Erstes Kapitel Wie sieht die Schule aus?
„Die Schule soll dort liegen, wo der Jugendliche aufwächst.
In der gleichen Stadt, im gleichen Ort – im Prinzip wenigstens.
Dort ist der Jugendliche sicherer, zuhause,
damit widerstandsfähiger, mehr er selbst“.
Günter Behnisch,
Unbehagen am Schulbau der Gegenwart (1975)
Im Schulbau zeigt die deutsche Schule ihr Gesicht. Aus den Kasernenschulen der Jahrhundertwende wurden die betonierten Massenschulen der siebziger Jahre und dann, soweit das Geld es zuließ, die offenen und individualisierten Schulgebäude der Gegenwart.
Aber die deutsche Schule ist autistisch geblieben. Ihr Misstrauen gegenüber der sozialen Wirklichkeit hat sich nicht gelegt. Auch wenn sie architektonisch offen ist, bleibt sie organisatorisch verschlossen gegenüber dem sozialen Leben. Im Gegenzug versucht sie, es den Schülern heimisch zu machen, ihnen eine Ersatzheimat zu bieten für die tatsächlichen oder vermeintlichen Verlusterfahrungen in der Zivilisation. Mit dem Programm „Holt das Leben in die Schule“ werden dann durch mühsame pädagogische Veranstaltungen die Schüler mit der Wirklichkeit wieder vertraut gemacht, die zuvor mühsam aus der Schule ausgeschlossen wurde.
Jede einzelne Schule muss wieder lernen, sich als Teil des Gemeinwesens zu verstehen, dessen Kinder sie unterrichtet – ohne Misstrauen, aber auch ohne Konzessionen an die sich wandelnden Moden des Zeitgeistes.
Schulräume
Wer wissen will, wie die Schule aussieht, muss sie sich ansehen. In der neueren bildungspolitischen Diskussion hat sich der Irrglaube durchgesetzt, das Schulwesen ließe sich in statistischen Zahlen anschaulich machen. Aber die Zahlen verschleiern mehr als sie enthüllen. Sie zeigen – vielleicht – Ergebnisse, aber nicht die Prozesse, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, nicht die politischen Ideologien, die ihnen zugrunde liegen, und nicht die pädagogischen Illusionen, auf denen sie aufbauen.
Die Realität der deutschen Schule kann man meist mit dem bloßen Auge wahrnehmen. Wer ein Schulgelände, einen Klassenraum oder gar die Turnhalle einer Schule betritt, gewinnt sehr schnell einen Eindruck davon, was den Deutschen ihre Schule wert ist und wie sie sich Schule vorstellen. Das Aussehen von Schulgebäuden gibt Auskunft über den Zustand der Schule. Das gilt nicht erst, wenn die Verwahrlosung eingetreten ist, sondern auch und erst recht dann, wenn ein neues Schulgebäude entsteht. Denn in der Schularchitektur einer Epoche und einer Gesellschaft verdichten sich die Vorstellungen, die eine Gesellschaft – oder ihre Bildungspolitik – von Schule hat.
Die deutsche Schullandschaft hat viele architektonische Gesichter. Schulunterricht wird erteilt in Schulkasernen, die aus der wilhelminischen Zeit übrig geblieben sind, ebenso wie in Gebäuden, die ihre Entstehung der architektonischen Postmoderne verdanken. Aber ihr Gesicht hat die deutsche Schule durch jene Architektur erhalten, die sich in den sechziger und siebziger Jahren in Westdeutschland, in den Jahren der explosiven Bildungsexpansion, durchgesetzt hat. Die Schulhäuser dieser Jahre folgen einem gesellschaftlichen Zeitgeist, der auch zum pädagogischen geworden ist und seine sinnfällige Gestalt in gemauerten Steinen und mehr noch in gegossenem Beton gefunden hatte. Dass das Aussehen einer Schule auch eine Rückwirkung hat auf die Leistungen, die in ihr erbracht werden, hat man schon früh gewusst. Bereits Comenius wies darauf hin, und auch in den ärmsten Regionen Deutschlands hat man sich seine Gedanken darüber gemacht. In einem Schreiben der Königlichen Regierung, Abteilung des Innern, aus Koblenz, das 1833 an den Landrat in Altenkirchen gesandt wurde, macht sich der Schulaufsichtsbeamte seine Gedanken über die Unwilligkeit der Lehrer, an Dorfschulen zu unterrichten. Sicher nicht zu Unrecht sieht er einen der Gründe „in den sehr schlechten Schullokalen, in welchen weder die Gesundheit noch die zum freudigen Wirken erforderliche Heiterkeit der Lehrer erhalten werden kann“. (Heimatmuseum Hachenburg)
Die klassenlose Schule
Die Frage „Wie sieht die Schule aus?“ findet in der Architektur ihre sichtbare Antwort. Architekten und deren Auftraggeber haben viel darüber nachgedacht, in welchem Raum die neue Pädagogik ihren Ort finden sollte. Das Ergebnis waren in der Regel architektonische Gebilde, die als Gebäude verwirklichten, was in der politisch-pädagogischen Wirklichkeit bis heute umstritten geblieben ist: „Unter dem pädagogischen Anspruch, möglichst vielen Schülern gleiche Bildungschancen zu geben, wurden auch die Schulgebäude architektonisch klassenlos gebaut.“ (Noack, Schulraum, 76) Die Zusammenführung verschiedener Schultypen in einem Schulzentrum, in dem möglichst große Schülerzahlen unter möglichst gleichen – und immer idealen – Bedingungen unterrichtet werden sollten, wurde zum Prinzip der Schulpolitik und damit auch zu dem der Schularchitektur. Die ältere und jetzt herrschende Schularchitektur ist vom Gedanken der Kollektivierung von Bildung beseelt. Es entstanden Schulzentren oder „zentrale Mittelpunktschulen“. Der Baustil war der der Moderne, wie sie sich in den zwanziger Jahren international durchgesetzt hatte; die deutschen Schulhäuser folgten dem Vorbild des Dessauer Bauhauses, dessen architektonische Leitlinie kühle Funktionalität hieß und das zum Modell wurde nicht nur für die innovativen architektonischen Entwürfe der zwanziger Jahre, sondern auch für die Plattenbauarchitektur der DDR. Das englische Architektenehepaar Alison und Peter Smithson hat schon in den fünfziger Jahren das Modell jener architektonischen Verwahrlosung entworfen, die in den folgenden Jahrzehnten den Raum darstellte, in dem Schüler lernen sollten. Ihre Hunstanton-Schule wurde zum Vorbild auch für die deutsche Schularchitektur der späten sechziger und der siebziger Jahre.
