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Verstehen und Behandeln von psychischen Störungen

Psychodynamische Konzepte in der psychosozialen Praxis

AutorMagdalena Stemmer-Lück
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl334 Seiten
ISBN9783170228030
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Psychodynamische Konzepte bilden eine Basis für das Verstehen und Behandeln psychischer Störungen. Die Autorin beschreibt allgemeine Grundlagen wie Beziehungsmuster, Konfliktdynamik, psychische Struktur nach unterschiedlichen theoretischen Ansätzen (Objektbeziehungstheorie, Bindungstheorie etc.), aus denen sie Behandlungsprinzipien ableitet. Den Hauptteil bilden Darstellungen psychischer Störungen: Depressive, Angst- und Zwangsstörungen, Ess-, Persönlichkeits-, traumatische Störungen und Schizophrenie. Das Verstehen und Behandeln folgt psychodynamischen Prinzipien einschließlich störungsspezifischer Modifikationen. Die Störungsbilder sowie die Anwendung psychodynamischer Konzepte werden durch Fallbeispiele verdeutlicht. Ein Handbuch für Professionelle in der psychosozialen-therapeutischen Praxis und Studierende der Psychologie, Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Medizin.

Prof. Dr. Magdalena Stemmer-Lück lehrt klinische Psychologie an der Katholischen Hochschule NRW in Münster. Sie arbeitet als Psychoanalytikerin (DPG) und Supervisorin (DGSv).

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Leseprobe

Einführung


Psychische Störungen werden in unserer Gesellschaft immer häufiger. Im Laufe eines jeden Jahres erleiden 27 % der EU-Bevölkerung oder 83 Millionen Menschen mindestens eine psychische Störung wie z. B. eine Depression, Schizophrenie, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Sozialphobie, Panikstörung, generalisierte Angststörung, Zwangsstörung, somatoforme Störung oder Demenz. Das Lebenszeitrisiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, liegt allerdings mit über 50 % der Bevölkerung wesentlich höher. Ausmaß und Folgen sind dabei höchst unterschiedlich. Einige Menschen erkranken nur episodisch kurzzeitig über Wochen und Monate, andere längerfristig. Ca. 40 % sind chronisch, das heißt über Jahre oder gar von der Adoleszenz bis an ihr Lebensende, betroffen (vgl. www.psychiatrie.de/fakten, Zugriff am 13. 10. 2008). Nicht aufgeführt sind in den Faktenangaben des Psychiatrienetzes die vielen Persönlichkeitsstörungen oder Störungen infolge von Traumatisierungen. Je eher eine psychische Störung erkannt und behandelt wird, desto größer sind die Chancen einer psychischen Stabilisierung. Unbehandelte psychische Störungen werden häufig chronisch, zunehmend komplexer und sind darum schwieriger zu behandeln. Je chronischer eine psychische Störung wird, desto größer ist auch die psychischen Störungen anhaftende Stigmatisierung.

In diesem Buch geht es um die Behandlung von Menschen mit psychischer Störung, wobei der Schwerpunkt auf dem Verstehen liegt; das Verstehen ist eine unerlässliche Voraussetzung für eine angemessene Behandlung.

Die Adressaten sind professionelle Betreuer, Berater und Therapeuten, die in der psychosozialen und psychotherapeutischen Praxis mit psychisch gestörten Personen arbeiten. Ich richte mich an Psychologen, Pädagogen, Psychiater, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen etc., an alle, die mit psychisch Gestörten umgehen und versuchen, einen Zugang zu deren inneren und äußeren Welt zu finden und sich selbst als Teil dieser gemeinsamen Welt betrachten, sich selbst in einer kontinuierlichen Interaktion mit den Betroffenen sehen und erleben. Dies deutet bereits meinen psychodynamischen Zugang zum Verständnis psychischer Störungen an. Die Behandlung oder der Umgang mit psychisch gestörten oder psychisch kranken Menschen ist von vielen Faktoren abhängig, die miteinander interagieren.

