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Ebbe und Flut - Gezeiten des Eros

Psychoanalytische Gedanken und Fallstudien über die Liebe

AutorSylvia Zwettler-Otte
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl156 Seiten
ISBN9783170228108
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Liebe bedeutet, sich an andere Menschen, Ideen oder Dinge zu binden, aber auch, sich notfalls wieder auf sich zurückzuziehen. Beides kann befruchtend oder zerstörend wirken - wie Ebbe und Flut. Ausgehend von Freuds Triebdualismus der beiden Grundtriebe Eros und Todestrieb werden psychoanalytische Konzepte erörtert, die für das Verständnis dieser seelischen Vorgänge hilfreich sind. Drei Kapitel sind dem kämpfenden, dem verwundeten und dem gestärkten Eros gewidmet. Sie behandeln Kämpfe zwischen der Liebe und ihren Gegenspielern, individuelle psychische und somatische Notlösungen und Heilungsprozesse, die nach psychoanalytischen Behandlungen zur Entwicklung der Liebesfähigkeit führten. Beispiele aus der Praxis und der Literatur machen die seelischen Phänomene lebendig.

Dr. Sylvia Zwettler-Otte ist Psychoanalytikerin/Lehranalytikerin in freier Praxis in Wien. Von 2000 bis 2004 war sie Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Mehrere Buchpublikationen, darunter 'Die Melodie des Abschieds - Eine psychoanalytische Studie zur Trennungsangst'.

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Leseprobe

2 Der verwundete Eros – individuelle psychische und/oder somatische Notlösungen


Im ersten Teil war bereits an den antagonistischen Modellvorstellungen im Hinblick auf das Wesen und Wirken des Eros zu erkennen gewesen, dass er nicht immer Oberhand behält, wenn er auf seine Gegenspieler stößt. Eros, den Freud auch Lebens- oder Liebestrieb genannt hatte, ist nicht unveränderbar; er ist angreifbar und verwundbar. Und er reagiert auf Gegenströmungen, die seine Bindungsfähigkeit hemmen wollen, und auf Verletzungen, die er erleidet. Einige Beispiele, auf welche Notlösungen der verwundete Eros verfallen kann, sollen im Folgenden näher untersucht werden.

2.1 Progression und Regression


Eros repräsentiert die Vorstellung einer Kraft, die bindet: Körperlich verbindet sie zwei Lebewesen durch Sexualität, emotional durch Liebe und geistig durch Imagination. Bindung an jemanden hat zur Voraussetzung, dass dieser andere als ein getrenntes, eigenständiges Lebewesen wahrgenommen wird. Zu einer solchen Bindung gehört, dass daraus etwas Lebendiges und Neues entsteht (Abel-Hirsch 2001, 3f.).

Damit ist auch bereits die progressive Entwicklung von Beziehungen angedeutet. Sie verändern sich im günstigen Fall harmonisch, fügen dem Gewebe gemeinsamer Erfahrungen immer neue Fäden hinzu und entwerfen neue Bilder einer gemeinsamen Zukunft mit der Ausgestaltung gemeinsamer Wertvorstellungen, wobei Umformungen für eine Anpassung an die individuelle Realität und die der Umgebung sorgen. So könnte man sich z. B. vorstellen, dass eine ausreichend glückliche und gesunde Paarbeziehung mit leidenschaftlicher Verliebtheit beginnt, dass sie sich mit der Einrichtung eines gemeinsamen Lebens konsolidiert, dass sich durch eigene Kinder die Erfahrungen der Vergangenheit (der eigenen Kindheit) in der Gegenwart verdichten und ein imaginiertes Hinausgreifen über die eigene Lebensspanne die eigene Endlichkeit erträglicher macht. Eine solche natürliche Entwicklung hat wohl immer mehr in Idealvorstellungen als in der Realität existiert und hat vielleicht heute sogar schon Seltenheitswert. Aber sie ist immerhin so weit vorstellbar, dass man sich eine libidinöse Entwicklung vorstellen kann, die nach der infantilen Abhängigkeit von den Primärobjekten und der Individuation neue Liebesobjekte sucht, schließlich eines dauerhaft bevorzugt und mit diesem neue Liebe und neues Leben generiert. In einer solchen vereinfachten Skizze wird deutlich, dass Bindung entstehen und vergehen muss, um neue Bindung zu ermöglichen. Progression entsteht dann durch ein Weiterwachsen und eine Veränderung der Beziehung. Wird die Beziehung als unbefriedigend und unveränderbar erlebt, wird oft ein anderer Partner gesucht, mit dem eine Weiterentwicklung eher möglich erscheint.

