Einleitung
Die vielfältigen Debatten der vergangenen Jahre über einen Umbau der Kirche, der gleichzeitig den gestiegenen Anforderungen in Sachen Kommunikation des Glaubens und den verringerten Ressourcen der Kirche gerecht werden muss, haben immer wieder das Thema der Reichweite eben dieser Kommunikation hochkommen lassen. Die Frage: Wen erreichen wir eigentlich (noch)? – beschäftigt viele Pfarrkonvente, Kirchenleitungen, kirchliche Einrichtungen und Arbeitsbereiche. Warum kommen immer nur diese Menschen und nicht jene zu unseren Veranstaltungen? Wie könnten wir neue Menschen für die Kirche und den Glauben gewinnen? Wie könnten wir wieder wachsen und mehr Bedeutung gewinnen – statt nur zu schrumpfen? Wer hat Geschmack an der Kirche und am Glauben – und wer nicht?
Die Kirche organisiert sich nicht für sich selbst, sondern hat ihre Existenzberechtigung ausschließlich darin, Menschen mit dem christlichen Glauben in Berührung zu bringen. Nicht die Inklusion in Kirche als solche ist folglich das alleinige Ziel, sondern sie ist lediglich der – allerdings: einzig mögliche – Weg, Menschen mit Erscheinungsformen des Glaubens – was immer das näher hin bedeutet – bekannt zu machen und sie in Formen des Austausches im Glauben hineinzuziehen. Die Beteiligung an der Kommunikation des Glaubens in diesem Sinne ist wiederum der entscheidende Indikator dafür, dass Menschen möglicherweise zum Glauben an Gott gefunden haben. Ohne Beteiligung an der sichtbaren Gestalt der Kirche in ihren vielfältigen Facetten geht es folglich nicht – aber diese sichtbare Gestalt hat nur funktionale Bedeutung und darf sich nicht vor die lebendige Begegnung der Menschen mit dem Evangelium schieben. Selbstkritik an der Verselbständigung ihrer eigenen Formen ist deswegen der Kirche inhärent und treibt sie in ihrer Organisationsentwicklung voran.
Diese Zielbestimmung verdichtet sich in der kirchlichen Arbeit in besonderer Weise neben diakonischen, bildungsbezogenen und anderen Aufgaben in ihrem missionarischen Auftrag. Dieser Auftrag besteht darin, eine Einführung in die Kommunikationsformen des Glaubens für Menschen möglich zu machen, die daran bisher nicht beteiligt bzw. aus irgendwelchen Gründen vielleicht sogar ausgeschlossen sind. Die Gründe für eine Beeinträchtigung der Teilhabe an dieser Kommunikation können verschiedener Art sein. Blickt man auf die Situation in Deutschland, so handelt es sich vielfach um negative Erfahrungen, die mit Gestalten des Glaubens gemacht worden sind und sich in seiner Ablehnung verdichten, ohne eine eigene Beteiligung an dieser Kommunikation überhaupt noch in Erwägung zu ziehen. Wenn sich eine entsprechende Haltung über längere Zeit verdichtet und verstetigt hat, kann dies zu einer betonten Indifferenz gegenüber Formen von Religion und Glauben überhaupt führen, die dann schwer aufzubrechen ist. Es gibt dann keinerlei Nachfrage mehr nach Glauben, an die kirchliche Arbeit anknüpfen könnte: Diese Nachfrage nach den eigenen Angeboten muss vielmehr erst geweckt werden. Wer z. B. nicht mehr weiß oder wenigstens spürt, dass der Glaube an Gott mit der Erlösung von elementarer Schuldverstricktheit zu tun hat, an der jeder und jede Anteil hat und sich selbst für einen tollen Kerl hält – der braucht offensichtlich erst einmal wieder die Einsicht darin, dass er oder sie so toll und so harmlos, wie er es von sich selbst meint, beileibe nicht ist. Einführung in den Glauben ist Einführung in den elementaren Zirkel eigenen Selbst-Verstehens, in dem Schuld, Leid und Erlösung gekoppelt sind; jedenfalls ist das eine nicht ohne das andere zu haben.
Allerdings klingt die Problematik so beschrieben simpler, als sie tatsächlich ist. Denn mit dem Begriff „Glauben“ ist nichts wirklich Eindeutiges gesagt. Glauben differenziert sich individuell, gruppen- und milieubezogen aus – ja es ist, abgesehen von bestimmten hochsymbolisch verdichteten Formeln („Gottvertrauen“) – schwer die Einheit zu identifizieren, die es überhaupt zuließe, von einer Ausdifferenzierung zu sprechen. Es gibt individuell-erlösungsbezogene, stark rituell ausgerichtete, bildungsmäßig geronnene und sozial oder politisch engagierte Glaubensformen, die untereinander bisweilen um Anerkennung und Geltung im religiösen Feld bzw. in der Kirche ringen. So hat es in den letzten Jahren einen deutlichen Wechsel in der Hegemonie bestimmter Glaubensformen in der Kirche – von einer eher sozial und politisch engagierten Haltung zu einem kulturell-rituellen Stil - gegeben. Die Geltung von Glaubensformen ist mithin umkämpft. Das kann so weit gehen, dass bestimmte Glaubensformen von anderen nicht mehr als solche anerkannt werden („Das ist ja nur Sozialarbeit!“ oder: „Was hat der Besuch der Matthäus-Passion mit dem christlichen Glauben zu tun?“). Wenn es aber gut geht, entwickelt sich durch die Konkurrenz der Glaubensformen hindurch ein gelebter pluraler Diskurs, in dem sich der Glaube selbst steigert.
