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Spiritualität
2.1 Definition
Es gibt viele verschiedene Definitionen der Spiritualität, über die Roehlkepartain et al. einen sehr guten Überblick geben.15 Allen Definitionen gemeinsam ist die Annahme, dass die Spiritualität intrinsisch ist. Das bedeutet, dass sie nicht im Laufe des Lebens erworben wird, sondern als Fähigkeit von Anfang an vorhanden ist. Sie wird somit als biologisch angelegter Aspekt der menschlichen Entwicklung angesehen. Auch sind keinerlei Voraussetzungen für die Spiritualität notwendig. Weder ein hoher Intelligenzquotient noch sonstige kognitive emotionale Fähigkeiten sind erforderlich. Auch ist eine psychische und körperliche Gesundheit keine Vorbedingung, sondern im Gegenteil, die Erfahrung von Spiritualität scheint in Zeiten der Belastung und Krisen besonders häufig zu sein.
Intrinsisch bedeutet auch, dass Spiritualität kein Privileg des Erwachsenenalters ist, sondern schon bei sehr jungen Kindern angelegt ist. Autoren wie Hay und Nye und Hart argumentieren, dass Kinder und Jugendliche, im Gegenteil, besonders offen für Spiritualität seien.16 Diese Offenheit nimmt trotz gleichbleibender Anlage im Laufe der Zeit bei manchen Erwachsenen sogar ab.
Ferner ist Spiritualität etwas sehr Individuelles und personengebundenes, eher etwas Privates als Öffentliches und eine Gruppenzugehörigkeit ist keine Bedingung für spirituelle Erlebnisse.
Spiritualität ist demnach eine Fähigkeit, über die alle Menschen verfügen und die sie unterschiedlich kultivieren. Sie ist nicht nur eine potenzielle Möglichkeit, sondern spiegelt ein tiefes Bedürfnis der meisten Menschen wieder, da sie eine hohe subjektive Bedeutung hat und eine emotionale Sehnsucht erfüllt. Viele Menschen suchen nach Spiritualität, die sich jedoch nicht willentlich herbeirufen, aufrechterhalten oder abstellen lässt. Dies liegt daran, dass das wesentliche Merkmal von Spiritualität die überpersönliche Transzendenz ist, d. h. im Erleben wird auf etwas Größeres hingewiesen, als man selbst ist. Diese Erfahrungen entziehen sich nicht nur dem Willen, sondern oft auch den Worten, da sie die persönliche Existenz transzendieren. Insofern sind andere Synonyme für »spirituell« möglich: transzendent (in der eigentlichen Bedeutung: hinübersteigend), transpersonal (überpersönlich, existenziell, das eigene Dasein betreffend) oder numinos (Walten einer höheren Macht). Bei Spiritualität klingt ferner die Suche nach Sinn und Bedeutung an, sie ist eine »persönliche sinnstiftende Grundeinstellung«17.
Spiritualität ist eine phänomenologisch erfahrbare, subjektive Realität der Psyche, an der es für das Individuum keinen Zweifel gibt. Spekulationen über Ursprünge der Spiritualität sind nicht entscheidend, da unabhängig von den möglichen Ursachen die psychischen Phänomene der Spiritualität gleich sind. Daher haben viele Psychologen der Spiritualität wie C.G. Jung und William James (aber auch Buddha) zu diesem Thema geschwiegen und sich gegen metaphysische Spekulationen gewehrt. Diese Fragen zu beantworten, ist Aufgabe der Religion, aber nicht der Psychologie. Deshalb wird in auch in diesem Buch die Spiritualität als existenzielle psychische Erfahrung allgemein, ohne weitergehende kausale Implikationen behandelt.
Im Gegensatz zur Spiritualität wird Religiosität als Einstellung definiert, die formal durch religiöse Institutionen, Glauben, Theologien und Rituale strukturiert ist.18 Religiosität ist demnach ein überindividuelles System, deren Werte von den Mitgliedern einer Religion geteilt werden. Die Zugehörigkeit und Auseinandersetzung mit der Religiosität stellen für viele Kinder und Jugendliche wichtige Entwicklungsschritte dar ( Kap. 4).19 Die Stadien der Religiosität sind klarer vom Kindes- zum Jugendalter zu verfolgen als die der Spiritualität. Trotz der enormen Entwicklungsschritte ist es erstaunlich, wie sich Berichte zu spirituellen Erfahrungen bei Kindern und Jugendlichen gleichen.
