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E-Book

Frühpädagogik

Erziehung und Bildung kleiner Kinder - Ein dialogischer Ansatz

AutorLudwig Liegle
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl172 Seiten
ISBN9783170240322
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Der Ausbau der öffentlichen Kleinkind- und Vorschulerziehung hat derzeit Hochkonjunktur. Vor allem Studierenden, aber auch schon in der Praxis tätigen Fachkräften bietet dieser Band Orientierungswissen zu grundlegenden Fragen der Frühpädagogik und klärt gleichzeitig die hier verwendeten Grundbegriffe. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei ein dialogischer Ansatz: Betreuung, Erziehung und Bildung werden aufgefasst als Aspekte eines kommunikativen Geschehens, das von den Eltern bzw. Fachkräften und den Kindern in ihren wechselseitigen Beziehungen und dem gemeinsamen Bezug auf Welten der Bildung hervorgebracht und gestaltet wird. Dieser Ansatz wird an ausgewählten Beispielen als Grundlage einer dialogisch orientierten beziehungspädagogischen Praxis in Familien und in Tageseinrichtungen für Kinder vorgestellt. Von überschaubarem Umfang fügt der Band Grundbegriffe, pädagogische Ansätze und schließlich das pädagogische Geschehen zu einem stimmigen Gesamtbild und bietet so einen kleinen Grundriss der Frühpädagogik.

Ludwig Liegle war Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen.

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Leseprobe

1

Kindheit zwischen biologischer und kultureller Evolution: Die „kulturelle Natur“ der menschlichen Entwicklung


Wir alle sind Kinder gewesen und können über unsere Kindheit nachdenken und erzählen. Kinder und Kindheiten erscheinen deshalb zunächst einmal als selbstverständliche Gegebenheiten. Spätestens dann jedoch, wenn beispielsweise Großeltern oder ausländische Gäste von ihrer Kindheit erzählen, werden wir gewahr: Zwar waren alle Erwachsene zunächst einmal Kinder, aber ihre Kindheiten weisen unter einander sowie im Vergleich zu unserer Kindheit viele Unterschiede auf. Für das Nachdenken über die eigene Kindheit ergibt sich daraus die Einsicht: Wären wir in einem anderen Land oder in einer anderen Geschichtsepoche geboren worden und aufgewachsen, so hätten wir eine andere Kindheit erfahren und hätten uns beispielsweise eine andere Muttersprache angeeignet; wir wären zu anderen Kindern und zu anderen erwachsenen Personen geworden; wir würden unsere Kindheit „anders“ wahrnehmen und – als Eltern ebenso wie als Kindheitspädagogen – die Beziehungen zu Kindern anders gestalten.

In seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ hat Goethe die genannte Einsicht in dem Satz zusammengefasst: „Ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“

Ein Kind sollte demnach nicht nur als eine Person in einer biologisch bestimmten Lebensphase, sondern immer auch als ein Kind seiner Zeit sowie einer bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Umwelt verstanden werden. In dieser historisch-kulturellen Perspektive erscheint, wie der Satz von Goethe zeigt, auch die „eigene Bildung“ einer Person – ihre Individualität, ihre Identität, ihr „Selbst“ – nicht etwa nur als Ausdruck biologisch bestimmter Anlagen und Reifungsprozesse, sondern auch als das (vorläufige) Ergebnis eines Beziehungsgeschehens, das den gesamten Lebenslauf begleitet. Dieses soziale Geschehen werden wir in Kapitel 2 im Lichte der (früh-)pädagogischen Grundbegriffe genauer beschreiben. Dabei wird deutlich werden: Die Erfahrung und Gestaltung von sozialen Beziehungen tragen entscheidend dazu bei, dass und wie wir die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Anlage und Umwelt, Natur und Kultur sowie Individuum und Gesellschaft in unseren Lebenslauf und in unsere Persönlichkeitsentwicklung integrieren können.

