2 Allgemeine Grundlagen und Ziele der Diagnostik in Grund- und Sonderschule
2.1 Überblick und Vorbemerkungen
Um die im ersten Kapitel genannten Fragen beantworten zu können, sind Grundkenntnisse der Diagnostik erforderlich. Wissen über Grundlagen und Prinzipien pädagogisch-psychologischer Diagnostik sowie die Vertrautheit mit diagnostischen Methoden und Verfahren bilden die Voraussetzung professionellen pädagogischdiagnostischen Handelns. Dabei ist Diagnostik traditionellerweise genuiner Bestandteil der Tätigkeit von Pädagoginnen und Pädagogen − etwa beim Bewerten schulischer Leistungen (vgl. Gage & Berliner, 1996). Auch als Adressaten von Aufträgen Dritter werden Lehrkräfte diagnostisch aktiv − so zur Ermittlung der Schulfähigkeit, der Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs (Zuordnung zu bestimmten Interventionen: besondere Kurse, Förder- oder Therapiemaßnahmen, oder Schulformen: Integrationsklasse, Regel- oder Sonderschule), der Ermittlung von Lernfortschritten oder von Entscheidungen hinsichtlich der Schullaufbahn. Um diesen Anforderungen genügen zu können, sind Lehrkräfte entsprechend zu qualifizieren.
Die Ausbildungsrealität spricht jedoch eine andere Sprache. Grund- und Sonderschullehrkräfte erhalten nur wenige und meist keine klaren Hilfen für ihre spätere Praxis. Gerade die Studierenden der Sonderpädagogik werden nicht darüber informiert, dass die Beantwortung etwa der Frage nach der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs eines Kindes zunächst ihre diagnostische Hauptaufgabe sein wird. Selbstverständlich gilt einschränkend anzumerken, dass dies zum einen von der Studienstätte, zum anderen von der gewählten Fachrichtung abhängt. Dennoch gilt, dass sich die diagnostische Ausbildung zu sehr auf die im Ablauf von Kretschmann und Arnold (1999) zweiten und dritten Schritte, die Begleitung von Therapie- und Lernfortschritten und deren Sicherung (Evaluation) richtet. Gerade bei den Lehrämtern für die Pädagogik der Lernförderung (Lernbehindertenpädagogik) und der Sprachbehinderten treten diese Probleme am massivsten auf. Hier ist die Beantwortung der Frage nach einem sonderpädagogischen Förderbedarf mit erheblich größeren Unsicherheiten verbunden als bei den Fachrichtungen, wo eine Beeinträchtigung oder Behinderung der Sinnesorgane oder des Bewegungsapparates offensichtlich ist.
In der Ausbildung der Sprachheilkräfte liegt beispielsweise das Hauptaugenmerk auf der Beantwortung der Frage nach den Leistungsfortschritten, wobei meist vermieden, ja nachgerade verteufelt wird, die Beobachtungen von Lern- und Leistungsentwicklungen zumindest durch standardisierte und normierte diagnostische Verfahren zu ergänzen. In der Folge sind Lehrkräfte unsicher über wesentliche Methoden und Verfahren der Diagnostik. Oft sind sie außerstande, Methoden wie Befragung, Beobachtung und Elizitationsverfahren voneinander abzugrenzen. Was Normen, was Gütekriterien sind, wird oft im Studium, auch dem der Sonderpädagogik nicht mehr thematisiert bzw. ist kein verbindlicher Ausbildungsinhalt. Die sich bei Durchführung und Auswertung von diagnostischen Untersuchungen sowie Interpretation der gewonnenen diagnostischen Informationen stellenden Fragen bleiben unbeantwortet. Dass Erkenntnisse über nicht beobachtbare Merkmale einer Person, wie Sprachverstehen oder Intelligenz, über den Umweg einer irgendwie gearteten indirekten Erfassung des Merkmals mithilfe diagnostischer Methoden und Verfahren gewonnen werden und dieser Umweg wissenschaftlich begründet sein muss, wird ebenfalls kaum thematisiert.
Abfolge und Vielfalt der diagnostischen Aufgaben – Ermittlung der Schulfähigkeit, Bestimmung des sonderpädagogischen Förderbedarfs, Ermittlung von Lernfortschritten, Empfehlungen zur Schullaufbahn und die Feststellung von Entwicklungsbesonderheiten – sollte den künftigen Lehrkräften deutlicher gemacht werden. Ebenso ist die Vermittlung von Kenntnissen über die Handhabung diagnostischer Verfahren, deren Durchführung und deren Interpretation der Ergebnisse in der Ausbildung stärker zu betonen. Nicht zuletzt sind diese Bereiche der Ausbildung zu supervidieren, was bislang leider kaum der Fall ist. Es fällt auf, dass bei der schulpraktischen Ausbildung die für die diagnostischen Aufgaben erforderlichen Inhalte in den Praktika fehlen (so z. B. in Baden-Württemberg, s. SPO I, 2003). Ebenso wie die Lehr- und Unterrichtstätigkeit, die durch eine Reihe von Praktika in einer gewissen Weise supervidiert wird, so wäre diese wichtige diagnostische Aufgabe der Lehrkräfte durch entsprechende praktische Begleitveranstaltungen zu betreuen. Vor jeglichem unterrichtlichem Handeln oder jeder Intervention steht nämlich die Diagnostik: „Die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen“, wie es in der Pädagogik immer beansprucht wird, impliziert, dass man erkennen kann, wo sie stehen. Nicht nur das unterrichtliche, sondern auch das diagnostische Erkennen und Handeln erfordert daher Praxis und Supervision. Die theoretische Vermittlung von Untersuchungsmethoden und -verfahren sowie ihrer Durchführung reicht in keiner Weise aus, um diese dann auch angemessen einsetzen und durchführen zu können. Auch ein Ratgeber wie dieser kann nur theoretische Grundlagen vermitteln und Hinweise zur Umsetzung liefern, eine angeleitete Praxis aber nicht ersetzen.