Es ist in keiner Weise eindeutig und übereinstimmend plausibel beschreibbar, welche Kommunikationsformen des Glaubens es überhaupt gibt, wie sie funktionieren und welche Bedeutung Glauben für den Einzelnen haben könnte. Vielmehr ist für religiöse Kommunikation entscheidend, dass in ihr etwas sichtbar und erfahrbar wird, was als solches nicht sichtbar und nicht erfahrbar ist und sich jeder Form von Objektivierung immer wieder entzieht. Dieses nicht Sichtbare, Transzendente, „in“ den Menschen Wirkende zeigt sich aber an bestimmten Symbolen und Zeichen auf verschiedenen Ebenen, z. B. an Gesten, Haltungen, Symbolen, Atmosphären, Stimmungen und anderem mehr, die in spezifischen Kontexten als religiöse Kommunikation bzw. explizit als Glauben identifiziert werden und in bestimmten Gruppen bzw. Milieus auf Zustimmung stoßen. Aber der Glaube, das wesentliche, geht nicht in diesen Zeichen auf und kann deswegen immer auch ganz anders wahrgenommen werden. Sobald man hier verfestigt und hypostasiert, geht sein Zeichencharakter verloren.
Glaube ist also immer schon mit bestimmten Assoziationen verbunden, die aus einer spezifischen Prägung resultieren, nicht beliebig sind und denen eine Person, die sich neu für den Glauben interessiert, zunächst einmal als fest gefügten Gestalten des Glaubens begegnet. Ohne entsprechende Verkörperungen des Glaubens in Atmosphären und Stimmungen ist eine Einführung in religiöse Kommunikation gar nicht denkbar. Dass sich z. B. ein Pastor auf eine bestimmte, im Alltag völlig unübliche Weise verhält und entsprechend irgendwie seltsam redet, kann in dieser Sichtweise eine notwendige Bedingung einer gelingenden Kommunikation über den Glauben darstellen. Würde er es nicht tun, würde nicht deutlich, dass es um Glauben geht. Aber das gilt auch allgemein kulturell. Viele gebildete Zeitgenossen würden spontan wahrscheinlich schnell Friedrich Wilhelm Graf zustimmen, wenn er seine Kritik am Umbau der Universitäten ganz selbstverständlich formuliert: „Ein Theologe darf es in religiöser Sprache formulieren: Geistesgegenwart lässt sich nicht durch Großstrukturen erzwingen. Sie erzeugt sich in Schutzräumen einer Reflexionskultur, die unausweichlich an die Individualität des einzelnen Forschers, seinen je eigenen Denkstil, Bildungshorizont und Interessenkanon gebunden bleibt.“1 Bei näherer Betrachtung kann man allerdings auch fragen: Wie kommt Graf zu solch einer theologischen und zugleich hochpolitischen Identifikation des Wirkens des Geistes mit einem bestimmten elitären Lebensstil? Es könnte doch auch ganz anders – viel banaler sein. Zustimmung findet Graf, weil er auf eine im Bildungsbürgertum breit geteilte Figur der Selbststilisierung abhebt, die in einer langen Tradition protestantisch „getauft“ worden ist.
Aber auch über Graf hinaus: Es sind diese und andere geprägte Gestalten bzw. Äußerungsformen des Glaubens, die für viele Menschen wichtig, aber für andere eben auch uninteressant, langweilig oder sogar abstoßend sind und eine Inklusion in solche „seltsamen“ Gemeinschaften, in denen solche „komischen“ Typen, die „nicht ganz von dieser Welt sind“, sogar Leitungsaufgaben haben, nachhaltig verhindern. Um es drastisch zu sagen: Wenn sich an solchem „Gesülze“ Glauben zeigt und die Übernahme entsprechender, ähnlicher Verhaltensweisen, ja nur die häufigere Nähe zu ihnen, Bedingung der Teilhabe an ihm ist: Dann ist das Ergebnis klar, nämlich: Nein Danke! Zum Glück gibt es nun hierüber aber immer auch innerhalb des religiösen Feldes bzw. der Kirche z. T. heftige Auseinandersetzungen. Nichts wird lieber kritisiert als religiöses Reden. Insofern wird es so sein, dass das „Gesülze“ auch in der Kirche auf die Ablehnung bestimmter Gruppen stößt, die ihren Glauben ebenfalls darin nicht wiedererkennen können.
Das Ziel missionarischer Aktivität kann dementsprechend nicht darin liegen, dass von bisher nicht Beteiligten einfach die längst vorhandenen Formen des Glaubens übernommen werden – zumal diese Formen immer im Plural erfahrbar sind. Vielmehr besteht das Ziel darin, dass jeder und jede für sich selbst individuell und/oder in seinem spezifischen Gruppen- und Lebenszusammenhang eine authentische Verkörperung religiöser Kommunikation findet bzw. gestaltet. Allerdings werden solche Formen innerhalb der Kirche nur dann toleriert werden und insofern Inklusion ermöglichen, wenn sie sich als anschlussfähig innerhalb der bereits in der Kirche vorhandenen Glaubensformen erweisen, was nichts anderes bedeutet, als dass das Spektrum möglicher Glaubensformen auf das innerhalb der christlichen, bzw. näherhin der christlich-protestantischen Traditionslinien Mögliche begrenzt ist – aber andersherum gesagt...