3 Unterschiedliche Zugänge zur Sandspieltherapie
3.1 Verstehende Auslegung (Hermeneutik) und kausalwissenschaftliche Analyse
In diesem Kapitel soll der Versuch unternommen werden, zwei verschiedene Zugänge zur Sandspieltherapie gegenüberzustellen: Einerseits die Psychoanalyse und analytische Psychologie, die sich mit inneren psychischen Prozessen beschäftigen, und andererseits die akademische Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich als empirisch begründeter Teil der medizinischen Wissenschaften versteht. Es soll gezeigt werden, dass diese grundverschiedenen wissenschaftlichen Zugänge zur Sandspieltherapie sich nicht widersprechen müssen, sondern, im Gegenteil, sich ausgesprochen sinnvoll ergänzen. Dies wird nur gelingen, wenn die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Methodik beachtet und respektiert werden.
Die Unterschiede der beiden Zugänge werden z. B. an Form und Inhalt der jeweiligen Fachtagungen deutlich. Bei den Sandspieltagungen (ISST und DGST) werden überwiegend Einzelkasuistiken, Symboldarstellungen, Aspekte der Jung’schen Psychologie (wie z. B. des Selbst oder des Schattens) und technische Probleme (wie die der Gegenübertragung) vorgestellt. Statistische Untersuchungen über größere Gruppen von Patienten sind die Ausnahme. Die Dauer der Vorträge beträgt üblicherweise 1–1,5 Stunden. Dieses Setting, kombiniert mit der Bereitschaft, sich offen auszutauschen, schafft eine tragende intensive Gruppenatmosphäre, die nicht nur die tiefen inneren Prozesse der Patienten würdigt, sondern auch den beteiligten Therapeuten die Möglichkeit gibt, ihre eigenen tiefen Erfahrungen auszutauschen. Manches wirkt jedoch auch befremdlich: bei manchen Vorträgen wird eine „pseudo-sakrale“ Atmosphäre induziert, wo eine mehr nüchterne, aber durchaus empathische Distanz eher angebracht wäre. Auch entsprechen viele Kasuistiken nicht den aktuellen Standards, die z. B. in der Kinderpsychiatrie als selbstverständlich gelten. Oft fehlen eine genaue Anamnese, Diagnosen, testpsychologische Befunde, eine Formulierung der Psychodynamik und eine Einschätzung des Schweregrades der Störung. Oft wird nicht klar, ob die Kasuistik wirklich einem „klinischen Fall“ entspricht, oder ob eher „subklinische Symptome“ ohne entsprechenden klinischen Schweregrad behandelt werden. Untersuchungen mit Zahlen und Statistiken stoßen auf weniger Interesse, z. T. wird die grundlegende Frage geäußert, ob so etwas überhaupt notwendig sei.
Im Gegensatz dazu kann man auf Tagungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie oft das Gegenteil erleben: brillante, methodisch hervorragende Vorträge zu Grundlagen, wie auch zu Therapien von kinderpsychiatrischen Störungen – Daten, die für die Zukunft richtungweisend sein können. Die Vortragsdauer ist kurz, 10–20 Minuten maximal und ein wirklich persönlicher Austausch ist weniger erwünscht. Bei den vielen Tabellen und Statistiken drängen sich eher Gedanken auf wie: wo bleibt der Mensch, das individuelle Kind und seine Familie, was denken und fühlen die vielen „Probanden“ wirklich? Themen der Psychoanalyse werden ausgegrenzt, da impliziert vorausgesetzt wird, dass diese überhaupt nicht wirksam ist.
So verschieden diese Welten – Sandspieltherapie und Kinderpsychiatrie – auch sind, eines haben sie gemeinsam. Sie sind durch eine Dichotomie geprägt, in der das eine als wertvoll, notwendig und sinnvoll angesehen wird – das andere ignoriert und ausgegrenzt wird. Noch deutlicher wird diese Dichotomie, wenn aktuelle Lehr- oder Handbücher herangezogen werden. In dem aktuellsten Standardlehrbuch für Kinder- und Jugendpsychiatrie von Steinhausen (2002) taucht der Begriff „Sandspieltherapie“ natürlich nicht auf. Das Stichwort „Psychoanalyse“ wird auf zwei von 450 Seiten abgehandelt. Es wird darauf hingewiesen, dass die klassische, hochfrequente Kinderpsychoanalyse mit 3–5 Sitzungen pro Woche eher eine randständige Bedeutung hat, dass an ihre Stelle verschiedene Formen der psychodynamischen, bzw. tiefenpsychologisch orientierten Form der Psychotherapie mit 1–2 Wochenstunden getreten sind. In diesem Lehrbuch werden zumindest einige Grundbegriffe der Psychoanalyse erläutert. In der „Bibel“ der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dem Lehrbuch von Rutter und Taylor (2002), findet sich im Stichwortverzeichnis weder die „Sandspieltherapie“ noch die „Psychoanalyse“. Stattdessen werden „psychodynamische Therapien“ auf 5 von 1209 Seiten abgehandelt und vor allem die nicht spezifischen Effekte der therapeutischen Beziehung betont.
