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Kompetenzen und
Kompetenzmodelle
Bildungsstandards betreffen einen engen Ausschnitt jener Standards, die festlegen, was eine Schule ausmacht. Es sind Leistungsstandards, die sich auf die Ergebnisse der Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern beziehen. Ausgeblendet wird damit eine Vielzahl von Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit Schule und Unterricht stattfinden und ihre Wirkung entfalten können. Das heißt nicht, dass diese Bedingungen ignoriert werden, jedoch bilden sie nicht Teil der Standardbewegung, wie sie vor einigen Jahren den deutschen Sprachraum erreicht hat. Wie das Beispiel der USA zeigt, war die Standardbewegung zunächst an Inhalten orientiert und hatte versucht, die Lehrpläne in verschiedenen Schulfächern mittels curricularer Standards zu vereinheitlichen. Auch Prozessstandards standen eine Zeitlang zur Diskussion. Man nannte sie zunächst school delivery standards und später opportunityto-learn standards (vgl. Porter 1993). Während sich die opportunityto-learn standards auf Prozessmerkmale des Unterrichts beschränken, sind die school delivery standards weiter gefasst und betreffen auch Input- und Kontextmerkmale von Schule und Unterricht (Porter 1993, S. 25).
Wie im Falle der curricularen Standards erwies es sich jedoch als nicht machbar, den Prozess des Unterrichtens verbindlich zu regulieren. Einerseits wissen wir trotz eines großen Forschungsaufkommens noch immer zu wenig darüber, was die Bedingungen eines erfolgreichen Unterrichts sind, andererseits stellt die Messung von Prozessstandards ein bisher nicht lösbares Problem dar. Messen lassen sich dagegen die Schülerleistungen, die gleichsam den verbleibenden gemeinsamen Nenner darstellen, um Bildungsstandards verbindlich festzulegen.
Doch Schülerleistung ist nicht gleich Schülerleistung. Bildungsstandards werden den Schülerleistungen, wie wir sie in Form von Wissens- und Könnenserwartungen kennen, nicht einfach aufgepfropft. Die Standardbewegung führt eine Bildungsphilosophie im Schlepptau, die Schule und Unterricht auf Lebenstauglichkeit ausrichten will. Dafür steht der Kompetenzbegriff, der im angelsächsischen Raum von geringer Bedeutung ist, obwohl der Anspruch, dass die Schule „auf das Leben“ vorbereiten soll, gerade in den USA eine lange Tradition hat.
Um die Diskussion des Kompetenzbegriffs vorzubereiten, werfen wir nochmals einen Blick über den Atlantik, wo im Fahrwasser des Behaviorismus schon früh verlangt wurde, dass die schulischen Lernziele auf der Verhaltensebene zu definieren sind (Kap. 2.1). Danach befassen wir uns mit dem Kompetenzbegriff, wie er die Diskussion über Bildungsstandards prägt (Kap. 2.2). Der Kompetenzbegriff stellt eine Reihe von Problemen, die wir etwas genauer analysieren werden (Kap. 2.3). Abschließend gehen wir auf die Rhetorik der Standardbewegung ein (Kap. 2.4).
2.1 Kontinuität einer Reformidee
Bildungsstandards lenken den pädagogischen Blick auf die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler. Sie schreiben Leistungserwartungen fest, deren Erfüllung nur überprüft werden kann, wenn sich überhaupt feststellen lässt, ob ein Schüler oder eine Schülerin ein Lernziel erreicht hat oder nicht. Bildungsstandards stehen damit in einer Tradition pädagogischen Denkens, die in den USA bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, die aber insbesondere die Bildungspolitik der Nachkriegszeit stark geprägt hat.
Von Tyler zu Popham
Die Stichworte lauten: Lernzielbestimmung und Lernzieltaxonomie. Die Kritik geht dahin, dass die Zielangaben in Lehrplänen überhöht, ungenau und unbestimmt sind, dass sie sich oft beliebig auslegen lassen und dass keine Verbindlichkeit hinsichtlich der Zielerreichung besteht. Gefordert werden Lernziele in Form von behavioral objectives, d. h. operationalisierbaren Vorgaben, die sich auf der Verhaltensebene konkretisieren lassen. Nur so lasse sich genau und verbindlich festlegen, worauf es in Schule und Unterricht ankommt.
Einer, der die Ausrichtung des Unterrichts an operationalisierbaren Lernzielen besonders vehement einklagte, war Ralph Tyler. In seinem erstmals 1949 erschienenen und vielfach aufgelegten Buch Basic Principles of Curriculum and Instruction postulierte er vier Schritte der rationalen Organisation von Unterricht, die er in vielen weiteren Publikationen bestärkte (Tyler 1973):
- Festlegung der Ziele, welche die Schülerinnen und Schüler erreichen sollen.
- Auswahl der Lernerfahrungen, die sich vermutlich eignen, um die Ziele zu erreichen.
- Organisation der Lernerfahrungen durch entsprechende Gestaltung des Unterrichts.