Die Räume, in denen Menschen arbeiten und lernen sollen, sagen nicht nur etwas aus über die Qualität der Arbeit, die dort geleistet wird, und die Wertschätzung, die ihr entgegengebracht wird. Sie beeinflussen die Qualität der Arbeit auch direkt; das ist keine neue Einsicht. Aus den Schulhäusern wurden in den siebziger Jahren Lernfabriken, die den Lehrern wie den Schülern demokratische Arbeitsplätze boten. Lange und ernsthaft wurde darüber diskutiert, in welcher Beziehung die Schule zu ihrer räumlichen Umgebung stehen sollte. Die Diskussionen führten zu dem Ergebnis, dass die Schule von ihrer sozialen und natürlichen Umgebung weitgehend abgetrennt werden muss, um zum idealen Lernort werden zu können.
Auch architektonisch wird die Schule zu einem Raum, der sich selbst genügt. In vielen Details zeigt die moderne Schularchitektur den Einfluss dieser Auffassung. Die Pädagogen kamen zu dem Ergebnis, dass künstliches Licht dem natürlichen vorzuziehen sei: „Künstliches Licht ist demokratisch; es gewährt ‚Chancengleichheit‘ auf allen Plätzen.“ (Schneider, Schulbau, 57) Künstliches Licht ist nicht von Witterungsverhältnissen und Tageszeit abhängig; es optimiert die Lernumgebung, weil es den Verzicht auf Fenster erlaubt: Die nutzbaren Wandflächen werden größer, die Lärm- und Schmutzbelästigungen von außen werden minimiert, und vor allem werden die Schüler vor ablenkenden Außenreizen geschützt, die durch die Fenster in die Klassenzimmer eindringen könnten. Nur mühsam hat die Schularchitektur heute wieder zu jener medizinischen Einsicht zurückgefunden, die bereits in den sechziger Jahren verfügbar gewesen wäre: dass in den schulischen „Innenräumen Belichtungsverhältnisse geschaffen“ werden sollen, „die den besten Verhältnissen in der freien Natur entsprechen“. (Kühn, Schulhaus, 498)
Die Folgen dieser Entwicklung lassen sich noch heute besichtigen. Sie sind mit dem bloßen Auge erkennbar in der Schul- und Universitätsarchitektur jener damals neu gegründeten Schulzentren und neu gebauten Universitäten. Wie so oft hat die Schularchitektur dieser Jahre den gegenteiligen Effekt dessen erzielt, was sie anstrebte. Chancengleichheit durch eine demokratische Erziehung waren die Ziele, aber die architektonischen Mittel führten gerade zur Aussperrung und Ghettoisierung der Schüler aus dieser Gesellschaft.
Noch heute zeugen die verlassenen Schulgebäude in den Dörfern von diesem Zwang zur Kollektivierung, dem die verächtlich als „Zwergschule“ abgewiesene Dorfschule zum Opfer gefallen ist. Das bayerische Schulgesetz von 1950 etwa forderte in seinem § 2 noch lapidar, dass in jeder bayerischen Gemeinde „grundsätzlich wenigstens eine Volksschule“ eingerichtet werden müsse. In den sechziger Jahren besuchten noch über 60 % der bayerischen Schüler solche Schulen; bald darauf wurden sie radikal im Zuge des bildungspolitischen Fortschritts abgeschafft. Die Schaffung von „Mittelpunktschulen“ hat auch in den anderen Bundesländern zügig zur Abschaffung der „Kleinstschulen“ geführt, trotz großer praktischer, vor allem Transportprobleme und trotz des Widerstandes vor allem in den Ländern, in denen Konfessionsschulen eine größere Rolle spielten. (Führ, Schulversuche in der Bundesrepublik, 28 f.) Die neuen Schulen der sechziger Jahre sind auf pure Größe hin angelegt. Sie folgen dem pädagogischen Gesetz einer Bildungspolitik, deren Leitlinie Demokratisierung durch Kollektivierung hieß und deren didaktisches Credo die „Verwissenschaftlichung des Unterrichts“ war. In der Wohlstandsgesellschaft der siebziger Jahre konnten solche Vorstellungen unverzüglich in Baumaßnahmen...