Der Kanzlerposten als Schleudersitz – Die kurzen Amtszeiten
Das hervorstechende Merkmal der Weimarer Reichskanzler und zugleich die wichtigste Ursache dafür, dass sie weitgehend in Vergessenheit geraten sind, stellen ihre kurzen Amtszeiten dar. Das Amt des Kanzlers in der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch eine große, manchmal übergroße Kontinuität aus. Seit Gründung der zweiten deutschen Demokratie im Mai 1949 sind nunmehr 63 Jahre vergangen und mit Angela Merkel amtiert erst der achte Bundeskanzler. Die durchschnittliche Amtsdauer liegt damit bei knapp acht Jahren. Dieses beruhigende Gefühl der Stabilität kennzeichnete auch das Deutsche Reich bis 1917. In den 46 Jahren seit der Proklamation des Kaiserreiches 1871 residierten bis 1917 nur fünf Reichskanzler in der Wilhelmstraße in Berlin. In den knapp 16 Monaten bis zur Novemberrevolution sollten allerdings noch drei Nachfolger hinzukommen. Dieser beschleunigte Kanzlerwechsel war ohne Zweifel ein Symptom für die Krise des im Untergang begriffenen Kaiserreiches.
Den Zeitgenossen der Weimarer Republik musste der häufige Kanzlerwechsel zwangsläufig ebenfalls als Zeichen einer Krise, ja einer Dauerkrise erscheinen. In den 14 Jahren von 1919 bis 1933 regierten zwölf Kanzler in 14 Kanzlerschaften und 20 Kabinetten. Dies ergibt pro Kanzler eine durchschnittliche Regierungszeit von rund 14 Monaten. Nur Hermann Müller, Joseph Wirth, Wilhelm Marx, Hans Luther und Heinrich Brüning brachten es überhaupt auf Amtsjahre, ihre übrigen sieben Kollegen lediglich auf Amtsmonate. Während der 19-jährigen Kanzlerschaft Otto von Bismarcks, der 14-jährigen Konrad Adenauers und der 16-jährigen Helmut Kohls wurden jeweils mehrere Jahrgänge volljährig, ohne bewusst einen Kanzlerwechsel erlebt zu haben. Zu Zeiten der Weimarer Republik gab es diese Erfahrung nicht. Nur in den Jahren 1924, 1927, 1929 und 1931 wurde kein Kanzler ausgetauscht, in den übrigen Jahren gab es mindestens einen, wenn nicht zwei Kanzlerwechsel wie in den „Dreikanzlerjahren“ 1920, 1923 und 1932. Natürlich verzerrt jede Statistik. Aber nur ein einziger Kanzler der Weimarer Republik, Wilhelm Marx, brachte es in zwei Kanzlerschaften mit insgesamt drei Jahren und zweieinhalb Monaten auf eine längere Amtszeit als Kurt Georg Kiesinger und Ludwig Erhard, die beiden Amtsinhaber mit der kürzesten Amtszeit nach 1949, womit sich Wilhelm Marx bereits den ironischen Beinamen des „ewigen Kanzlers“ verdiente.
Für die Kürze ihrer Amtszeiten können die Weimarer Kanzler zumeist nicht verantwortlich gemacht werden. Die zwei Hauptursachen dafür waren die verfassungstechnische Konstruktion des Reichskanzleramtes in der Weimarer Reichsverfassung sowie die Zusammensetzung und der Charakter des Weimarer Parteiensystems.
Das Amt des Reichskanzlers wurde in der Weimarer Reichsverfassung erheblich geschwächt. Der hehre Gedanke, damit die Demokratie zu stärken, spielte letztlich den Feinden der Demokratie in die Hände, wobei man der Fairness halber sagen muss, dass sich die Verfassungsgeber des Jahres 1919 nur an der Vergangenheit orientieren und nicht in die Zukunft schauen konnten. Als Reichsinnenminister Eduard David nach der Annahme der Verfassung in der Nationalversammlung am 31. Juli 1919 ausführte: „Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt“, konnte niemand ahnen, welches Gefahrenpotenzial in dieser Definition steckte. Der Reichskanzler des Kaiserreiches wurde vom Monarchen ausgewählt, ernannt und entlassen und war deshalb völlig von dessen Vertrauen abhängig. War dieses Vertrauen nachhaltig gestört, musste der Reichskanzler zurücktreten. Der berühmteste Fall war die Demission des greisen Reichskanzlers Bismarck auf Wunsch des fast 44 Jahre jüngeren Kaisers Wilhelm II. im März 1890. Völlig unabhängig hingegen war der Reichskanzler bis 1918 vom Vertrauen des Reichstages, was symptomatisch Anfang Dezember 1913 zum Ausdruck kam, als das Parlament während der so genannten Zabern-Affäre Theobald von Bethmann Hollweg mit einer Vierfünftelmehrheit das Misstrauen aussprach. Dies hatte keinerlei Auswirkungen, denn Bethmann blieb noch weitere dreieinhalb Jahre im Amt.