Auf Seiten der Betroffenen ist die Behandlung abhängig von der Art der psychischen Störung, die ein breites Spektrum einnimmt. Psychische Störungen reichen von akuten Belastungsreaktionen über klassische neurotische Störungen wie Angststörungen, Essstörungen oder unterschiedlichen Persönlichkeitsstörungen bis hin zu psychotischen Störungen. Des Weiteren ist die Behandlung der Betroffenen auch abhängig von der Motivation, der Kooperationsbereitschaft und den persönlichen Ressourcen.

Auf Seiten der Professionellen ist die Behandlung abhängig von den persönlichen und fachlichen Kompetenzen. Zu den persönlichen Kompetenzen gehören das Engagement, die Bezogenheit, die Belastbarkeit, die Fähigkeit zum empathischen Verstehen etc. Es ist schulenübergreifend bekannt, dass die Person des Professionellen für den Erfolg einer Behandlung eine entscheidende Rolle spielt. Zu der fachlichen Kompetenz gehören das theoretische Konzept über die Entstehung und die Behandlung der jeweiligen psychischen Störung sowie praktische Erfahrungen.

Auf Seiten der Institution ist die Behandlung abhängig vom Behandlungsauftrag und den Möglichkeiten, die in der Institution gegeben sind. Die Institutionen, in denen die Behandlung oder Betreuung von psychisch gestörten Menschen geschieht, haben ebenfalls eine enorme Bandbreite. So gibt es Betreuungen im Kontext von ambulanter Betreuung, Beratungsstellen, insbesondere Frauenberatungsstellen; es gibt stationäre Einrichtungen wie psychiatrische Kliniken, psychotherapeutische Kliniken oder auch teilstationäre wie Tageskliniken; es gibt Wohnstätten, Einrichtungen der Nachsorge etc., und es gibt private psychotherapeutische Praxen.

Das Konzept, nach dem behandelt wird, spielt eine zentrale Rolle. In diesem Buch geht es um psychodynamische Konzepte zum Verstehen und Behandeln von Menschen mit psychischen Störungen. Alle psychodynamischen Konzepte wurzeln in der Psychoanalyse. Als Psychoanalytikerin stehe ich auf dem Boden der neueren psychoanalytischen Entwicklungen. Die Frage, was unter der neueren oder modernen Psychoanalyse zu verstehen ist, ist schwer zu beantworten, da sich gerade ein Paradigmenwechsel vollzieht von der Fokussierung auf die innerpsychische Dynamik hin zur Intersubjektivität. Mit Intersubjektivität ist gemeint, dass der Mensch von Geburt oder sogar von der Zeugung an mit anderen Menschen verbunden ist und dass sich diese Verbundenheit in der psychischen Struktur niederschlägt. Damit sind Innen- und Außenwelt eng miteinander vernetzt (vgl. Altmeyer & Thomä, 2006). Die intersubjektive Sichtweise lässt sich heute in zahlreichen psychoanalytischen Strömungen beobachten. Als Wegbereiter der intersubjektiven Wende können u. a. Bowlby mit seiner Bindungstheorie, Sullivan mit seiner interpersonellen Theorie sowie Fairbairn mit seiner Objektbeziehungstheorie genannt werden. Der Durchbruch der intersubjektiven Sichtweise gelang letztlich mit der empirisch orientierten modernen Säuglingsforschung. Sie eröffnete einen anderen Blick auf das Selbst- und Welterleben des Säuglings. Danach ist der Säugling nicht passiv seiner Triebnatur ausgeliefert, sondert aktiv, initiativ und damit von Anfang an kommunikativ. So werden Interaktionsmuster bereits in den frühen Entwicklungsphasen innerpsychisch unbewusst gespeichert, wodurch sich die menschliche Psyche strukturiert. Auch die aktuellen Konzepte zum Prozess der Mentalisierung um Fonagy sind intersubjektiv angelegt. Kritiker der Konzepte von Intersubjektivität befürchten, dass der Psychoanalyse damit das Wesentliche verloren gehe, nämlich die Konzentration auf das Innerpsychische, welches sich in Beziehungen der Gegenwart in Übertragungsprozessen aufspannt. Aus meiner Sicht geht es im zeitgenössischen psychoanalytischen Diskurs jedoch nicht um Kämpfe zwischen den Schulen, sondern darum, eine immer wieder neue Balance zwischen der intra- und intersubjektiven Perspektive zu finden, denn Innenwelt und Außenwelt sind untrennbar miteinander verwoben. Altmeyer und Thomä (2006, 9) vertreten die Ansicht, „dass die Psychoanalyse sich in einer ... revolutionären Phase des Übergangs von einem zum anderen Paradigma befindet und dabei ist, Evidenzen zusammenzutragen“. Ich persönlich sehe mich ebenfalls in einer Übergangsphase, wobei es mir um eine Balance zwischen den beiden Perspektiven geht. Die Intersubjektivität, die das Intrapsychische mit einschließt, wenn auch nicht fokussiert, entspricht dem im vorliegenden Buch gewählten psychodynamischen Zugang. Damit ist es einer breiten Zielgruppe gewidmet.

