Apostolin und Sünderin:
Mittelalterliche Rezeptionen Marias von Magdala
Andrea Taschl-Erber
Universität Graz
Die mittelalterliche Wirkungsgeschichte Marias von Magdala zu untersuchen bedeutet, die Wurzeln der westkirchlichen Legendenfigur zu beleuchten, deren Wirkmächtigkeit im kulturellen Bewusstsein sich trotz intensiver und vielfacher Forschungen historischkritischer wie feministischer Exegese kaum schmälern ließ. Dabei erlaubt das vielschichtige mittelalterliche Porträt mit seinen Ambivalenzen in diesem Rahmen keine umfassende Darstellung, sondern die Fülle an Material nötigt zu einer Auswahl. So richtet sich der Fokus der vorliegenden Studie vor allem auf die Rezeption der genuin biblischen Rolle Marias von Magdala als verkündigende Osterbotin.1 Inwieweit lassen sich Spuren der Apostolin bis an die Schwelle zur Neuzeit verfolgen?
1. Eine Mischgestalt aus verschiedenen neutestamentlichen Frauenfiguren
Ausgangspunkt der mittelalterlichen Magdalenenrezeptionen im Westen ist nach den patristischen Weichenstellungen2 nicht – oder nicht nur – die biblische Figur Marias von Magdala. Stattdessen haben wir es mit der – in einer Linie zusammenlaufenden – Wirkungsgeschichte von ursprünglich verschiedenen neutestamentlichen Frauengestalten zu tun. Aufgrund der Tendenz, gleichnamige Frauen zu identifizieren und ähnliche Erzählungen, in diesem Fall die diversen Salbungsgeschichten,3 zu harmonisieren, wurde Maria von Magdala, deren Attribut als österliche Myrophore das Salbgefäß darstellt, insbesondere mit ihrer betanischen Namensverwandten, der Schwester Martas (siehe Lk 10,38–42; Joh 11,1–45; 12,1–8), sowie der anonymen Sünderin aus Lk 7,36–50 gleichgesetzt.4 Zusätzlich wurde das Einheitsbild durch eine entsprechende Interpretation der in Lk 8,2 (sowie im sekundären Mk-Schluss) erwähnten sieben Dämonen gestützt. Bereits Hieronymus (ca. 347–420), der anderorts die Erstzeugenschaft der Osterbotinnen als „Apostolinnen der Apostel“ herausstreicht,5 erzielt hier durch ein Zitat von Röm 5,20 einen Konnex mit Sündhaftigkeit:
Maria Magdalena ist eben diejenige, von der er sieben Dämonen ausgetrieben hatte (Maria Magdalene ipsa est, a qua septem daemonia expulerat), sodass, wo im Übermaß Sünde gewesen war, in übergroßem Maß Gnade war (ut, ubi abundauerat peccatum, superabundaret gratia) ...6
Dasselbe Zitat begegnet bei Ambrosius7 (um 340–397) freilich im Kontext des Eva-Motivs, das seit Hippolyt8 (ca. 170–235) das Osterapostolat „der Frau“ als Wiedergutmachung ihrer Schuld deutet. Daher ist zunächst von einer generalisierenden misogynen Rede anstatt einer individualisierenden, konkret auf Maria von Magdala bezogenen Interpretation auszugehen.
Eine explizite Identifikation mit der Figur der Sünderin, welche sich kraft seiner Autorität in der Westkirche durchsetzte, bietet jedoch schließlich Gregor der Große (um 540–604):
Von dieser aber, welche Lukas eine sündige Frau, Johannes Maria nennt, glauben wir, dass sie jene Maria ist, aus der, wie Markus bezeugt, sieben Dämonen ausgetrieben worden waren (Hanc uero quam Lucas peccatricem mulierem, Iohannes Mariam nominat, illam esse Mariam credimus de qua Marcus septem daemonia eiecta fuisse testatur). Und was (bedeuten) die sieben Dämonen, wenn nicht sämtliche Laster bezeichnet werden (Et quid septem daemonia, nisi universa uitia designantur)?9
Mit seinen Homilien, die auch in der mittelalterlichen Liturgie, insbesondere am Festtag Maria Magdalenas (22. Juli10), verwendet wurden, schuf er die Basis für die Legendenentwicklung, was die „biblische“ Vita der Heiligen betrifft, und beeinflusste weitgehend die mittelalterlichen Magdalenenpredigten und -dichtungen.11 Später wurde teilweise auch die Samaritanerin „in das Magdalenenmotiv eingeschmolzen“12, ferner die Ehebrecherin aus Joh 8.13 Gegenüber diesem westlichen Einheitsbild hielt die ostkirchliche Tradition allerdings an der Verschiedenheit der einzelnen Frauen fest und verehrt bis heute Maria von Magdala als „apostelgleiche“ (ίσαπόστολος) Osterzeugin.
