Einführung
Hans-Walter Schmuhl
Geschichtswissenschaft und Behinderung
Menschen mit Behinderungen sind in den letzten drei Jahrzehnten auch in Deutschland zunehmend als Thema der Geschichtswissenschaft entdeckt worden.1 Dabei waren die Zugänge sehr unterschiedlich, geriet das Phänomen der Behinderung, gerieten Menschen mit Behinderungen doch in das Blickfeld verschiedener Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft mit je eigenen Fragestellungen, Begrifflichkeiten, Theorien und Methoden. Um das unübersichtliche Forschungsfeld zu ordnen, kann man zu analytischen Zwecken mehrere Komplexe voneinander abgrenzen: Da gibt es, erstens, Arbeiten aus dem Bereich der Bildungs- und Medizingeschichte. Sie behandeln diejenigen Teildisziplinen der Pädagogik und Medizin, die sich ihrem eigenen Anspruch nach mit Menschen mit Behinderungen befassen – also Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Orthopädie und Psychiatrie –, deren Wissensproduktion, Theoriebildung, Professionalisierung und Akademisierung und deren Unterrichts- bzw. Behandlungspraxis.2 Daneben ist, zweitens, eine Reihe von Arbeiten entstanden, die sich, von einem sozialgeschichtlichen Ansatz ausgehend, mit der Entfaltung des Sozialstaates in Deutschland im späten 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzen und in diesem Zusammenhang auch die Entstehung und Entwicklung des Sektors „Behindertenhilfe und Rehabilitation“ untersuchen.3 Davon abzuheben sind, drittens, institutionengeschichtliche Arbeiten zu einzelnen Pflege-, Heil- und Heilerziehungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen, die versuchen, die empirische Forschung auf der Mikroebene mit den großen Linien der Sozial- und Wissenschaftsgeschichte auf der Makroebene zu verknüpfen.4 Viertens befasst sich auch die zeitgeschichtliche Forschung zum Nationalsozialismus und seiner tief gestaffelten Vorgeschichte mit der Kategorie Behinderung – insofern, als sie Eugenik und Rassenhygiene, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in den Blick nimmt.5 Nicht unerwähnt bleiben sollen, fünftens, Studien aus dem Bereich der Alten Geschichte und insbesondere der Mediävistik, die den Umgang vormoderner Gesellschaften mit „verkörperten Andersheiten“ zum Gegenstand haben.6 Weiter sei, sechstens, die Historische Biographik genannt, etwa Arbeiten zu prominenten Persönlichkeiten und der Bedeutung einer Behinderung in ihrem Leben – ich nenne die Studien zu Helen Keller (1880–1968) oder Franklin D. Roosevelt (1882–1945).7 In diesen Zusammenhang könnte man auch neuere Ansätze stellen, aus Krankenakten Biographien von Patientinnen und Patienten und insbesondere von „Euthanasie“-Opfern zu rekonstruieren.8 Familienbiographische Studien aus den USA, die auch Licht auf die Frühgeschichte von Elternorganisationen werfen,9 haben den Blick zudem auf die Selbsthilfeorganisationen von Menschen mit Behinderungen gelenkt, und auch hierzulande sind, siebtens, in den letzten Jahren – als Teil der Geschichte sozialer Bewegungen im 20. Jahrhundert – Arbeiten zur „Behindertenbewegung“ entstanden.10 Sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Forschung Menschen mit Behinderungen längst nicht mehr so einseitig wie früher als passive Objekte der Medizin, der Pädagogik, des Staates, der Gesellschaft betrachtet, sondern zunehmend auch als eigensinnige und eigenwillige historische Akteure, die der fürsorglichen Belagerung von Staat und Gesellschaft durchaus auch widerständiges Verhalten entgegensetzten, ihre eigene Politik machten, ihre Interessen vertraten und dabei manchmal – etwa unter den Bedingungen des Nationalsozialismus – auch gegeneinander agierten.11 Die kräftigsten Impulse für die neuere Forschung sind, achtens, von der neueren Kulturgeschichte ausgegangen, die danach fragt, wie das Bild des behinderten Menschen geformt wird. Hier geht es um Repräsentationen, Codierungen, Performanzen, Inszenierungen, Diskurse, Ikonologien – kurz: um die kulturelle Konstruktion von Behinderung.12 In diesem Zusammenhang sind etwa Studien zur Darstellung von Menschen mit Behinderungen in der Bildenden Kunst, der Literatur oder den Medien zu nennen,13 Studien über Freak-Shows, Monstrositäten und die Entstehung der Teratologie14 oder neue Arbeiten zum Contergan-Komplex.15 Davon unterscheiden würde ich, neuntens, neuere Beiträge zur Begriffsgeschichte der Behinderung, die nach sprachpolitischen Strategien und Praktiken fragt, die der Benennung von „verkörperten Andersheiten“ zugrunde liegen.16 Und schließlich sei, zehntens, auf die Impulse aus der neuen Körpergeschichte hingewiesen, etwa auf Arbeiten über Kriegsversehrte des Ersten Weltkriegs, die seit einiger Zeit Konjunktur haben.17
Geschichte der Behinderung, Disability History, Dis/ability History
Dieses breite Spektrum von Studien, die sich rund um das epistemische Objekt der „Behinderung“ gruppieren, stellt sich, was die Definition dieses Objektes angeht, als durchaus heterogen dar. Konventionelle Arbeiten – etwa aus dem Bereich der Medizin-, der Sozial- oder der Institutionengeschichte – fassen Behinderung zumeist, dem klassischen medizinischen Modell folgend, als etwas Naturgegebenes, Vorfindliches, Unhinterfragbares auf, etwas, das im Körper des behinderten Menschen zu verorten ist, und dieses Etwas ist negativ konnotiert: als eine Schädigung, ein Defekt, ein Defizit. Die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte etwa stellt Behinderung als eine Abweichung des Körpers von der Norm dar, die zur Beeinträchtigung der Lebenschancen führt und mit Hilfe der Wissenschaften korrigiert oder doch kompensiert werden kann und soll. In der überkommenen Sozialgeschichte wird Behinderung als ein individueller Mangel und Makel aufgefasst, dem das System sozialer Staatlichkeit durch medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation wortwörtlich „zu Leibe rückt“. Ähnlich fassen manche ältere Arbeiten aus der Institutionengeschichte Behinderung als eine irgendwie naturwüchsige Not auf, derer sich etwa katholische oder protestantisch-erweckliche Milieus in tätiger Nächstenliebe annahmen.