- Beurteilung, ob das Lehrprogramm wirksam war und die Lernziele ereicht wurden.
Hinter diesem Planungsschema, das unter der Bezeichnung Tyler Rationale breite Anerkennung fand und noch heute als pädagogische Errungenschaft gilt, verbergen sich Grundprinzipien der behavioristischen Psychologie, die in den USA seit langem forderte, schulische Lernziele seien auf der Verhaltensebene festzulegen. Denn nur so können die Mechanismen der klassischen und operanten Konditionierung zum Greifen kommen. Tyler gilt auch als Vater der Bildungsevaluation (Tyrrell 1974, S. 152f.), die er als Vergleich zwischen intendiertem und tatsächlich erreichtem Ergebnis pädagogischen Handelns verstand. Damit kritisierte er die auch heute noch gängige Praxis, Schülerleistungen durch sozialen Vergleich (zum Beispiel im Rahmen einer Schulklasse) zu bewerten, und forderte stattdessen einen sachlichen (kriterialen) Maßstab, der gänzlich aus den Lernzielen hergeleitet ist (vgl. den Abschnitt „Normorientierte vs. kriteriumsorientierte Tests“ in Kap. 4.2).
Benjamin Bloom, ein Schüler von Tyler, entwickelte dessen Ansatz in den 1950er und 1960er Jahren weiter zu den berühmten Lernzieltaxonomien im kognitiven, affektiven und psychomotorischen Bereich, die die Curriculum-Bewegung in Deutschland und der Schweiz stark beeinflussten. Bloom (1976, S. 202) verstand das schulische Lernen als Kausalsystem, „in which a few variables may be used to predict, explain, and determine different levels and rates of learning“. Sein Ansatz des zielerreichenden Lernens (mastery learning) beinhaltet, dass durch angemessene Gestaltung des Unterrichts alle Schülerinnen und Schüler die gesetzten Lernziele erreichen können. Dank der kausalen Theorie des Unterrichts hielt er es für möglich, das schulische Lernverhalten gezielt zu beeinflussen, ja „to produce changes in the learning of students“ (S. 203 – Hervorh. W. H.) – die Nähe von Bildungsstandards zu Blooms Lernzieltaxonomie wird von Köller (2010b, S. 77) explizit eingeräumt und von Göldi (2011) aufgrund einer informativen historischen Analyse bestätigt.
Von großem Einfluss war in den 1960er und 1970er Jahren auch Robert Mager, der mit seinem 1962 erstmals erschienenen Buch Preparing Instructional Objectives eine eigentliche Bewegung auslöste, die sich der operationalen Definition von Lernzielen verschrieb (vgl. Mager 1994). Auffällig war schon in der damaligen Zeit, wie technisch die Argumentation daherkam und wie formal die Lernzieltaxonomien letztlich ausfielen. Von inhaltlichen Zielen war nicht viel zu sehen. Doch der Enthusiasmus war groß. Ende der 1960er Jahre schreibt James Popham: „We are at the brink of a new era regarding the explication of instructional goals, an era which promises to yield fantastic improvements in the quality of instruction. […] Educators, in large numbers, are beginning to think rigorously regarding the issues involved in specifying educational goals“ (Popham 1969, S. 33). Das rigorose Denken, dem sich nach Meinung von Popham eine wachsende Zahl von Pädagogen anschloss, ist ein zweckrationales Denken, das den Zielen Mittel zuweist, die den Erfolg der pädagogischen Intervention gleichsam vorweg garantieren.
Dabei spielt es für Popham keine Rolle, mit welchem Begriff wir die Zielkomponente des Zweck-Mittel-Schemas bezeichnen. Ob wir von Absichten, Zielen, Zwecken oder Ergebnissen sprechen, scheint ihm belanglos zu sein, solange wir uns in einer behavioristischen Sprache ausdrücken: „[T]he only sensible reason for the educator’s engaging in instruction is to modify the learner’s behavior; therefore, [the] intended changes [which we wish to bring about in a learner, W. H.] must be described in terms of measurable learner behaviors“ (Popham 1969, S. 35 – Hervorh. W. H.). Vage Zielformulierungen werden von Popham entschieden zurückgewiesen: „A properly stated behavioral objec tive must describe without ambiguity the nature of learner behavior or product to be measured“ (S. 37). Gefordert sind Messinstrumente, die unbestreitbar feststellen lassen, ob ein Ziel erreicht wurde oder nicht.
Popham ist deshalb ein interessanter Zeuge, weil er für die Kontinuität eines Reformansatzes steht, der seinen behavioristischen Prinzipien bis heute treu geblieben ist. Seine Äußerungen aus den 1960er Jahren spiegeln sich fast wörtlich in einer Bemerkung, die er Ende der 1990er Jahre machte. Auf die Frage, ob ein content standard etwas anderes sei als ein instructional objective, antwortete er: „[T]here really is no difference between instructional objectives and content standards. Both phrases describe the educational intentions we have for our students“ (Popham 1997, S. 22). Das heißt, dass auch mit Leistungsstandards...