Die Autoren konnten in den letzten Jahren leider feststellen, dass in den sonderpädagogischen Fachrichtungen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, denen sie zugehören und in denen sie lehren, nämlich der Pädagogik der Lernförderung29 und der Sprachbehindertenpädagogik, die Studierenden ohne ausreichende diagnostische Grundkenntnisse ihre Prüfung in Diagnostik absolvieren müssen. Diese beinhaltet zwar die Anfertigung eines Gutachtens. Obligatorisch zu belegen und zu besuchen sind aber die erforderlichen diagnostischen Veranstaltungen nicht. Von den Studierenden wird laut Prüfungsordnung verlangt, „ein schriftliches Gutachten über ein vom Bewerber gefördertes Kind oder einen Jugendlichen“30 zu erstellen. Damit werden weder grundlegende Kenntnisse über Diagnostik, noch Kenntnisse über die vielfältigen diagnostischen Methoden und Verfahren verlangt. An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg wurden insbesondere im Bereich der Lernbehindertenpädagogik konsequenterweise viele Jahre keine normierten diagnostischen Verfahren gelehrt bzw. entsprechende Angebote, da nicht obligatorisch, nur von wenigen Studierenden wahrgenommen.
Mit Ausnahme von Intelligenztests, die gewissermaßen „routinemäßig“ angewendet werden, setzen die Lehrkräfte nach ihren Angaben nur wenige formelle Tests ein. Gegenüber informellen Tests sind sie gleichermaßen zurückhaltend. Damit korrespondiert, daß Lehrkräfte an Schulen für Lernbehinderte den höchsten diagnostischen Informationsgehalt in Eltern- und Lehrergesprächen, Lehrkräfte an Schulen für Geistigbehinderte in der Verhaltensbeobachtung und Lehrkräfte der Schulen für Erziehungshilfe in Elterngesprächen sehen.
Langfeldt (1998, S. 106)
Was ist notwendig? Zunächst ist eine Dokumentation der Ausgangssituation für die Erstellung eines Förderplans erforderlich.31 Dazu gehört in erster Linie die Ermittlung der relevanten (Leistungs-)Merkmale der zu fördernden Person. Methoden und Verfahren zur Ermittlung des Leistungsstandes und relevanter Persönlichkeitsmerkmale sind Befragung, Beobachtung und Elizitationstechniken. Bei letzteren lassen sich standardisierte und normierte Tests sowie informelle Verfahren unterscheiden. In vielen Merkmalsbereichen gestatten nur normierte Verfahren einen interindividuellen Vergleich, der für die meisten diagnostischen Fragestellungen, die in diesem Leitfaden behandelt werden, erforderlich ist. Auch bei vielen Fragestellungen der äußeren und inneren Differenzierung von Schülerinnen und Schülern mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten ist eine Feststellung der kognitiven Leistungsfähigkeit (Intelligenz) von hoher Relevanz – und dieses Merkmal Intelligenz kann nur durch ein entsprechend standardisiertes und normiertes Instrument erfasst werden.
Legasthenie
Eine Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) ist eine lang andauernde Störung des Erwerbs der Schriftsprache, von der etwa 5-7 % der Kinder eines Jahrgangs betroffen sind. Als Bedingungsfaktoren gelten eine genetische Disposition und insbesondere Funktionsdefizite bei der Verarbeitung auditiver Informationen (vor allem phonologische Informationen). Die Störung ist partiell und erwartungswidrig, d.h. eine generelle kognitive Leistungsminderung liegt nicht vor. Fehler bei der Gestaltung des Anfangsunterrichtes im Lesen und Schreiben sind nicht verursachend. Die Probleme können nur kompensiert werden; daher sind eine möglichst frühzeitige Erkennung und früh einsetzende Maßnahmen wichtig, denn je später eine Maßnahme ansetzt, desto geringer sind meist die Erfolge einer Kompensation.
Dyskalkulie
Eine Dyskalkulie ist eine Entwicklungsstörung des mathematischen Denkens. Wie die Legasthenie ist sie eine partielle, aber andauernde Minderleistung bei arithmetischen Basisleistungen. Insbesondere treten Probleme mit der Entwicklung des Zahlbegriffs, mit der Kardinalität von Zahlen und mit den Grundrechenarten auf.
Beispielsweise ist für eine sinnvolle Förderung die Differenzierung zwischen einer Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) und einer Lese-Rechtschreibschwierigkeit notwendig. Dies erfordert die Durchführung eines Intelligenztests. Während eine Lese-Rechtschreibschwierigkeit vielleicht durch eine unangemessene Methodik des Anfangsunterrichts oder aufgrund...