Religiosität und Spiritualität müssen sich nicht ausschließen. Spirituelle Erfahrungen sind sehr gut innerhalb eines Religionssystems möglich, jedoch nicht darauf angewiesen. Spiritualität ist demnach die übergeordnetere Fähigkeit von Kinder und Jugendlichen (die sich mit und ohne Religiosität zeigen kann). Andererseits kann Religiosität formal im Rahmen von Ritualen und Regeln praktiziert werden, ohne dass Spirituelles mitschwingt. Zudem wird Religiosität deutlich beeinflusst durch soziale und historische Faktoren. Dies sieht man z. B. im Ländervergleich der USA und Deutschland, wie in Tabelle 1 dargestellt. Bei einer großen Befragung von 20 000 jungen Erwachsenen im Alter von 18–24 Jahren gaben in den USA 47 % an, dass Religion sehr wichtig für sie sei – in Deutschland waren es nur 6 %.20 Noch deutlicher war der Unterschied bei der Frage nach dem Glauben an Gott, der in den USA von 93 % bejaht wurde, in Deutschland nur von 55 %. Man mag über die möglichen Gründe für diese Unterschiede spekulieren. Eindeutig sind Deutschland wie auch andere europäische Länder viel stärker säkularisierte Gesellschaften als die USA. Diese Unterschiede sind zu beachten, wenn man Studien aus den USA liest, die sich bezüglich der Religiosität (nicht jedoch der Spiritualität) nicht unbedingt auf europäische Verhältnisse übertragen lassen.
Tab. 1: Unterschiede in der Religiosität: Vergleich USA – Deutschland (Quelle: World Values Study of 20 000 young adults aged 18 to 24 years in 41 countries, zitiert nach Lippman und Keith 2006, S. 111 ff.)
Religion ist mir sehr wichtig | 47 % | 6 % |
Ich Glaube an Gott | 93 % | 55 % |
Spiritualität ist bei jungen Menschen häufiger als die tatsächlich praktizierte Religiosität ( Tab. 2). In einer großen Studie mit 9400 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15–24 wurde offener nach Glauben allgemein (und nicht speziell nach Gott) gefragt, sodass diese Fragestellung auch Rückschlüsse auf die Spiritualität der Befragten zulässt.21 Auch wurde nach der religiösen Praxis gefragt. In Deutschland gaben 17,2 % an, dass sie gläubig seien und ihren Glauben praktizierten (d. h. spirituell und religiös waren), und sogar 32,9 %, dass sie nur gläubig seien (d. h. spirituell waren). Rein religiös, ohne Spiritualität waren 12,2 %. Wie in Tabelle 2 weiter zu sehen ist, variieren die Angaben zwischen alten und neuen Bundesländern gravierend, als Folge der kulturellen Einflüsse der ehemaligen DDR. 55,6 % der Jugendlichen in den neuen Bundesländern gaben an, dass sie atheistisch seien, 14,2 % in den alten Bundesländern. Die Angaben dieser Tabelle sind mit Vorsicht zu interpretieren, da die Fragen sehr einfach und offen gestellt waren und auf Fragebögen (und nicht auf Interviews) basieren.
Tab. 2: Unterschiede zwischen Spiritualität und Religiosität in Deutschland (Quelle: Young European Study of 9400 15 to 24 year olds in 15 countries, zitiert nach Lippman und Keith 2006, S. 114 ff.)
Glauben und praktizieren | 17,2 % | 19,6 % | 7,3 % |
Glauben | 32,9 % | 38,4 % | 13,8 % |
Praktizieren | 12,2 % | 13,8 % | 5,4 % |
Atheistisch | 22,2 % | 14,2 % | 55,6 % |
Agnostisch | 7,5 % | 6,3 % | 12,4 % |
Weiß nicht | 6,4 % | 6,3 % | 7,2 % |
Mitglied spiritueller Gruppe | 0,5 % | 0,5 % | 0,5 % |
Zusammengefasst lässt sich in diesem Kontext vereinfachend festhalten:
- Spiritualität ist eine individuelle Fähigkeit und ein Bedürfnis einer Person nach überpersönlicher Transzendenz; sie ist ein intrinsischer, biologischer Aspekt menschlicher Entwicklung. Sie kann sich in positiven, wie auch negativen – leichten, aber auch intensiven Erfahrungen zeigen.
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