Wie wichtig das Wahrnehmen und die Anpassung an die Veränderung von Bedürfnissen ist, zeigt sich auch in der Betreuung von Kindern: Sie brauchen vorübergehend intensive Zuwendung, aber „besondere Fürsorge wird lästig, wenn das Bedürfnis danach vorbei ist“ (Winnicott 1984, 299). Fehlende Aktualisierung behindert die Progression, was durch Unlustgefühle signalisiert wird. Werden die Signale nicht beachtet, steigern sich die Probleme, blockieren die Weiterentwicklung und drängen zurück in eine regressive Richtung.

Im seelischen Bereich sind geradlinigen Entwicklungen sehr selten. Die gegenläufige Bewegung der Regression spielt hier von Anfang an eine große Rolle, ganz anders als beim körperlichen Wachstumsprozess, bei dem frühere Entwicklungsstufen durch spätere ersetzt werden, wenn nicht schwere Krankheiten oder Verletzungen dazwischen treten. Knochen, die sich einmal entwickelt haben, bilden sich normalerweise nicht zur infantilen Gestalt zurück, physiologische und neurologische Funktionen bewahren ihr einmal erreichtes Niveau usw. Die organische Reifung ist ein Prozess, der erst durch die Involutionen des Alters wieder rückgängig gemacht wird. Auf diesen wichtigen Unterschied zwischen der physischen und der psychischen Seite hat Anna Freud nachdrücklich hingewiesen: Im Seelenleben werden „die progressiven Tendenzen ständig von nicht weniger wichtigen regressiven Gegenbewegungen begleitet und behindert“ (Freud 1963, 1998).

Dieses Schaukeln zwischen Progression und Regression hält offensichtlich auch über die kindliche Sexualentwicklung hinaus an; letztere ist bekanntlich durch die Abfolge verschiedener Phasen charakterisiert, die nach den Leitzonen benannt werden, welche dem Kind jeweils größte autoerotische Lust gewährt:

  • die orale Phase,
  • die anale Phase und
  • die phallische Phase.

In diesen Phasen lässt sich die Mischung libidinöser mit aggressiven Trieben deutlich erkennen: Beißen in der oralen Phase, trotzige, besitzergreifende und zerstörerische Aktionen in der analen Phase und konkurrierendes, exhibitionistisches Verhalten in der phallisch-genitalen Phase. Aber anders als bei der organischen Entwicklung werden hier die Zwischenstufen nicht völlig überwunden, und ein Teil der Triebenergie macht die Vorwärtsbewegung nicht mit, sondern bleibt auf den durchlaufenen Stationen zurück, und keine wird jemals wirklich verlassen. Sie bleiben gerade in Zeiten von Schwierigkeiten und Frustrationen attraktiv, binden libidinöse Energie an sich und halten sie fest, sie werden „Fixierungspunkte“. Es ist nicht schwierig, die Rückkehr zu alten Stationen auch bei fortgeschrittenem Alter wiederzuerkennen, wenn etwa der orale Genuss des Essens oder Rauchens oder von Besitzgier getriebene materielle Erwerbungen bei weitem und andauernd jede andere Form von Lust überflügeln, die weniger autoerotisch wäre und eine intime Beziehung zu einem anderen Menschen zur Voraussetzung hätte.

