2 Grundlinien der Entwicklung der kirchlichen Friedens lehre im „kurzen 20. Jahrhundert“
Die kirchliche Friedensverkündigung am Beginn des 20. Jahrhundert ruht auf den friedensethischen Überlegungen, die im Laufe der Kirchengeschichte entwickelt worden sind. In diesem Prozess sind eine Reihe von wichtigen Einsichten gewonnen worden. Diese bilden aber noch kein systematisches Ganzes.
Die friedensethische Diskussion der Kirche beginnt mit dem lebenspraktischen, anfänglich individualethischen Problem der Frühchristen, wie man sich zum Soldatendienst zu stellen habe.1 Die Frage nach der Zulässigkeit und konkreten Ausgestaltung des Soldatendienstes hat die kirchliche Reflektion bis heute begleitet.2 Aus der Kernfrage, wie mit der Spannung umzugehen sei, die sich aus der für den Schutz der friedensbewahrenden staatlichen Ordnung erforderlichen Gewaltanwendung und dem Gebot der Gewaltlosigkeit ergibt, entsteht, inspiriert von Augustinus, die Lehre vom „gerechten Krieg“.3 Diese Lehre, später von Thomas von Aquin systematisiert, wird in der Geschichte der Kirche in je nach historischer Problemstellung verschiedener Weise zu einer der wesentlichen, wiewohl keineswegs unangefochtenen Grundlinien der kirchlichen, aber auch der außerkirchlichen Friedensreflexion.4
Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ wurde zu einem wichtigen Erbe der scholastischen Theologie an das Völkerrecht der Neuzeit. Aber sie wurde damit zugleich fundamentalen Wandlungen unterworfen. Vor allem wird dem bisher vorherrschenden Kriterium, dass der ‚gerechte Krieg‘ der Bestrafung der Schuldigen diene […] allmählich die Basis entzogen. Das Gewicht verlagert sich von der Gerechtigkeit der strittigen Sache mehr und mehr auf die Legitimation der Kriegführenden hin.5
Im Laufe der Geschichte entwickelt sich zunehmend die Tendenz, die eigentlich auf Gewalteindämmung zielende Bellum-justum-Lehre für Gewaltlegitimation in Dienst zu nehmen und damit zu missbrauchen. Insbesondere im 20. Jahrhundert, in dem sich das Problem der Gewaltlegitimation angesichts der bis dahin ungekannten Möglichkeiten der Gewaltausübung in neuer Weise zuspitzt, führt dies zu einer merklichen Infragestellung dieser Lehre.
Es ist charakteristisch für die kirchliche Friedensverkündigung am Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sie aus ihrer tendenziell kasuistischen, nicht zuletzt der neoscholastischen Denkbewegung geschuldeten Struktur heraus primär auf staatliches Handeln sowie die damit verbundenen sittlichen Entscheidungssituationen fokussiert ist, in die sich insbesondere Soldaten und Politiker gestellt sehen. Diese Engführung wird erst im Laufe des 20. Jahrhunderts überwunden.
Die Friedenslehre der Kirche entwickelt sich im 20. Jahrhundert in der praktisch-politischen Auseinandersetzung mit den Themenfeldern: Krieg, Frieden, Gewaltanwendung und Versöhnung. Dabei stellen die beiden Weltkriege, die atomare Vernichtungsdrohung, die internationale Soziale Frage sowie die mit dem Wandel 1989/90 einhergehenden Herausforderungen wesentliche Impulse dar, aus denen sich die Friedenslehre entwickelt.
In diesen Auseinandersetzungen greifen die Päpste neben den Traditionen der Friedensverkündigung auch auf wichtige Einsichten zurück, die bei der Entwicklung der katholischen Soziallehre gewonnen worden sind. Neben den konkreten Einsichten dieser Denkbewegung wird die Denkbewegung der Soziallehre selbst zu einem Teil des Selbstverständnisses kirchlichen Friedenshandelns.
Für das lange 19. Jahrhundert war je länger desto stärker die soziale Frage die entscheidende Herausforderung der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Veröffentlichung der Enzyklika „Rerum Novarum“ 1891 systematisierte die in der vielfältigen sozialpolitischen Praxis der Kirche in Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Zeit entwickelten Einsichten. Sie leistete damit einen wesentlichen Beitrag zur praktischen Antwort auf die mit der sozialen Frage verbundenen Probleme.6 Grundsätzlich zeichnet sich die Soziallehre zu diesem Zeitpunkt durch eine bemerkenswerte Ambivalenz aus. Sie ist von ihren Anfängen her vom neoscholastischen Versuch der Abwehr der mit der Moderne und speziell der Industrialisierung einhergehenden zivilisatorischen Erschütterungen geprägt. In dem Versuch, eine an den Leiden der Zeit Anteil nehmende Antwort zu formulieren, ist die Soziallehre ihrem Wesen nach aber zugleich selbst hoch modern. Diese inhärente Spannung kommt in der Entwicklung der Soziallehre zum Austrag und trägt im Laufe der Zeit nicht unwesentlich zur Überschreitung des neoscholastischen Antworthorizonts bei.