Drei Aspekte prägen nun wesentlich die „Magdalenologie“ im Westen, um mit einigen flotten Strichen das komplexe mittelalterliche Magdalenenbild zu skizzieren:
- Als bekehrte und erlöste Sünderin repräsentiert Maria Magdalena die Antwort auf die Grundfrage des mittelalterlichen Menschen nach der Erlangung des Seelenheils und avanciert zu einer der populärsten Heiligen. Die Entwicklung läuft vom biblischen Sinnbild zum individuellen Vorbild und schließlich zur mächtigen Fürsprecherin. Ebenso fungiert sie aber auch als Typos für die sündigende und sich bekehrende Kirche und demgemäß als Symbolfigur für kirchliche Selbstkritik wie – von verschiedenen Orden getragene – Reformbewegungen. Damit wird die patristische Ekklesia-Typologie, die in der Zeugin des Auferstandenen die Kirche verkörpert sieht, fortgesetzt, wobei sich freilich der Akzent von der Verkündigung auf die Themen Reue und Umkehr verschiebt.
- Ausgehend von der vita contemplativa der betanischen Maria wird die Gestalt der Büßerin zur Patronin der eremitischen Bewegung, Vorbild für Askese und Weltflucht.
- Doch blieb auch das Wissen um die Erstzeugin des Auferstandenen lebendig. Der Aspekt der Apostolin und Verkünderin wird weiter ausgebaut in den Legenden des Apostolats Maria Magdalenas in Frankreich. Ihre vita apostolica reflektiert verschiedene Seiten (Armut, Wanderpredigt) der Identität der neu aufkommenden Mendikantenorden.
Mittels einer solcherart instrumentalisierten und dadurch kontrollierten Magdalenenfigur wird angesichts konkurrierender Protestbewegungen gegenüber der kirchlichen Hierarchie das Reformpotential innerkirchlich kanalisiert.
2. Impulse für die mittelalterliche Magdalenenverehrung
2.1 Magdalenenkult, Kirchenreform und Reliquienstreit
Zur mittelalterlichen Entwicklung der Magdalenenverehrung leistete die cluniazensische Reformbewegung einen wesentlichen Beitrag, unter deren Einfluss das Vorbild der Reue und Buße übenden Sünderin als Beispiel menschlicher Schuld und göttlicher Barmherzigkeit in Bußpredigt und -dichtung aufgenommen und verbreitet wurde. Eine weite Rezeption fand die traditionell Odo von Cluny (um 878–942), dem 2. Abt des 910 gegründeten Klosters, zugeschriebene Magdalenenpredigt, durch die Maria Magdalena eine individuelle Gestalt gewann. Sein Sermo II: In veneratione sanctae Mariae Magdalenae stellt nämlich nicht mehr eine Homilie zu einer bestimmten Perikope dar, sondern ist „zur Verehrung der heiligen Maria Magdalena“ verfasst. Die biblische Vita der Heiligen ergibt sich aus der Exegese der auf sie bezogenen Episoden (Salbung durch die Sünderin; Maria und Marta; Auferweckung des Lazarus; Passion und Ostern), welche an die patristische Auslegung anknüpft und durch legendarische Ausschmückungen und allegorische Exkurse erweitert wird.14 Dabei wird mehrfach die Kirchentypologie der Magdalenengestalt herausgestellt. In einem etymologischen Exkurs etwa wird das zuvor als castellum („Burg, Feste“) gedeutete „Magdalum“, nach dem Maria Magdalena benannt worden sei15 (ein erster Beleg für ihre adelige Herkunft in der mittelalterlichen Legendenentwicklung),16 „zum Turm der Kirche, der den Feinden Widerstand leistet“17.
Wie die Magdalenenhomilien Gregors beeinflusste dieser Text vor allem die monastische Liturgie und wurde als Magdalenenvita ab dem 11. Jh. in die lateinischen Legendarien aufgenommen (vita evangelica).18 Eine besondere Rolle spielte dabei das im Verband von Cluny befindliche Benediktinerkloster in Vézelay (Burgund), das erste bedeutende Kultzentrum Maria Magdalenas im Westen.19
Die Abtei wurde um 860 von Graf Girart de Roussillon und seiner Frau Bertha gegründet. Im Jahre 1037 wurde Abt Geoffroi gewählt, der die cluniazensische Reform einleitete und im Zuge der monastischen Erneuerung den Magdalenenkult einführte.20 Erstmals wurde das Patronat Maria Magdalenas (welches ein altes marianisches später sogar gänzlich ersetzte) in einer Bulle Leos IX. von 1050 erwähnt, Papst Stephan IX. bestätigte 1058 darüber hinaus auch ihr Grab an diesem Ort. Damit entwickelte sich Vézelay von einer Station auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela mit dem Grab des Jakobus zunehmend zu einem selbstständigen, wirtschaftlich florierenden und (gerade auch im Zusammenhang der Kreuzzugsbewegung) politisch bedeutenden Wallfahrtszentrum mit einem konkurrierenden Apostelgrab. Eine blühende Legendenbildung erklärte in teils widersprüchlichen Versionen den Besitz der Reliquien der „Apostolin Frankreichs“ (Meerfahrt der Heiligen von Palästina nach Südfrankreich,21 Überführung der Reliquien aus dem ursprünglichen Grab in der Provence, Wundererzählungen). In einer Phase des Niedergangs inszenierten die Mönche 1265 gegen rivalisierende Reliquienansprüche der Provenzalen unter der Anwesenheit päpstlicher Legaten die Entdeckung der Gebeine, 1267 wurden sie vor Ludwig IX. sowie geistlichen und weltlichen Würdenträgern feierlich zur Schau gestellt.
Doch war der Zenit für Vézelay längst überschritten, nach einer entsprechenden „Auffindung“ des Leichnams der Heiligen 1279 in der Krypta von...