Das war die religiöse Bildung
Eine Einleitung
Viele lieben Papst Franziskus. Zu viele lieben Papst Franziskus. Ich liebe Papst Franziskus nicht. Doch eines nötigt mir Respekt ab: Für moderne katholische Verhältnisse hat der Argentinier ungewöhnlich viel Charakter. Diese combinazione von jesuitischer Schläue mit pinocchiohaftem Komödiantentum macht ihm keiner nach.
Dass alle Medien dieser Welt ihn so sehr lieben, ist allerdings nicht sein eigenes Verdienst. Das liegt am Niedergang der religiösen Bildung. Wo ist dieser Niedergang schlimmer? Bei den Katholiken oder bei den Antiklerikalen? Wohl doch bei den Katholiken. Sie wenigstens müssten doch Pascal gelesen haben. Den grossen Mathematiker und katholischen Satiriker. In seinen »Provinciales« hat er, lange vor unserer Zeit, jene liebevolle, barmherzige Anbiederung an die vielen gegeisselt, mit der die Jesuiten seines Jahrhunderts alle ihre Gegner, die Freigeister ebenso wie die Katholiken, ähnlich übertölpelt haben wie jetzt Papst Franziskus die mit ihm in der Welt umherfliegenden Journalisten.
So hoch hinauf, bis hinauf zu Blaise Pascal, bis nach den klassischen Sternen katholischer Intellektualität, will dieses Buch aber gar nicht greifen. Wir sind ja, nach der jüdischen Einsicht von Karl Kraus, »Insassen einer Zeit, welche die Fähigkeit verloren hat, Nachwelt zu sein« (18. Stück). Diese Fähigkeit, Nachwelt zu sein, heisst auch Bildung.
Religiöse Bildung. Ihren Verlust halte ich für schlimmer als das vielbeklagte Schwinden von Dogma und Moral. Ist doch gute Religion so etwas wie das Gedächtnis der Menschheit. Dieses Gedächtnis nur ein bisschen wiederherzustellen, in kleinen, elementaren, homöopathisch verabreichten, leicht verdaulichen Dosen, hier genannt Stücken, das ist die bescheidene Absicht dieses Buches. Mehr Ehrgeiz wäre im 21. Jahrhundert Vermessenheit.
Aber was rede ich so katholisch daher? Eigentliche Hüterin der religiösen Bildung war, zumindest in Deutschland, die evangelische Geistlichkeit. Was ist davon geblieben?
»Alle Jahre wieder kommt ein Luther-Jahr«. So singen in deutschen Kindergärten gewiss schon die Kleinsten. Jedenfalls stelle ich als Schweizer mir das so vor. Zur Diversifizierung des spätevangelischen Monokults um den Titanen aus Wittenberg liefert dieses Buch, in ökumenischer Geschwisterlichkeit, gleich vier Steilvorlagen.
Allen voran Ulrich Zwingli. Luther hat das Gespräch mit ihm in Marburg abgebrochen mit dem Verdammungswort: »Ihr Schweizer habt einen anderen Geist.« In jener Zeit hiess das: »Euer Geist ist vom Teufel.« Wenn aber Zwinglis Geist vom Teufel war, dann ist der Teufel vielleicht doch die Verkörperung des gesunden religiösen Menschenverstands (5. Stück). Luthers Versuch, das katholische Dogma von der realen Gegenwart Christi im Altarssakrament evangelisch korrekt umzuformatieren, hat Zwingli nichts anderes entgegengesetzt als den einen elementaren, zu Unrecht vergessenen Satz: »Was nicht nach Fleisch schmeckt, ist kein Fleisch.«
Nicht nur der Teufel allein, die ganze Hölle wäre in Marburg losgewesen, wenn Luther es nicht mit dem Zürcher, sondern mit dem Genfer zu tun bekommen hätte. Jean Calvin! Von ihm stammt die Aussage, dass Gott »de façon inexplicable« den einen Menschen Gutes tut, den andern Böses (23. Stück). Das ist kein Satz, mit dem man so weltbeliebt werden kann wie Papst Franziskus mit seiner »misericordia« für alle. Aber es ist ein Satz, der die reale Lebens- und Gotteserfahrung der meisten von uns – Christen und Nichtchristen – in ihrer realen Unerklärbarkeit ehrlich ausspricht.
Jetzt noch, Margot Kässmann zur Auflockerung des Monokults um Luther besonders lebhaft empfohlen, Calvins Freund John Knox, der Reformator Schottlands und Gender-Theologe vor der Zeit. Ein unsympathischer Charakter, gewiss. Aber braucht denn ein Charakter sympathisch zu sein? In seiner schottischen Eigenwilligkeit hatte John Knox Charakter genug, nicht den Streit zu scheuen mit der gefährlichsten Zensurbehörde der Welt: mit dem gesamten weiblichen Geschlecht (20. Stück).
Oder, falls ein Lutheraner besser ins Lutherjahr passt als ein Kalvinist, sei’s der Lutheraner Sören Kierkegaard (3. Stück). Wie ein winziges Torpedo sich in einen gewaltigen Schlachtkreuzer bohrt, so hat dieser dänische Theologe, in seiner evangelischen Charakterstärke, jenes Staatskirchentum angegriffen, das heute noch in unserer Kirchensteuerkirche fortlebt. Von ihm stammt die Definition, Christentum sei das Gegenteil von Spiessertum, Inbegriff des Spiessers aber sei der verheiratete evangelische Pfarrer.