Dieser ideengeschichtliche Vorgang ist bezeichnend für den Charakter der Soziallehre und als einer Spezialform derselben ebenso für die Friedenslehre.7 Denn, wie einer der für die Soziallehre des 20. Jahrhunderts wesentlichen Impulsgeber, Oswald von Nell-Breuning, es formulierte,
die Soziallehre besteht nicht so sehr aus überzeitlich und überörtlich geltenden sogenannten ‚ewigen‘ Wahrheiten, sondern wendet diese Wahrheiten auf die nach Zeit und Ort verschiedenen, ständigem Wechsel unterliegenden Verhältnisse an. […] Alles in allem: die Soziallehre der Kirche entsteht nicht als ein ‚wissenschaftliches System‘, das ein systematisch denkender Kopf ausdenkt und in einem alles umfassenden, nichts auslassenden Lehrbuch niederlegt; sie ist auch kein Nachschlagewerk oder gar eine Datenbank, worin alles gespeichert ist und durch Knopfdruck ‚abgerufen‘ werden kann. Die Soziallehre der Kirche erwächst geschichtlich aus dem, was das gesellschaftliche Leben an Fragen, insbesondere an Streitfragen aufwirft, und was es an Nöten und Ungerechtigkeiten erzeugt. Wie die Kirche selbst, so ist auch ihre Soziallehre kein ‚System‘, sondern gehört dem Bereich des Tatsächlichen, des Geschichtlichen, des praktischen Lebens an.8
Diese Grundbewegung der systematischen Durchdringung der jeweiligen zeitgenössischen Problemstellungen, die sowohl auf der Grundlage kirchlicher gesellschaftlicher Praxis beruht, als auch auf deren Orientierung und Profilierung zielt, ist für die Entwicklung der kirchlichen Friedenslehre bezeichnend und prägend. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht in diesem Zusammenhang davon, die „Zeichen der Zeit“ zu deuten. Es hilft beim Verständnis der Lehre, die jeweiligen zeitgenössischen Problemstellungen in den Blick zu nehmen, mit denen sich die Kirche auseinandergesetzt hat und entlang derer die Lehre weiterentwickelt worden ist. Neben den Inhalten unterliegen auch die Formen dieser Auseinandersetzungen einem Wandel.
Die katholische Friedens- und Soziallehre lassen sich als ein auf lange Sicht angelegter Lernprozess beschreiben, in dem gewonnene Einsichten und gebildete Strukturen überprüft, aktualisiert und vertieft oder als nicht mehr zeitgemäß verworfen werden. Dieser Prozess bringt mit beachtlicher Kontinuität Neues hervor. Die katholische Wertschätzung für Tradition erweist sich in diesem Zusammenhang als hilfreiches kritisches Gedächtnis. Die konkrete Wahrnehmung von Problemen und Konflikten wird dabei erheblich durch diese Traditionen geprägt, gefördert, zuweilen aber auch behindert. Die kirchlichen Verlautbarungen zum Friedensproblem weisen in diesem Zusammenhang eine für ihr Verständnis wesentliche Doppelstruktur auf. Sie sind sowohl systematisierende Sicherung von Erfahrungen und Einsichten der kirchlichen Praxis und Reflektion als auch zugleich friedenspolitischer Akt im Sinne eines auf politische und gesellschaftliche Veränderung zielenden Diskursbeitrags. Zu einem späteren Zeitpunkt dieser Untersuchung werden genau diese systemischen Wechselwirkungen am teilkirchlichen Beispiel der Deutschen Kommission Justitia et Pax in den Blick kommen.
2.1 Die Entwicklung der päpstlichen Friedenslehre
Den Aussagen der Päpste und des Konzils kommt für die Entwicklung der Friedensverkündigung der Kirche eine zentrale Funktion zu. Sie sind Maßstab und Richtungsangabe9, die auch in den teilkirchlichen Zusammenhängen nicht vernachlässigt werden dürfen. Von daher beginnt diese Untersuchung damit, die Entwicklung der päpstlichen Friedenslehre im kurzen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen.10
2.1.1 Benedikt XV. (1914 – 1922)
Papst Benedikt XV. tritt sein Amt zu Beginn des I. Weltkriegs an. Die Auseinandersetzungen um den Krieg sind das bestimmende Thema seines Pontifikats. Er versteht diesen Krieg von Beginn an als Resultat des Abfalls von den christlichen Lehren und entwickelt eine beachtliche – wenngleich letztlich wenig erfolgreiche – friedenspolitische Praxis. Als charakteristischer Ausdruck dieses Engagements kann seine Friedensnote vom 1. August 1917 „Dès le début“ gelten, in der er sofortige Friedensverhandlungen anregte, den Verzicht auf Gebietsabtretungen, Abrüstung sowie die Errichtung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zur Vermeidung von Kriegen forderte.11 Trotz dieser aus einer Position der Neutralität agierenden friedenspolitischen Praxis wird der Heilige Stuhl aufgrund einer italienischen Intervention, die das offene Kirchenstaatsproblem monierte, nicht zu den Verhandlungen in Versailles zugelassen.12
Pfingsten 1920 veröffentlicht Benedikt XV. mit „Pacem, Dei munus pulcherrimum“13 die erste Enzyklika der Kirchengeschichte, die sich zentral und ausführlich mit dem Themenfeld Frieden befasst.14 Dabei zeigt sich, dass der Papst sein friedenspolitisches Engagement keineswegs nur als einen dem Ausnahmezustand des Krieges geschuldeten Einsatz versteht. Der Leitgedanke der Enzyklika ist die von dem Gebot der Feindesliebe abgeleitete Aufforderung zur...