Philipp Scheidemann:
„Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!“
Ausrufung der Republik am 9. November 1918
Die Weimarer Reichsverfassung konstruierte eine doppelte Abhängigkeit des Reichskanzlers sowohl vom Vertrauen des Reichspräsidenten als auch vom Vertrauen des Reichstages, der den Regierungschef mit einfacher Mehrheit stürzen konnte, ohne gleichzeitig einen Nachfolger wählen zu müssen. In Weimar war der spektakulärste Kanzlersturz derjenige von Heinrich Brüning Ende Mai 1932, als Reichspräsident Hindenburg ihm überraschend das Vertrauen entzog. Brünings Ablösung leitete die letzten acht Monate der Agonie der Weimarer Republik ein. Während nur ein einziger Kanzler, Hans Luther am 12. Mai 1926, durch ein destruktives Misstrauensvotum gestürzt wurde, kamen mehrere seiner Kollegen ihrem erwarteten Sturz durch einen Rücktritt zuvor. Die Staatssekretäre, wie die Minister im Kaiserreich betitelt wurden, waren entsprechend der Definition des Verfassungsrechtlers Gerhard Anschütz „lediglich Stellvertreter und Gehilfen des Reichskanzlers, der in jedem Ressort jederzeit jede Amtshandlung anordnen oder selbst vornehmen konnte“. Auch hierin stufte die Weimarer Reichsverfassung die Position des Reichskanzlers herab, indem die Minister ihre Ressorts selbstständig innerhalb der vom Regierungschef vorgegebenen Richtlinien der Politik führten. Die auch im Grundgesetz verankerte Richtlinienkompetenz des Kanzlers stößt seit 1949 in denjenigen Fällen an ihre Grenzen, in denen Koalitionspartner selbstbestimmt und im eigenen Interesse handeln. Da absolute Mehrheiten auf Bundesebene bis auf die Jahre 1957 bis 1961 nicht vorgekommen sind, sind Koalitionsregierungen der Regelfall. Während der Weimarer Republik war die Zahl der Koalitionspartner größer – der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller 1928 bis 1930 gehörten fünf Parteien an – und damit die Durchsetzung der Richtlinienkompetenz schwieriger.
Das Grundgesetz hat aufgrund der Erfahrungen von Weimar den Bundeskanzler erheblich gestärkt. Es hat ihn aus der Abhängigkeit vom Vertrauen des Staatsoberhauptes völlig befreit. Die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten ist ein rein formeller Vorgang ohne jede Einflussmöglichkeit. Das Grundgesetz hat das Staatsoberhaupt entmachtet und an seiner Stelle dem Regierungschef die größte Machtfülle zugewiesen. Der Bundeskanzler kann nur noch durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden, indem mit der Abwahl des bisherigen Amtsinhabers zeitgleich ein Nachfolger gewählt wird.
Die verfassungstechnische Schwäche des Weimarer Reichskanzlers wäre vermutlich nicht so fatal zum Tragen gekommen, wenn die Parteienlandschaft eine andere gewesen wäre. Durch die Einführung des reinen Verhältniswahlrechts ohne Prozentklausel erhöhte sich die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien deutlich. Rund 60 000 Stimmen waren notwendig, um einen Vertreter in den Reichstag zu entsenden. Nach der Reichstagswahl am 20. Mai 1928, als die Weimarer Welt noch in Ordnung war, zogen Abgeordnete von 13 Parteien in den Reichstag ein, nach dem Urnengang am 14. September 1930 sogar 15 Parteien. Neben die Zersplitterung der Parteien trat als noch gravierenderer Faktor ihre Einstellung zur Weimarer Demokratie. Sowohl in der Nationalversammlung 1919 als auch im Parlamentarischen Rat 1949 stimmten rund ein Fünftel der anwesenden Abgeordneten gegen die Verfassung. Allerdings sehnte sich 1949 keiner der Neinsager aus den Reihen von CSU, Deutscher Partei, KPD und Zentrum nach dem NS-Regime zurück, während der Anteil der Nostalgiker 1919 beträchtlich war. Die sogenannte Weimarer Koalition aus SPD, katholischer Zentrumspartei und linksliberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP), also derjenigen drei Parteien, die sich vorbehaltlos auf den Boden der Weimarer Republik stellten, erzielte zwar bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 eine Dreiviertelmehrheit, aber bereits bei den Wahlen zum ersten Reichstag im Juni 1920 verfehlte diese Konstellation die absolute Mehrheit deutlich. Unter den 20 Kabinetten der Weimarer Republik waren deshalb 14 Minderheitsregierungen. Lebensgefährlich für die parlamentarische Demokratie wurde die Situation allerdings erst, als die Monarchie-Nostalgiker von denjenigen beiden Parteien in den Hintergrund gedrängt wurden, die keine Rückkehr des Kaisers, sondern die Errichtung einer Diktatur anstrebten. Hatten KPD und NSDAP bei den Reichstagswahlen von 1928 zusammen nur 13,2 Prozent der Stimmen erzielt, so triumphierten sie 1930 mit 31,3 Prozent und konnten bei den beiden Wahlen 1932 mit 51,6 bzw. genau 50 Prozent das parlamentarische System paralysieren.
Die Weimarer Reichskanzler waren grundsätzlich also weder unfähiger noch weniger integer als ihre Vorgänger im Kaiserreich oder ihre Nachfolger in der Bundesrepublik Deutschland. Das zersplitterte Weimarer Parteiensystem, die Fragilität der Regierungskoalitionen und das Anwachsen systemfeindlicher Parteien der extremen Linken und Rechten auf der einen Seite und die Leichtigkeit des Kanzlersturzes über ein destruktives Misstrauensvotum oder den Vertrauensentzug des Reichspräsidenten auf der anderen Seite machten das Amt in der ersten deutschen Demokratie zu einem Schleudersitz.
Die Kanzleraspiranten waren sich dieser prekären Situation zumeist voll bewusst. Kein Demokrat drängte in das Amt und rüttelte, wie dies für Gerhard Schröder Jahrzehnte...