Zwingli, Calvin, John Knox und Sören Kierkegaard: vier evangelische Charaktere, beinahe so archetypisch verschieden wie die vier Evangelisten. Mit ihnen könnte in die seichte Konformität der evangelischen Kirchentage schon fast soviel charakterliche Stärke und Vielfalt einziehen wie in den katholischen Heiligenhimmel.
Das ist es ja, Max Weber zufolge, was Kirche von Sekte unterscheidet. In einer Sekte ziehen nicht nur alle am gleichen Strang, sie sind auch alle gleich. In einer Kirche herrscht – herrschte jedenfalls in klassischen Zeiten – eine Vielfalt widersprüchlicher Charaktere.
Das heisst nicht, dass in einer Kirche der Kampf aller gegen alle losgehen muss wie einst im Grossen Armutsstreit zwischen linken und rechten Franziskanern (22. Stück). Oder dass die Auseinandersetzung zwischen zwei inkongruenten Charakteren der Kirche so zum Verhängnis werden muss wie der Streit zwischen Papst Leo X, einem italienischen Genussmenschen, und Martin Luther, einem deutschen Wahrheitsapostel (5. Stück). Zwei so grundverschiedene Charaktere wie der heilige Thomas Morus und der Spötter Erasmus waren einander in tiefer Freundschaft verbunden (7. Stück). Mit dem »Lob der Torheit« haben sie zusammen ein Werk der christlichen Satire geschaffen, das sogar Pascals »Provinciales« an intellektueller Schärfe übertrifft. Dass gar der heilige Filippo Neri und der heilige Ignatius von Loyola einander gemocht hätten, behaupte ich nicht (25. Stück). Aber dass diese beiden widersprüchlichen religiösen Charaktere, nur ein paar Häuser voneinander entfernt, mitten in Rom und zu Füssen des Heiligen Vaters, nicht übereinander hergefallen sind, sondern einander in christlichem Frieden liessen, ist ein Modell für die Bischofssynoden unserer Zeit.
Simone de Beauvoir hat gesagt, dass es für die Frauen der Moderne in der Vergangenheit als Vorbild nur die reichen Frauen gebe. Sie allein konnten sich die Selbständigkeit leisten. Masslos reich war zweifellos die heilige Paula von Rom (3. Stück). Und sie war die letzte Nachfahrin zweier grosser republikanischer Geschlechter, der Scipionen und der Gracchen. Mit ihrem scipionischen Charakter und mit ihrem Geld hat diese Frau die Arroganz der Machos in der katholischen Kirche besiegt. So hat sie den priesterlichen Zölibat durchgesetzt all jenen katholischen Papis zum Trotz, die, nach jüdischem Vorbild, gern verheiratete Priester geworden wären und das steuerfreie Priestertum im Reich Konstantins auch gleich, nach jüdischer Tradition, an ihre hoffnungsvollen Söhne vererben wollten.
Von ganz anderem Schlag als Paula in Rom war drüben in Konstantinopel Kaiserinmutter Helena (14. Stück). Jacob Burckhardt nennt sie »die verruchte Schankwirtin«. Aber auch verruchte Frauen, gerade sie, haben etwas Anziehendes. Und sie können stark sein. Sehr stark. Das römische Reich unter das Zeichen des Kreuzes zu stellen, diese Idee hat nicht ihr Sohn Konstantin gehabt, sondern sie, seine Mutter. Helena und ihr Reliquienschiff! Wie gern wäre ich mit dieser verruchtesten aller Heiligen von Konstantinopel nach Jerusalem gesegelt.
Aber lieber noch hätte ich die heilige Katharina auf ihrem abenteuerlichen Ritt von Siena nach Avignon begleitet (21. Stück). Anders als die vielgefeierte Theresia von Avila war Katharina keine Simone de Beauvoir vor der Zeit. Nicht lesen und nicht schreiben konnte Katharina, von Selbstverwirklichung der Frau hat sie so wenig etwas gewusst wie von Quotenförderung oder von Gender-Theologie. Dafür hatte dieses italienische Arbeitermädchen Charakter, und zwar einen so starken, dass sie Papst Gregor XI von Avignon nach Rom zurückgeführt hat wie einen Ochsen am Nasenring.
Bei der Gelegenheit gleich noch ein Beitrag zur Gender-Theologie. Dass es so etwas gibt, verwundert nur die religiös Ungebildeten in den theologischen Fakultäten. Sonst wüssten sie, dass der Gender-Wurm seit den allerersten antiken Anfängen, ja seit babylonischen Urzeiten mitten in der christlichen Dogmatik steckt (24. Stück).
Schöne Zeit der religiösen Bildung, kehre wieder! Sie klärt ja nicht nur den Kopf auf, sondern stimmt zugleich das Gemüt gelassen. Nur religiöse Bildung könnte sie kurieren, die grossen Hysterien unserer Zeit. Denkt nur an den »Islamischen Staat«.
»Islam« heisst eigentlich »Frieden«. Das wissen alle. Gross aber ist die Aufregung ob der Frage, wie und warum aus dieser Religion des Friedens eine so blutrünstige Bewegung wie der »Islamische Staat« hervorgehen konnte. Plasberg, Will, Jauch, Beckmann, Maischberger, Illner: Hätte nur einer von ihnen etwas religiöse Bildung, so würde bald allen in Deutschland klar, dass es genau dies schon einmal gegeben hat. Nicht im Islam, sondern bei uns im Christentum. Der blutigste aller Kreuzzüge ist unmittelbar hervorgegangen aus einer Friedensbewegung (19. Stück).
Noch habe ich »Spon« nicht gewürdigt: Dass ausgerechnet junge, fortschrittliche Intellektuelle bei uns zum medialen Klerus einer intoleranten und bornierten political correctness geworden sind, auch dies erstaunt nur, weil die...