Ausgehend von einem soziologischen Modell der Behinderung, als dessen Begründer der englische Sozialwissenschaftler Michael Oliver gelten kann,18 haben die Disability Studies seit den 1980er Jahren einen neuen Ansatz entwickelt, der zwischen der Ebene der Beeinträchtigung (impairment) im Sinne individueller körperlicher, geistiger oder psychischer Besonderheiten und der Ebene der Behinderung (disability) im Sinne der daraus entstehenden gesellschaftlichen Benachteiligung unterscheidet. Konkret: Eine Lähmung der Beine, die die Benutzung eines Rollstuhls erforderlich macht, wird zur Behinderung erst durch Bordsteine, Treppen und Trittstufen in Bussen und Bahnen. Eine kognitive Einschränkung, die das Lesen Lernen unmöglich macht, wird zur Behinderung dadurch, dass die Hilfen zur Orientierung im öffentlichen Raum – Wegweiser, Hinweisschilder, Fahrpläne – die Beherrschung eben dieser Kulturtechnik voraussetzen. Indem historische Arbeiten diesen Ansatz aufgegriffen haben, hat die „Geschichte der Behinderung“ den Schritt zur „Disability History“ vollzogen.
In den letzten Jahren kann man nun unter dem Einfluss der Kulturwissenschaften eine Fortentwicklung der „Disability History“ zur „Dis/ability History“ (Anne Waldschmidt) beobachten.19 In Abgrenzung zum medizinischen Modell des Behindert-Seins als individuelles körperliches Defizit, aber auch in Weiterentwicklung des soziologischen Modells des Behindert-Werdens als Ausdruck sozioökonomischer Strukturen und Prozesse in der kapitalistischen Industriegesellschaft fasst die kulturalistisch angelegte Dis/ability History Behinderung als „soziokulturelle Konstruktion“ auf. Demnach werden aus „verkörperten Andersheiten“ (embodied difference) in komplexen Zuschreibungs-, Deutungs- und Benennungsprozessen Begriffe von „Behinderung“ abgeleitet. Dieser Ansatz hat gegenüber streng materialistischen Interpretationsmodellen den großen Vorteil, dass er die diskursive Ebene der Begrifflichkeiten und Sprachregelungen, der Topoi und Narrative, der Argumentationsmuster, der emotionalen Ressourcen und des moralischen Kapitals und damit die Schnittstelle zwischen sozioökonomischen Strukturen und Prozessen, Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in den Blick nimmt. Damit kommt die Dis/ability History der Lösung des methodologischen Grundproblems der Sozialgeschichte – wie nämlich aus anonymen sozialen Strukturen und Prozessen Einstellungen, Empfindungen, Denkmuster, Redeweisen und letztendlich Handlungen entstehen – ein gutes Stück näher.
Zudem leuchtet die Dis/ability History einen blinden Fleck der Sozialgeschichte aus, indem sie dem Begriffspaar Behinderung/Nichtbehinderung bei der Analyse sozialer Ungleichheit einen ebenso hohen Stellenwert einräumt wie den Kategorien Klasse, Geschlecht, Alter, Ethnizität oder Religionszugehörigkeit. Es geht also nicht um eine weitere „Sektorgeschichte“, sondern um eine „Gesellschaftsgeschichte“, die aus einer neuen Perspektive geschrieben wird. Anspruch der Dis/ability History ist es, so Anne Waldschmidt, „nicht nur eine Geschichte der Behinderung, sondern mit Behinderung die allgemeine Geschichte neu zu schreiben“.20
Daraus ergibt sich ein weiterer Vorzug der Dis/ability History: Sie denkt „Behinderung“ immer zusammen mit „Normalität“. So wie...