Die normale libidinöse Entwicklung geht also abwechselnd mit progressiven und regressiven Schüben vor sich und schreitet vorwärts und wieder rückwärts. Freud schrieb in seiner in diesem Zusammenhang so wichtigen Arbeit „Jenseits des Lustprinzips“: „Es ist wie ein Zauderrhythmus im Leben der Organismen, die eine Triebgruppe stürmt nach vorwärts, um das Endziel des Lebens möglichst bald zu erreichen, die andere schnellt an einer gewissen Stelle des Weges zurück, um ihn von einem bestimmten Punkt an nochmals zu machen und so die Dauer des Weges zu verlängern“ (Freud 1920, 43).

Wir finden diese beiden entgegengesetzten Tendenzen auch bei vielen Patienten: Die eine strebt einer reifere Libidoposition zu, die andere schreckt zurück und setzt bei einer früheren Position wieder von neuem an (vgl. Zwettler-Otte über den „Wolfsmann“ 2008, 257ff.).

Letztlich aber siegt in einer gesunden Entwicklung das „Voranschreiten“, was der Bedeutung des Wortes „Progression“ entspricht und die geistige, seelische und körperliche Entfaltung des Individuums umfasst. Die emotionale Reife gehört also zur gesunden, kontinuierlichen Entwicklung und wird durch einen biologischen Drang vorangetrieben.

„Regression“ bedeutet in der psychoanalytischen Theorie entsprechend dem wörtlichen Sinn ein „Zurückgehen“ zu bereits früher erreichten Punkten der Entwicklung, so etwa zu früheren libidinösen Stufen, Objektbeziehungen, Identifizierungen usw. Winnicott verweist auf den Umstand, dass Regression immer damit zusammenhängt, dass ein Chaos droht und ein Schritt zurück durch die Erwartung gerechtfertigt erscheint, dass später günstigere Bedingungen für eine Weiterentwicklung eintreten würden. Dabei sieht er ein Versagen der Umwelt als Haupthindernis der Progression; es ist für das Individuum normal und gesund, „in der Lage zu sein, das Selbst gegen spezifisches Umweltversagen durch ein Einfrieren der verfehlten Situation zu verteidigen. Damit geht eine unbewusste Annahme beim Patienten (die zu einer bewussten Hoffnung werden kann) einher, dass es zu einem späteren Zeitpunkt Gelegenheit für eine erneute Erfahrung geben wird, in der die verfehlte Situation wieder aufgetaut und noch einmal erlebt werden kann, wobei sich das Individuum in einem Zustand der Regression und in einer Umwelt befindet, die sich angemessen anpasst“ (Winnicott 1983, 187f.).

Dem wäre aus meiner Sicht hinzuzufügen, dass Regression keineswegs immer nur ein Warten auf bessere Umweltbedingungen bedeutet, sondern oft auch ein Warten auf eine eigene Weiterentwicklung, durch die man unter Umständen weniger abhängig von der Umwelt wird. Man könnte vielleicht sogar von der unbewussten Erwartung einer eigenen Entwicklung sprechen, eine Erwartung, die bald auch vorbewussten und bewussten Vorstellungen den Weg ebnet zu einer autoplastischen Veränderung und Anpassung an die realen Gegebenheiten. Ich denke, auch der Lebenstrieb tut oft leise sein Werk und treibt eine Progression unauffällig voran.

Auf eine sehr subtile Schilderung eines solchen unbewussten und unbeeinflussbaren Prozesses habe ich andernorts aufmerksam gemacht: Arthur Schnitzler beschreibt in seiner Erzählung „Sterben“, wie die Geliebte eines todkranken jungen Mannes den Todgeweihten aufopfernd pflegt und sich eine Zeitlang jeden Spaziergang untersagt. „‚Aber was sie sich zunächst noch unter schweren Selbstvorwürfen verbietet, gelingt wenige Tage später, ohne inneren Kampf, so selbstverständlich, als geschähe es täglich‘. [Schnitzler 1915, 149] Der innere Kampf wird lediglich mit einer Verneinung (‚ohne‘) erwähnt, und er ist tatsächlich unter der Oberfläche des Bewusstseins, also unbewusst abgelaufen, so wie auch ein Bach weite Strecken unter der Erde fließen kann“ (Zwettler-Otte 2006, 136). Von dem intensiven inneren Geschehen...

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