1.1 Kindheit – ein Ergebnis der biologischen Evolution


Im Prozess der biologischen Evolution ist es bei den hoch entwickelten Säugetieren bzw. Nesthockern zur Ausbildung einer nachgeburtlichen Lebens- und Lernphase unterschiedlicher Dauer gekommen; deren Funktion liegt darin, den Nachwuchs vermittels verschiedener Formen der Tätigkeit und Erfahrung (z. B. Nachahmung, Spielen, Üben) zu jener Handlungsfähigkeit gelangen zu lassen, die zum Überleben in der je spezifischen Umwelt erforderlich ist. Allgemein kann man sagen: Je weniger angeborene Eigenschaften und Verhaltensweisen ausreichen, um Anpassung an und Handlungsfähigkeit in der jeweiligen Umwelt zu gewährleisten, und je komplexer diese Umwelt organisiert ist, desto mehr nimmt die Bedeutung einer nachgeburtlichen Lernphase zu. Beim Menschen vollzieht sich die Entwicklung seines komplexen Gehirns, wie die einschlägige Forschung belegt, nicht nur als ein Reifungsprozess, sondern auch in Abhängigkeit von sozialen (bzw. transaktionalen) Erfahrungen. Ein gutes Beispiel dafür bietet der Spracherwerb: Jedes Kind ist gattungsgeschichtlich dazu befähigt, Sprache zu entwickeln; diese Entwicklung kommt aber nur unter der Voraussetzung zustande, dass das Kind in einer sprachlich geprägten Umwelt aufwächst. Allgemeiner gesagt: In der menschlichen Entwicklung (ansatzweise gilt das für alle Primaten) wirken immer zwei Prozesse zusammen: Prozesse des Erbens (Weitergabe von Genen von Generation zu Generation) und Prozesse des Erwerbens (kulturelle Weitergabe vermittels von Lernprozessen). Deshalb ist es gerechtfertigt, von der „kulturellen Natur“ der menschlichen Entwicklung zu sprechen (Rogoff 2003). Erst intensive und auf Dauer angelegte Lernprozesse machen es möglich, dass, wie beim Menschen, Fähigkeiten und Wissen von Generation zu Generation weitergegeben werden können und im Rahmen dieser Weitergabe auch Neues im Sinne eines „kulturellen Wagenhebereffekts“ (Tomasello 2002, 49ff.) entstehen kann. Beim Menschen hat die Lebensphase Kindheit demzufolge sowohl einen biologischen als auch einen kulturellen Aspekt: „Ebenso wie sie Gene erben, die sich in der Vergangenheit angepasst haben, erben Individuen auf kulturellem Wege Artefakte und Vorgehensweisen, die die gesammelte Weisheit ihrer Vorfahren beinhalten“ (Tomasello 2010, S. 10).

1.2 Von der biologischen zur kulturellen Evolution: Institutionalisierung der Erziehung


Wenn Kindheit einerseits in biologischer Betrachtung als Ergebnis der biologischen Evolution beschrieben werden kann, so ist andererseits zu fragen, ob sich auch der kulturelle Aspekt der Kindheit in der Perspektive eines evolutionären Prozesses beschreiben lässt. Dies würde bedeuten, die bislang vorgetragene Argumentation weiterzuführen und zuzuspitzen: Kindheit würde damit gekennzeichnet als Ergebnis nicht nur der biologischen, sondern auch der kulturellen Evolution. Damit käme der ursprünglich von Darwin geprägte, biologische Evolutionsbegriff in einem übertragenen Sinn zur Anwendung. Mit dem Begriff der kulturellen Evolution würde man – parallel zum Darwinschen Konzept der biologischen Evolution – die langfristige Entwicklung von Kulturen darauf hin untersuchen, welche durchgängigen Mechanismen, Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten sich in diesem kulturellen Evolutionsprozess ausmachen lassen; Mechanismen der Variation und Selektion beispielsweise, deren Wirksamkeit Darwin in Prozess der biologischen Evolution entdeckt hat.

