Einleitung
Kinder, Heranwachsende und deren Familien geraten mitunter in schwierige Lebenslagen, in denen das Gelingen ihrer Entwicklung bzw. Erziehung gefährdet erscheint. Familien können dann zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und zur Unterstützung des Entwicklungsprozesses ihrer Kinder besondere, an ihre Situation und deren Herausforderungen angepasste Hilfen in Anspruch nehmen. Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) stehen ihnen »Hilfen zur Erziehung« (gem. §§ 27 ff. SGB VIII) und/oder »Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche« (gem. § 35a SGB VIII) zu, wenn entsprechende Voraussetzungen erfüllt sind. Aber welche Hilfe ist für wen und unter welchen Umständen tatsächlich hilfreich? Wie findet man die angemessene Intervention? Was gibt im Einzelfall den Ausschlag für eine ambulante oder (teil-) stationäre, für eine sozialpädagogische, psychologische, beraterische und/oder (psycho-)therapeutische Hilfe? Woran erkennt man, dass die Hilfeleistung im Sinne des § 36 SGB VIII jeweils »geeignet und notwendig« (gewesen) ist?
Auf diese Fragen müssen in den Hilfeplanungs- und Evaluationsprozessen der Kinder- und Jugendhilfe Antworten gefunden werden – in jedem Einzelfall, aber auch in grundsätzlicher Hinsicht. Begründete Antworten auf die Indikationsfrage setzen begründete diagnostische Beschreibungen und Bewertungen voraus. Den gesetzlichen Vorgaben der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend sind deren diagnostische Einschätzungen stets auf die besondere Entwicklungssituation der Kinder bzw. Jugendlichen zu beziehen, zu deren Unterstützung eine Hilfe in Erwägung gezogen wird. Jugendhilfespezifische Diagnosen verstehen diese Situation im Kontext der jeweils gegebenen erzieherischen und sozialisatorischen Verhältnisse als vorläufiges Resultat eines individuellen Entwicklungsprozesses. Im Sinne des § 1 Abs. 1 SGB VIII bewerten sie die Entwicklungs- und Erziehungssituation am Maßstab des Rechtes junger Menschen auf eine Entwicklung zur autonomen und teilhabefähigen Persönlichkeit sowie auf eine Erziehung durch Elternpersonen, die sie in ihrer Entwicklung begleiten und in altersgerechter, entwicklungsfördernder Weise zur Mündigkeit führen.
Die diagnostische Aufmerksamkeit müsste demnach bifokal ausgerichtet sein. Zum einen wäre unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten die Art und Weise zu fokussieren, wie das Kind bzw. die/der Jugendliche ihre/seine Entwicklungsaufgaben und -bedürfnisse realisiert. In sozial-systemischer Perspektive wären zum anderen die entwicklungsrelevanten Interaktionssysteme zu betrachten, an denen das Kind bzw. der/die Heranwachsende teilnimmt und die ihm/ihr entsprechende Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen vermitteln. Primär ist das die Familie, sekundär sind es weitere soziale Systeme, die Einfluss auf die individuelle Entwicklung nehmen (Schule, Gleichaltrigengruppen, Medien usw.). Diagnostik, die für die Jugendhilfe und für deren Aufgabenerfüllung nutzbringend ist, sollte also im Wesentlichen psychosozial strukturiert sein. Gebraucht werden psychosoziale Diagnosen, die belastbare Aussagen über die Lebenslage junger Menschen machen, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Autonomie- und Partizipationsentwicklung als auch im Hinblick auf die sozialen Verhältnisse, in denen sie sich entwickeln.
Nimmt man hinzu, dass der Körper mit seinen Besonderheiten für alles, was einen Menschen, seine Subjektivität und seine Persönlichkeit ausmacht, die Grundlage bildet, so folgt daraus, dass Diagnostik im Rahmen der Jugendhilfe in angemessener Weise berücksichtigen muss, dass die jungen Menschen, denen ihre Aufmerksamkeit und Sorge gilt, biopsychosozial verfasst sind. Diagnostik kann Kinder und Jugendliche also nicht allein als soziale Wesen oder als Wesen mit »erzieherischem Bedarf« betrachten, wenn sie ihnen als ganze Menschen gerecht werden will. Das heißt nicht, dass die Jugendhilfe für die Behandlung körperlicher oder seelischer Erkrankungen finanziell aufkommen muss. Aber es heißt, dass sie Erkrankungen ebenso wenig wie andere Beeinträchtigungen und Gefährdungen eines jungen Menschen außer Acht lassen kann. Andernfalls steigt die Wahrscheinlichkeit fehlangepasster Indikationen, einseitig ausgerichteter Hilfeleistungen und scheiternder Hilfeverläufe (vgl. z.B. Schmid et al., 2006).
