3 Determinanten der subjektiven (De-)Konstruktion von Diskriminierung
Das vorangegangene Kapitel hat deutlich gemacht, dass Diskriminierung als objektiver Tatbestand mit weitreichenden Wertungsimplikationen aufzufassen ist, für dessen Vorliegen es überprüfbare Kriterien gibt. Die subjektive Wahrnehmung von Diskriminierung ist demgegenüber weder notwendig noch hinreichend für faktische Diskriminierung. Sowohl aus wissenschaftlicher wie auch aus anwendungsorientierter Perspektive ist es aber dennoch äußerst wichtig, die Faktoren und Prozesse zu verstehen, die die subjektive Wahrnehmung von Diskriminierung – ebenso wie ihre Leugnung – entstehen lassen und beeinflussen. Denn es sind weniger die faktischen als vielmehr die subjektiv wahrgenommenen Diskriminierungen, welche die Basis für starke emotionale Reaktionen bilden und massive Handlungsbereitschaften freisetzen (Feather, 2006; Harth, Kessler & Leach, 2008; Leach, Iyer & Pedersen, 2006; M. Schmitt, Behner, Montada, Müller & Müller-Fohrbrodt, 2000); möchte man hier steuernd eingreifen, so ist ein Verständnis der Ursachen und Entstehungsbedingungen von wahrgenommener Diskriminierung unerlässlich. Nicht zuletzt geht es in öffentlichen wie privaten Diskussionen um Diskriminierungsfragen häufig auch darum, Konflikte und Widersprüche zwischen widerstreitenden Auffassungen zu verstehen und aufzulösen (Montada & Kals, 2007). Ein angemessenes Verständnis gesellschaftlicher und psychologischer Determinanten der (De-)Konstruktion von Diskriminierung stellt auch hierzu einen wichtigen Schlüssel dar.
3.1 Gegenstand und Konstituenten empfundener Diskriminierung
Einen naheliegenden, geradezu trivialen Einfluss auf die wahrgenommene Diskriminierung nehmen natürlich die objektiven Ereignisse, die die Diskriminierung ausmachen. Faktische oder fiktive Ungleichbehandlungen von Personen sowie gesellschaftliche Statusunterschiede zwischen Personengruppen sind der Gegenstand, auf den sich Diskriminierungswahrnehmungen beziehen, und diese sind auch normalerweise der Ausgangspunkt von Untersuchungen, in denen wahrgenommene Diskriminierung analysiert wird.
Ungleichheit kann in verschiedenen Lebensbereichen auftreten (Familie, Beruf, öffentliches Leben, Freizeit, Konsum, Gesundheit etc.) und umfasst materielle Verteilungen, Sympathie, Wertschätzung und Respekt, Zugangsbedingungen und Chancen (bezüglich Bildung, beruflicher Tätigkeit, Teilnahme an gesellschaftlichen Einrichtungen und Ereignissen etc.), sowie Mitwirkungsrechte und Entscheidungsbefugnisse. Tatsächliche (oder fiktive) Diskriminierungen in diesen Bereichen und Indikatoren wurden vielfach als Auslöser für Ungerechtigkeitskognitionen und Emotionen der Empörung auf Seiten der Betroffenen, aber auch unbeteiligter Beobachter nachgewiesen. Da wir auf die faktischen Tatbestände der Altersdiskriminierung später noch ausführlich eingehen (s. Kap. 6), kann eine Darstellung dieser Befunde und Zusammenhänge hier unterbleiben.
Es ist aber nicht die bloße Ungleichheit von Ergebnissen die primäre Quelle von Diskriminierungs- und Ungerechtigkeitswahrnehmungen, sondern das Verhältnis dieser Ergebnisse zu den Verdiensten und Leistungen einer Person oder Personengruppe; das ist die Kernthese der sogenannten Equity-Theorie der Gerechtigkeit (J. S. Adams, 1965). Als diskriminierend und ungerecht wird empfunden, wenn unter gleichen Voraussetzungen unterschiedliche Ergebnisse zugeteilt werden, aber auch, wenn trotz unterschiedlicher Verdienste und Leistungsansprüche derselbe Lohn, dieselbe Wertschätzung etc. resultiert. Als Maß der wahrgenommenen Diskriminierung dienen dabei meist Einschätzungen, inwieweit die beobachtete Gleich- oder Ungleichbehandlung „verdient“ oder gerecht ist, bzw. emotionale Tendenzen der Empörung oder Entrüstung, die sich an solche Einschätzungen knüpfen (Feather, 2006).
Über die materiellen und immateriellen Ergebnisse von Handlungen und ihre Relation zu den Verdiensten („Verteilungsgerechtigkeit“) hinaus wird auch die Qualität der Entscheidungsprozesse, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, als gerecht oder ungerecht eingeschätzt; dies ist die Kernthese so genannter prozeduraler Gerechtigkeitstheorien (Folger, 1986; Thibaut & Walker, 1975). Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) wird – etwa bei einer Gerichtsentscheidung – dann angenommen, wenn bestehende Gesetze und Verfahrensbestimmungen konsistent und fehlerfrei angewendet werden, wenn die Entscheidungen auf zuverlässigen Informationen beruhen und bei neuen Informationen oder Argumenten prinzipiell revidierbar sind. Ungerecht wäre das Verfahren demgegenüber, wenn die vorgeschriebenen Verfahrensregeln verletzt oder den Beteiligten nicht die gleichen Möglichkeiten eingeräumt wurden, ihr Verhalten zu erklären und zu rechtfertigen (z. B. Bierbrauer, Gottwald & Birnbreier-Stahlberger, 1995).