In der Tat werden in verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen Konzepte der kulturellen Evolution erprobt. So hat der amerikanische Soziologe T. Parsons die Etablierung staatlicher Pflichtschulsysteme als „evolutionäre Universalie“ bezeichnet (Parsons 1964/1970). Das hinter dieser These stehende Argument könnte man wie folgt wiedergeben: Pflichtschulsysteme sind soziale Institutionen, die sich im Durchgang durch Variation und Selektion in der Abfolge von Generationen in komplexen Gesellschaften entwickelt, bewährt und erhalten und sodann, im Verlaufe der Zeit, eine immer stärkere, tendenziell weltweite („universale“) Verbreitung gefunden haben; und dies aufgrund der Erfahrung, dass Gesellschaften, welche Pflichtschulsysteme eingeführt haben, in ihrer Anpassung an komplexe Umwelten besser abschneiden als Gesellschaften, welche diese soziale Institution nicht geschaffen haben. Ein vergleichbarer Ansatz ist aus der Politikwissenschaft hervorgegangen: Der „Neoinstitutionalismus“ untersucht Gesetzmäßigkeiten in der Herausbildung eines „Weltsystems“ von Formen der Institutionalisierung in modernen Gesellschaften, und zwar insbesondere an den Beispielen des Nationalstaatsprinzips und der Pflichtschulsysteme (Krücken/Drori 2009). Aufgrund von Vergleichsstudien über die frühen nachgeburtlichen Entwicklungspfade von Menschen- und Schimpansenkindern im Rahmen der „evolutionären Anthropologie“ geht Tomasello noch einen Schritt weiter, indem er von einem wechselseitigen Zusammenhang zwischen biologischer und kultureller Evolution ausgeht. Dieser innovative Forschungsansatz führt zu dem Konzept der „Koevolution von menschlicher Biologie und Kultur“ (Tomasello 2010, S. 45). Auch bei Tomasello wird, wie bei den zuvor genannten Ansätzen, die Schaffung sozialer Institutionen als eine Besonderheit der menschlichen Kultur beschrieben; eine Besonderheit, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, auch zur Kennzeichnung kultureller Entwicklungsprozesse den Evolutionsbegriff zu verwenden.

Anhand zahlreicher Untersuchungen zur Geschichte der Erziehung und der Kindheit lassen sich Belege für die Fruchtbarkeit des Konzepts der kulturellen Evolution finden. So hat z. B. Aries (1975), die „Entdeckung“ und „Verschulung“ (scolarization) der Kindheit als Begleiterscheinungen der Entwicklung „moderner“ Gesellschaften beschrieben. In der Perspektive des Konzepts der kulturellen Evolution kann man die Befunde von Aries wie folgt interpretieren: Durch die Institutionalisierung der Erziehung unterstützt und nutzt der moderne Nationalstaat die allgemeine Lernfähigkeit und Bildsamkeit des menschlichen Nachwuchses mit dem Ziel, gesellschaftlich nützliches Wissen und Können vermittels organisierter Lernprozesse in der Generationenfolge zu bewahren bzw. zu vermehren. Die Institutionalisierung der Erziehung setzt in einer Phase der kulturellen Evolution ein, die durch immer komplexere Formen der Arbeitsteilung in der Gesellschaft sowie durch die Erfindung neuer Medien der Weitergabe von Kultur (z. B. Buchdruck) gekennzeichnet ist (Treml 2000). Die Institutionalisierung der Erziehung befördert die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften an komplexe Umweltbedingungen; diese Erfahrung hat die modernen Nationalstaaten dazu veranlasst, Institutionen der Erziehung zu schaffen.

Die Institutionalisierung der Erziehung in Gestalt von Pflichtschulsystemen hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in engem Zusammenhang mit Prozessen der Industrialisierung und der Nationalstaatenbildung weltweite Verbreitung gefunden. So konnte beispielsweise Adick (1992) ihre These von der „Universalisierung“ der Schule auch am Beispiel westafrikanischer Gesellschaften belegen, die im 19. Jahrhundert – ohne unmittelbaren Druck von Kolonialmächten –...

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