Spätestens seit 2005 mit der Einfügung des § 8 a (»Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung«) in das SGB VIII die grundsätzliche und keineswegs neue Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe unterstrichen wurde, Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, dass sie in ihrer Entwicklung Schaden erleiden, konnte die Notwendigkeit diagnostischer Verfahren zur sorgfältigen Abklärung vermuteter Gefährdungslagen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ebenfalls nicht mehr ignoriert werden. Dass Hilfeplanungen und -entscheidungen in der Kinder- und Jugendhilfe generell diagnostische Erkenntnisse benötigen, die den Hilfezwecken entsprechen, hat schon der 11. Kinder- und Jugendbericht (2002) betont. Zugleich hat er das Fehlen eines ausgearbeiteten, konsensuell anerkannten und praktizierten Begriffs von Diagnostik in der Jugendhilfe beklagt.1 Es gebe keine »in der Profession« für allgemein verbindlich gehaltene Diagnoseverfahren und Diagnosekriterien, die einen erkennbaren Unterschied »zu anderen Diagnosekonzepten (z. B. aus der klinischen oder therapeutischen Diagnostik)« (S. 254) machen würden. Seitdem haben die Auseinandersetzungen um und das Interesse an Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe deutlich zugenommen. Von einer Übersichtlichkeit oder gar Einheitlichkeit im Vorgehen und von umfassenden wissenschaftlich fundierten Konzepten ist die Jugendhilfe jedoch noch weit entfernt.
Inzwischen hat sich jedoch an vielen Stellen die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Bedarf an biopsychosozialen Hilfen für vulnerable Kinder, Jugendliche und deren Familien sich nur in interprofessioneller Kooperation fachgerecht abklären lässt. Diese Einsicht ist freilich noch keine Lösung. Sie wirft vielmehr eine Reihe von praktischen und theoretischen Fragen auf. Im Hinblick auf die psychotherapeutische Versorgung im Schnittfeld von Jugendhilfe und Gesundheitswesen werden solche Fragen seit vielen Jahren von der Kammer für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im Land Berlin diskutiert. Eine interdisziplinär zusammengesetzte »KJHG-Kommission« beispielsweise hat Fragen der Indikation, der Besonderheit und der Qualitätsanforderungen an Psychotherapie im Rahmen der Jugendhilfe bearbeitet und die Ergebnisse der Fachöffentlichkeit zur Verfügung gestellt.2 Eine als »Interdisziplinäres Colloquium« organisierte Veranstaltungsreihe hat die angemessene psychotherapeutische Versorgung insbesondere der als »hard to reach« bezeichneten Gruppe von Jugendlichen thematisiert. Zuletzt stand den Fachkräften verschiedenster Professionen in Berlin von 2009 bis 2011 ein Forum zur Verfügung, das den Blick über psychotherapeutische Hilfen hinaus auf die gesamte Palette der Hilfeleistungen im Kinder- und Jugendhilfebereich erweitert und zugleich den Akzent der Betrachtung auf Probleme der Diagnostik gelegt hat. In zweimonatlichem Rhythmus haben die Alice-Salomon-Hochschule, das Vivantes Klinikum Berlin-Hellersdorf und die Psychotherapeutenkammer Berlin zu einem »Jour Fixe Psychosoziale Diagnostik im Kinder- und Jugendhilfebereich« eingeladen, der von der Hochschule fachlich organisiert wurde. Die TeilnehmerInnen kamen aus den Berufsfeldern der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, der Psychologie und Psychotherapie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Der kollegiale Austausch über Disziplingrenzen hinweg galt folgenden Fragen: Welche Konzepte, Instrumente und Vorgehensweisen sind wann und wo in der Fallabklärung nützlich und sinnvoll? Welche Einrichtungen und Disziplinen sind daran beteiligt? Welche Begrifflichkeiten und fachlichen Perspektiven bestimmen den diagnostischen Prozess insgesamt und in seinen Teilen? Welche Ziele werden dabei verfolgt? Wer, welche Person, welche Disziplin, welche Institution übernimmt in diesem Prozess welche Verantwortung? Wie unterscheiden sich die diagnostischen Beiträge der beteiligten Professionen? Wie lassen sie sich aufeinander beziehen? Wie können sie im diagnostischen Prozess integriert werden? Wie lässt sich zur Erarbeitung psychosozialer Diagnosen in der Jugendhilfe die Kooperation der Disziplinen, Professionen und Institutionen organisieren und verstetigen? Kann die Kommunikation transdisziplinär optimiert werden? Ist in den Hilfeplanungsprozessen eine Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs und ein gemeinsames Fallverständnis möglich? Müssten nicht die Begrifflichkeiten und die diagnostischen Praktiken im Sinne der Zwecke der Jugendhilfe koordiniert sein?
Insgesamt bewerteten die teilnehmenden Fachkräfte die Möglichkeit, eine Reihe von diagnostischen Herangehensweisen kennenzulernen und interprofessionell besser nachvollziehen zu können, als fruchtbar. Als Vorteile von Diagnostik im interprofessionellen Diskurs betrachteten sie die reichhaltigeren Erklärungsmodelle für komplexe und »unverständliche« Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen, die dadurch zustande kommen, und den Abbau von Kooperationshemmnissen zwischen den Berufsständen, auch zwischen erkenntnistheoretisch unterschiedlichen »Herkünften«. Viele Fragen und Anliegen hat der Jour Fixe freilich offengelassen. Aber er hat zu weiterer Ausarbeitung und Umsetzung angeregt. Und er hat der interprofessionellen Diagnose- und Indikationspraxis der Kinder- und Jugendhilfe bei den TeilnehmerInnen zu ein wenig mehr Sicherheit im Feld...