Andererseits, wenn man moderne Handbücher der Sandspieltherapie betrachtet, finden sich keine Hinweise zu Stichwörtern, die für Kliniker von Bedeutung sind. So werden weder spezifische Störungen wie depressive, emotionale oder Persönlichkeitsstörungen erwähnt, noch finden sich Stichworte wie Indikation, Effektivität und andere Therapieansätze wie die der Verhaltenstherapie. Stattdessen findet man z. B. in dem hervorragenden Buch von Mitchell und Friedman (1994) einen detaillierten historischen Abriss von den Ursprüngen zur derzeitigen Praxis und Theorie der Sandspieltherapie. In Bradway und McCoard (1997) finden sich weise, auf einer langen Erfahrung beruhende Reflektionen zur Sandspieltherapie allgemein, zur analytischen Psychologie Jungs, zur Symbolik und zur Praxis in vielen Einzelbeispielen.
Diese Dichotomie, Abgrenzung, sogar Verleugnung, ja sogar die unterschiedliche Sprache, sind verwunderlich. Es soll im Folgenden erarbeitet werden, dass diese Kommunikationslosigkeit und die daraus resultierenden Missverständnisse z. T. auf grundlegenden methodischen Unterschieden beruhen. Dazu ist es jedoch notwendig, die zugrundeliegenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu erläutern.
Die Unterschiede lassen sich zunächst nicht, wie man vermuten könnte, durch den Begriff „Empirie“ erklären. Man könnte naiverweise denken, dass es sich bei der Kinderpsychiatrie um einen empirischen, bei der Sandspieltherapie um einen nicht-empirischen Zugang handelt. Betrachtet man die Definition des Begriffes Empirie, so wird rasch deutlich, dass die Empirie an sich kein Unterscheidungsmerkmal darstellt. Nach dem Wörterbuch der Psychologie (Hehlmann, 1974) fordert die empirische Psychologie „die Verifizierbarkeit aller Einsichten durch Erfahrung“ (Beobachtung, Experiment, Messung, Umfrage, statistische Erhebung).
Jedoch wird die Empirie „unterschiedlich weit, bzw. eng definiert. Prinzipiell ist jede wissenschaftliche Psychologie auch empirische Psychologie“. In anderen Worten, die Beobachtungen und Erfahrungen, die sich in einer Sandspieltherapie aufdrängen, sind genau so „empirisch“ wie eine experimentelle Untersuchung.
Die Unterscheidung liegt grundlegender und wurde am besten und treffendsten in einem kurzen Lehrbuchkapitel von Tress und Junkert-Tress (1997) dargestellt. Die Autoren argumentieren präzise und verständlich, dass die psychotherapeutische Medizin (und damit alle anderen „Psychofächer“ wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die akademische Psychologie, die Psychosomatik usw.) auf zwei verschiedene Diskurse angewiesen sind:
- Auf die kausalwissenschaftliche Analyse und
- auf den sinnerschließend-hermeneutischen Zugang.
Kausalwissenschaftliche Analyse. Sie ist in bio-medizinischen, jedoch auch in biopsycho-sozialen, ja sogar nur psycho-sozialen Untersuchungen der dominierende Diskurs. Die kausalwissenschaftliche Analyse „sucht als Mehr-Ebenenforschung nach empirisch reproduzierbaren, naturgesetzlichen Regelmäßigkeiten zwischen Datensätzen“ (Tress & Junkert-Tress, 1997, S. 73). Dabei war sie ausgesprochen erfolgreich und hat in den letzten Jahrzehnten entscheidende Erkenntnisse über Zusammenhänge der Genetik, Immunologie, Endokrinologie, Neurobiologie und psychiatrischen Störungen, Verhaltenssymptome, Befindlichkeitsscores und neuropsychologischen Parametern erstellen können. Selbst rein „psychologische“ Untersuchungen ohne jegliche biologische Komponente folgen diesem Diskurs. Tress und Junkert-Tress (1997, S. 73) merken jedoch kritisch an, dass „in einem weiteren Sinne hier seelische Phänomene eben doch als physisch-kausalgenetisch verstanden werden, wobei subjektives Erleben durchaus zugelassen bleibt“. Die „individuelle Bedeutung ist jedoch als Problem verschwunden“. Das heißt, die Frage, was dieser individuelle Mensch in seinen persönlichen Nuancen denkt und empfindet, ist ausgegrenzt. Um dieses zu erfassen, ist der zweite Zugang notwendig.
Sinnerschließend-hermeneutischer Zugang. Bei diesem Zugang geht es um „subjektive (und inter-subjektive) Sinn-Erlebens- und Handlungshorizonte, eingebettet in die jeweiligen kulturellen Felder“. Es handelt sich um einen Diskurs der subjektiven Bedeutungen des Individuums und der intentionalen Handlungen. Darunter wird verstanden, dass Handlungen für das Individuum als „sinnrational“ verstanden werden können „angesichts eines Hintergrundes von Normen, Motiven, Gefühlen, Meinungen und wahrgenommenen Situationen“ (Tress & Junkert-Tress, 1997, S. 72).
Diese beiden Zugänge „folgen jeweils anderen Spielregeln, haben eine eigene Grammatik, eine eigene Wissenschaftssprache“. Da sich selbst das Vokabular grundlegend unterscheidet, sind Missverständnisse vorprogrammiert – ohne ein Bemühen, sich in die jeweils andere Zugangsart hineinzudenken. Die beiden Analyseformen „können sich zwar gegenseitig entscheidend beeinflussen, können aber nicht als Epiphänomen des anderen begriffen werden“ (Tress & Junkert-Tress, 1997, S. 71). „Beide sind reale Tatbestände und damit mögliche Gegenstände wissenschaftlicher Betrachtung“ (S....