Vorwort
Klaus Kießling und Heinz Schmidt
Diakonisch Menschen bilden widmet sich der Frage nach anthropologischen Grundzügen diakonischer Bildung. Dabei vollziehen Lernende und Lehrende Bildungsprozesse, in denen nicht einer den anderen, eine die andere bildet und so zu einem bloßen Gebilde macht; vielmehr lässt sich ein Bildungsprozess als ein Vorgang des Sich-Bildens umschreiben, der allemal auf Beziehung verwiesen bleibt. Dabei sind Menschenbildung und Menschenbilder miteinander verwoben. Ihre diakonische Qualität gewinnt Bildung dadurch, dass Diakonie sich als der Bereich kirchlichen Lebens erweist, den Jesus als das Gebot der Nächstenliebe dem Gebot der Gottesliebe gleichgestellt hat. Diakonie lebt im Umgang mit Suchenden und Leidenden, mit Armen und Vergessenen und trägt nach Kräften zu ihrer Menschwerdung bei. Für jedwede Konturierung dessen, was Grundzüge diakonischer Menschenbildung ausmacht, braucht es aber eine Koppelung von theologisch oder auf andere Weise wissenschaftlich entworfenen Anthropologien einerseits mit gelebter oder auch ungelebter Anthropologie andererseits.
Heinz Schmidt und mich verbindet die Auseinandersetzung mit diakonischer Bildung. Diese führen wir in konfessioneller Kooperation. Dabei fällt uns auf, dass eine Diskussion anthropologischer Grundzüge diakonischer Bildung bisher nur in ersten Ansätzen erfolgte; zugleich gehen wir davon aus, dass im menschlichen Miteinander zumindest implizite Anthropologien ihre Rolle spielen und ihre Wirkungen zeitigen. Im alltäglichen und erst recht im professionellen Miteinander müssen sie darum auch explizit zum Thema werden. Daraus resultiert der Titel dieses dreigliedrigen Bandes: Diakonisch Menschen bilden.
In einem ersten Teil kommen jene soeben berührten Wahrnehmungen zur Sprache, insbesondere die Motivationen, die uns antreiben und beflügeln, wenn wir uns damit auseinandersetzen, was Diakonisch Menschen bilden heißen kann. In einem zweiten Teil folgen Beiträge, die Fragen nach Menschenbildern im Kontext diakonischer Bildung ganz fundamental nachgehen und nachspüren und auf diese Weise Grundierungen bieten. Mit einem dritten Teil sind Impulse angekündigt, die den Band in praktisch-theologischer Absicht abrunden mögen. Aus dieser Gliederung ergibt sich der Untertitel dieses Bandes: Motivationen – Grundierungen – Impulse.
Die dazu angefragten Autorinnen und Autoren haben wir wiederum konfessionell kooperativ ausgewählt. Ausnahmslos alle Kolleginnen und Kollegen haben ihre Mitwirkung zugesagt, ihre Beiträge stelle ich nachfolgend vor – in der Reihenfolge, wie sie der Gliederung dieses Bandes entspricht. Die drei Teile umfassen jeweils fünf Texte.
Motivationen
Heinz Schmidt eröffnet den Band Diakonisch Menschen bilden, indem er anthropologische Voraussetzungen diakonischer Bildung zusammenstellt und dabei aus verschiedenen Quellen schöpft. Zuwendung und Anerkennung sowie das traditionsreiche Lernen an Vorbildern erweisen sich für prosoziale Motivationslagen und die Pflege einer diakonischen Kultur als grundlegend. Ebenso zählen das Einüben von Empathie und Solidarität sowie die Entwicklung einer sozialen Perspektivenübernahme zu den Kompetenzen, die Menschen in Beziehung erwerben und die lebenslange Prozesse diakonischer Bildung in Gang setzen und halten.
Auf phänomenologischen Wegen bringt Silke Leonhard in ihrer Orientierung an Pathos und compassio Wahrnehmungen und Erfahrungen ins Spiel, in denen strategisches Vorgehen und andere intentionale Prozesse konterkariert und unterlaufen werden durch Widerfahrnisse, denen menschliches Dasein empfangend und leidend, endlich leiblich und gleichsam grenzwertig ausgesetzt ist. In der Mitte und an den Grenzen: leiblich lernen setzt im Zuge diakonischer Bildung darauf, dem Pathischen Resonanz zu geben und eine responsive Kompetenz der Berührbarkeit zu entwickeln.
Christoph Sigrist führt Bildung als diakonische Aufgabe und Diakonie als kirchlichen Bildungsauftrag ein. Bildung und Diakonie brauchen Raum. Diakonische Räume als Bildungsorte erweisen sich als Andersorte, die für Unterbrechungen des Alltags sorgen und die Welt derer, die sie betreten, mitunter gar wenden können, als Gast- und Schutzräume, in denen Ausgegrenzte in die Mitte rücken, schließlich als Kirchenräume, in denen sich Zwischenräume auftun – zwischen einander Anderen.