Schon in meinem Buch „Beziehungsräume in der Sozialen Arbeit“ habe ich betont, dass psychoanalytisches Denken nicht nur Psychoanalytikern vorbehalten sein sollte. Psychodynamisches Denken ist grundlegend für eine Vielzahl von Behandlungskonzepten in unterschiedlichen Disziplinen und Handlungsfeldern, ob in der Psychologie, der Pädagogik, oder der Sozialen Arbeit etc. Die Grundlagen der psychodynamischen Konzepte gehen auf die Psychoanalyse zurück. Psychodynamische Konzepte sind offen für Modifikationen durch andere Behandlungsansätze. Sie beziehen die neueren Entwicklungen mit ein und ermöglichen eine größere Störungsorientierung und damit Spezialisierung.

Ich werde verschiedene psychodynamische Theorien vorstellen, die dem Verstehen und dem Behandeln dienen. Beim Verstehen geht es darum, die innere und äußere Welt des anderen sowie die eigene innere und äußere Welt zu verstehen. Bezogen auf den Sinn von Theorien möchte ich mich Mitchell anschließen, der sagt: „Theorien helfen dem Analytiker zu denken. Sie liefern Ideen für die Interaktion, die dem Kliniker verschiedene Möglichkeiten eröffnen, deren Umsetzung er inmitten der affektiven Dichte der analytischen Situation erwägen kann. Theorien weisen auf Möglichkeiten hin; sie machen auf wichtige Aspekte aufmerksam; sie leisten als Werkzeuge zur Erschließung komplexer Sachverhalte gute Dienste; sie warnen vor Gefahren“ (Mitchell, 2005, 13).

Das Buch gliedert sich in zwei große Teile. In Teil I geht es um Grundlagen psychischer Gesundheit/Störung und psychodynamischer Konzepte; in Teil II werden ausgewählte psychische Störungen auf der Basis psychodynamischer Konzepte beschrieben. In Teil I gehe ich zunächst auf allgemeine Überlegungen zur psychischen Gesundheit und psychischen Störung ein (1). Grundlegend und einführend sind Modelle von psychischer Störung und psychischer Gesundheit (1.1), wobei Gesundheit und Störung als Pole eines Kontinuums verstanden werden, die sich in einem sehr komplexen Prozess entwickeln und damit auch verändern (1.2). Auch wenn psychische Störungen dimensional betrachtet werden, ist die Frage bedeutsam, ab wann eine Person als psychisch krank gilt. Es werden einige wichtige Merkmale zur Definition einer psychischen Störung beschrieben (1.3). Psychische Störungen werden auch beschrieben und festgelegt durch die international verwendeten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV, die wegen der Verständigung und Vergleichbarkeit psychischer Störungen aufgeführt werden (1.4). Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2 wird vorgestellt, da sie im Bereich der psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapie entwickelt wurde. Die Diagnose erfolgt dabei nicht kategorial, sondern auf einem multitaxialen System (1.5).

Auch wenn mein grundlegendes Verständnis ein...

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