Neuere Varianten dieser Theorien beziehen noch einen weiteren Aspekt als konstitutives Element von Ungerechtigkeits- und Unfairness- oder Diskriminierungszuschreibungen mit ein: Die Verletzung moralischer Normen und Standards (Folger, 1998). Genau dieser Verstoß gegen moralische Gebote und die Missachtung legitimer Ansprüche wurden bereits in unseren bisherigen Ausführungen als wichtige kriteriale Komponente von Diskriminierung hervorgehoben (s. Kap. 2).
Diskrepanzen in der Wahrnehmung von (Un-)Gerechtigkeit können somit aus verschiedenen Dissensen resultieren (Montada & Kals, 2007). Zum einen können die anzuwendenden Gerechtigkeitsprinzipien umstritten sein: Soll die Behandlung sich strikt am mathematischen Gleichheitsprinzip ausrichten, oder sind andere der oben genannten Prinzipien (z. B. objektive Bedürftigkeit, subjektive Bedürfnisse, wahrgenommene Verdienste) maßgeblich? In Abhängigkeit von dem je betrachteten Sachverhalt und Kontext werden hier unterschiedliche Prinzipien als angemessen empfunden: So wird in der Arbeitswelt eine höhere Entlohnung von besser qualifizierten Beschäftigten als angemessen betrachtet, während eine höhere Bezahlung besonders bedürftiger Arbeitnehmer wohl nur auf geringe Akzeptanz stoßen würde. Zum zweiten kann ein Dissens in den Bewertungen derjenigen Verhaltensweisen, Bedürfnissen etc. bestehen, welche die Grundlage für die Anwendung des jeweiligen Gerechtigkeitsprinzips liefern. So kann bereits die Beurteilung des Ist-Zustands, d. h. der aktuellen Verteilung von Gütern oder einer bestehenden Gleichheit oder Ungleichheit von Gruppen in entscheidungsrelevanten Merkmalen kontrovers sein. Vergleichbare Probleme stellen sich, wenn die Soll-Werte festgelegt, d. h. Bedürftigkeit oder Bedürfnisse diagnostiziert oder Leistungen und Verdienste festgestellt und gewichtet werden sollen. Schließlich können Unstimmigkeiten im Hinblick auf das angemessene Verfahren zur Herstellung von Gerechtigkeit bestehen.
Die bislang geschilderten Ansätze zu den Grundlagen von wahrgenommener Diskriminierung und Ungerechtigkeit orientieren sich allerdings vor allem daran, was „Diskriminierung“ tatsächlich bedeutet, sowie an den wertenden Implikationen, die mit solchen Behauptungen verbunden sind. Es handelt sich im Kern lediglich um rationale oder normative Modelle der Entstehung wahrgenommener oder empfundener Diskriminierung; die als Stützung der Theorien angeführten empirischen Untersuchungsergebnisse belegen letztlich nicht viel mehr als ein adäquates Verständnis des Diskriminierungs-, Gerechtigkeits- oder Fairnessbegriffs bei kompetenten Sprachbenutzern (vgl. Brandtstädter, 1982, 1984).
Im Folgenden wollen wir den Fokus daher vor allem auf Unterschiede in der wahrgenommenen Diskriminierung bei einem als gegeben aufgefassten Sachverhalt richten, und auf die psychologischen Prozesse und Mechanismen, die solchen Unterschieden zugrundeliegen. Dabei gehen wir auf gesellschaftliche und kulturelle Hintergründe, vor allem aber auf durch Persönlichkeitsprozesse bedingte Abweichungen von normativen Anwendungen des Diskriminierungsbegriffs ein.
3.2 Personale Determinanten unterschiedlicher Diskriminierungswahrnehmung
3.2.1 Perspektivenunterschiede
Ein erster wichtiger Faktor, der Unterschiede in der Wahrnehmung von Diskriminierung für ein gegebenes Ereignis oder Verteilungsergebnis bedingt, ist die Perspektive, aus der dieser Sachverhalt betrachtet und erlebt wird. Ressourcen- oder Rollenzuweisungen, Auswahlentscheidungen, Aggressionen oder Sympathiebezeugungen können entweder aus der Rolle des Akteurs (des „Täters“), des Rezipienten (des „Opfers“) oder aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters bewertet werden. Eine Vielzahl von Studien belegt, dass das Handeln eines Akteurs, das zu einem negativen Ergebnis für einen Rezipienten führt, von dem Opfer – aber auch von unbeteiligten Beobachtern – häufiger als böswillig, ungerecht oder diskriminierend eingeschätzt wird, während der Täter selbst sein Handeln als legitim wahrnimmt und mit Gründen rechtfertigt (z.B. Baumeister, Stillwell & Wotman, 1990; Mikula, Athenstaedt, Heschgl & Heimgartner, 1998; Mummendey, Linneweber & Löschper, 1984; Mummendey & Otten, 1989). Beispielsweise werden Risikoprämien, die Versicherungen für ältere Autofahrer erheben, aus Sicht der betroffenen Autofahrer (aber auch nicht-betroffener Beobachter) als ungerechtfertigte Benachteiligung interpretiert, die durch Geldgier und Voreingenommenheiten der Versicherer gegenüber älteren Menschen bedingt ist. Aus deren Perspektive stellt dieses Verhalten jedoch eine völlig legitime Umsetzung statistischer Schadenserwartungen für unterschiedliche Gruppen von Versicherten in entsprechende Versicherungsprämien dar (vgl. R. L. Brown, Charters, Gunz & Haddow, 2007).
Eine etwas andere Form von...