marschierten in Richtung Stadtpark, wir in Richtung Uni-Viertel.
Die aufgeladene Atmosphäre bei solchen Zusammentreffen spürten auch wir Kinder. Am Hauptbahnhof trafen wir unseren Vater. «Da seit ihr ja, ihr Rasselbande», rief er. Er trug die hellgraue Uniform des Rotfrontkämpferbundes. Er war aufgeregt, aber er freute sich, uns zu sehen. «Ich bin für die Sicherung der Seite eingesetzt», sagte er und musste auch gleich wieder in seine Formation. Wir Kinder waren mächtig stolz, dass auch unser Vater eine Uniform trug und dazugehörte. Von den drei paramilitärischen Organisationen – Reichsbanner als Verteidiger der Demokratie, RFB und SA als ihre Feinde – waren die beiden letztgenannten die schlagkräftigsten und aggressivsten. Oft ging es bei den Auseinandersetzungen blutig zu, auch gab es immer wieder Todesopfer. Das hatte dazu geführt, dass RFB und SA vorübergehend verboten wurden.
Mein Vater Hermann Friedrich August Lucks, Jahrgang 1908, war mit seinen 1,68 Metern ein kleiner, aber untersetzter und starker Mann. Er hatte lediglich die Volksschule besucht und war bereits früh im Jungsturm der KPD politisch aktiv gewesen. Schon im Alter von 15 Jahren, während des von dem KPD-Heißsporn Hans Kippenberger organisierten Hamburger Aufstandes im Jahr 1923, gehörte er als Fahrradkurier in Barmbek zum Stab der KPD-Legende Philipp Dengel, der für Verpflegung und Munition zuständig war. Als er in der Aufstandszentrale eine der Meldungen überbrachte – es ging um die Bewaffnung der Schiffbeker Genossen –, klopfte ihm ein Mann auf die Schulter: «Gute Nachricht, Junge, mach weiter so!» Das war Kippenberger selbst, der wie auch der Hamburger KPD-Chef Hermann Schubert später in die Sowjetunion emigrierte (beide wurden dort von Stalins Schergen hingerichtet). Er hatte mit seinen «Roten Hundertschaften» recht erfolgreich paramilitärische Strukturen geschaffen und sogar Polizei und Reichswehr mit Gleichgesinnten unterwandert. Dengel, Kippenberger und mein Vater waren nicht nur Kampfgefährten, durch das Erlebte...