„und schuf dem Menschen ein Gegenüber …“ – Gelebte Anthropologien zwischen Autonomie und Angewiesensein: theologisch-heilpädagogische Annäherungen bietet Christoph Beuers in seinem Plädoyer für eine inklusive Anthropologie, die auf ein menschenwürdiges Leben aller Mitglieder einer Gesellschaft setzt. Dabei kommt Responsivität als eine Haltung ins Spiel, in der heilpädagogische und theologische, insbesondere religionspädagogische Optionen konvergieren. Kirche und Diakonie setzen auf die Gottebenbildlichkeit aller Menschen – mit und ohne Behinderung – und halten die Hoffnung auf ein inklusives Reich Gottes wach.
An dieser Stelle mögen Menschen als Bilder Gottes aufscheinen, an anderer Stelle aber mag sich gar kein Bild so recht abzeichnen: Anthropologische Fragen sind in Philosophie und Theologie traditionsreich verortet, nicht aber etwa in der Psychologie als einer zentralen Bezugsdisziplin sowohl der Diakonie- als auch der Bildungsforschung. Exemplarisch widme ich mich ihren impliziten Anthropologien, die auch ungefragt ihre Rolle spielen. Im alltäglichen und im beruflichen Miteinander müssen sie explizit zum Thema werden: Der Mensch – Leibeigener seines Hirns? Psychologische Anthropologien im Widerstreit bringen den ersten Teil von Diakonisch Menschen bilden zum Abschluss – unter dem Titel Motivationen. Damit leite ich zugleich zum zweiten Teil dieses Bandes über, zu den anthropologischen Grundierungen diakonischer Bildung.
Grundierungen
Zur Hilfe geschickt. Der Mensch bedarf der Hilfe und darf helfen – so lautet die Botschaft, die Jörg Splett formuliert. Seine philosophische Anthropologie wird unterwegs zu einer theologischen: Als Mensch bin ich lebensnotwendig auf die freie Annahme durch Andere angewiesen, und diese Gnade kann ich, wenn sie mir widerfährt, allenfalls in der Weise entgegennehmen, dass ich Anderen mein Angenommensein glaube, ihre Autorität anerkenne und meine Abhängigkeit von Anderen bejahe. Lebenshilfe hilft zur Selbstannahme und stimmt mich auf meine Endlichkeit ein.
Anthropologische Voraussetzungen diakonischer Bildung diskutiert sodann Rudolf Englert. Suchend und fragend findet er zu Konturen diakonischer Bildung und in der Vielfalt kultureller Muster zu einer anthropologischen Perspektive. Dazu entwickelt er Faktoren diakonischer Bildsamkeit: das Empathievermögen, beziehungsreiche Emotionalität und kognitive Kompetenz auf dem Weg zur Perspektivenübernahme, Qualitäten wie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Solidarität und Religiosität. Fragen nach dem Menschenbild werden konkret.
Christian Fröhling setzt sich mit Aporien diakonischer Bildung auseinander. Er schöpft aus platonischen Quellen ebenso wie aus der Mystagogie Meister Eckharts, auf dessen Bildlehre der deutsche Bildungsbegriff zurückgeht. So entwickelt er Konturen dialektischer, aporetischer und paradoxaler Bildung, mit denen er zeitgenössische Konzepte religiöser Bildung konfrontiert. Daraus erwächst ihm ein eigener Zugang zum diakonischen Grundzug von Bildung – unter der Überschrift Die mystagogische Bewegung diakonischer Bildung.
Einen wiederum eigenen, aber ganz anders gearteten Zugang bietet der nächste Beitrag. „Wir werden gehetzt“: Jugendliche unter dem Druck der Individualisierung nimmt Viera Pirker in die Mitte ihrer und unserer Aufmerksamkeit. Jugendliche stehen im Zuge ihrer Identitätsbildung vor Entwicklungsaufgaben, die sie nur dann bewältigen können, wenn die strukturellen Bedingungen, unter denen sie aufwachsen, und der gesellschaftliche Druck, dem sie ausgesetzt sind, sie nicht zu Individualisierungsverliererinnen und -verlierern machen. Daraus resultiert das Plädoyer für eine diakonische Bildung, die praktische Begleitung ebenso umfasst wie den politischen Einsatz für Bildungsgerechtigkeit.
Dieses Plädoyer findet seine Fortführung im nachfolgenden Beitrag zu einer Menschwerdung in Solidarität. Theologisch-anthropologische Grundierungen einer zukunftsfähigen Schulpastoral widmen sich der Frage, was und wen Menschen zu ihrer Menschwerdung brauchen, wiederum in Abhängigkeit von jenem Menschenbild, das ich hier zu skizzieren versuche. Mit der Zuspitzung auf Schulpastoral markiert diese Auseinandersetzung zugleich den Übergang...