2 Bausteine zum heutigen Verständnis von Entwicklung
2.1 Eigenaktivität
Es besteht heute weitgehend Übereinstimmung in der Auffassung, dass Kinder die Akteure ihrer eigenen Entwicklung sind. Annahmen, dass der genetische Code oder die Einflüsse der Mitwelt und Umwelt einen Menschen festlegen, gelten als überholt und nicht zutreffend. Bahnbrechend waren in diesem Zusammenhang u.a. die Arbeiten der Neurobiologen Maturana und Varela (z.B. 1990). Sie konnten zeigen, dass der Mensch als lebendes System die Freiheit hat, sich seine Welt zu schaffen, anstatt nur auf Vorgegebenes zu reagieren, wenn Grunderfordernisse des Lebens erfüllt sind. Nach ihren Befunden ist der Mensch als Subjekt entscheidend an der Schöpfung seiner nur scheinbar objektiven Wirklichkeit beteiligt.
Entwicklung aktiv mitgestalten
Aufgrund seiner Forschungen und Erfahrungen mit Kindern hat Schlack in seinen Arbeiten immer wieder betont, dass die Eigenaktivität des Kindes Motor seiner Entwicklung ist (z.B. 1995, 1997, 2000). Das Kind ist von Anfang an aktiv in Interaktion mit Mitwelt und Umwelt. Es nimmt Entwicklungsreize selektiv auf. Mit Hilfe seiner genetischen Ausstattung nimmt es Einfluss auf seine Entwicklung (2000, 31). Schlack stellt fest, dass nichtbehinderte und behinderte Kinder ihre Entwicklung aktiv mitgestalten. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen »sprechen dafür, dass das behinderte wie auch das nichtbehinderte Kind sich in erster Linie durch eigene Aktivität entwickelt, dass es nur solche ... Anregungen in funktionelle Fortschritte umsetzt, die seiner Motivation und seinem Handlungsrepertoire gemäß sind; dass das Kind selbst also der Akteur seiner Entwicklung sein muss« (1997, 16).
Die heutige Sichtweise betont die im Kind angelegte Entwicklungsdynamik, die durch vielfältige Austauschprozesse in Kompetenzen, Lernvorgängen, Verhaltensweisen Gestalt annimmt.
Largo (1995, 16) spricht vom inneren Drang des Kindes, sich zu entwickeln, sich Fähigkeiten und Wissen anzueignen.
Es besteht Konsens, dass die innewohnende Entwicklungsdynamik nur zum Tragen kommen kann, wenn das Kind förderliche Bedingungen für seine Entwicklung hat, so dass es immer wieder positive Erfahrungen in mitmenschlichen Beziehungen und mit der Dingwelt machen kann.
Ist nun aber das Kind Akteur seiner Entwicklung, dann ist der Versuch widersinnig, mit ihm Entwicklung nach vorgegebenem Plan fremdbestimmt einzuüben. Diese Konsequenz wird in der Förderung von Kindern mit Behinderungen wenig beachtet beziehungsweise infrage gestellt. Im Denken und Handeln von Eltern und Fachkräften findet sich oft noch der tief sitzende Zweifel, ob Kinder mit Behinderungen ihre Entwicklung aktiv mitgestalten können oder ob nicht die Behinderung ihnen gerade diese Möglichkeit genommen hat. Fachleute fühlen sich manchmal als die eigentlichen Akteure, sehen Eltern eher als Erfüllungsgehilfen und die Kinder als passive Empfänger von Anregungen und Therapien (Schlack 1997, 15).
Kautter beschreibt die Schwierigkeiten der Umsetzung des neuen Verständnisses in einem Projekt der Frühförderung so: »Uns ... jedenfalls ist es schwergefallen, uns von den Vorstellungen zu lösen
neues Selbstverständnis der Fachkräfte
- wir wüssten, was das beste für die uns anvertrauten Kinder ist,
- wir müssten diese Kinder ›gezielt fördern‹,
- es liege ganz an uns, ob sich die Kinder entwickeln oder nicht, an unseren pädagogischen und psychologischen Kunstfertigkeiten und an unserem Engagement,
- wir seien die Akteure der kindlichen Entwicklung.
Wir mussten umdenken. Wir wurden in unserer Erzieher-Identität infrage gestellt. Die Verwirklichung eines pädagogischen Konzepts der Selbstgestaltung ist anstrengend« (1992, 13).
2.2 Komplexe Interaktion
Entwicklung beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle in höchster Komplexität und Dichte. Diese anfängliche Ganzheit enthält im genetischen Code außerordentlich viele Möglichkeiten. Gene bestimmen aber die Entwicklung eines Menschen nicht. Singer führt aus (2002, 44): »Gene sind nie alleine, sondern immer in eine Umwelt eingebettet. Es sind Signale aus der Umwelt, die das Auslesen der genetischen Information initiieren und die Entwicklung ... maßgeblich koordinieren. Die Umgebungsbedingungen bestimmen die Expression bestimmter Gene, und deren Produkte verändern die Umgebung, so dass wiederum neue Gene exprimiert werden und so fort. Es vollzieht sich ein sich selbst organisierender Prozess, der, getragen von einem kontinuierlichen Dialog zwischen Genom und umgebendem Milieu, zur Bildung zunehmend komplexer Strukturen führt« (vgl. auch Bauer 2004, 53).
Entwicklung aus der Ganzheit
Dornes (1993, 47) macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass die Entwicklung nicht – wie früher angenommen – vom Teil zum Ganzen verläuft, »wobei die Teile Schritt für Schritt zu einem Ganzen zusammengebaut werden«. Das heißt Entwicklung setzt sich nicht aus einzelnen Teilen zusammen, die integriert werden müssen. Das ist sehr wichtig zu bedenken, weil in der vorschulischen und schulischen Förderung oft noch so gearbeitet wird, wie es der alten Vorstellung entspricht. Danach war der Versuch legitim, mit den Kindern in einzelnen kleinen Schritten Kompetenzen »aufzubauen«. Auch die Annahme, bereits in der frühen Entwicklung könne man getrost nach Funktionen wie Motorik, Sprache, Wahrnehmung, Kognition getrennt arbeiten, beruht auf der skizzierten alten Vorstellung.
In der grundlegenden Entwicklung ist die umfassende Vernetzung innerhalb der Ganzheit ausschlaggebend. Aus den eng verflochtenen Lebensäußerungen und Gestaltungen entwickeln sich erst im Laufe der Zeit unterscheidbare Funktionen. Dornes zeigt das am Beispiel der intermodalen Wahrnehmung, die der Säugling von Anfang an hat: »Die Teile werden in ein Ganzes eingebaut oder anders ausgedrückt: ursprünglich werden Ganzheiten wahrgenommen (z.B. die Gemeinsamkeit von Bild und Ton), und die Differenzierung dieser Ganzheiten in separate Empfindungen ist ein Ergebnis des Entwicklungsprozesses und nicht sein Anfang« (1993, 47).
Kennzeichen der frühen grundlegenden Entwicklung ist die komplexe Interaktion des gesamten Entwicklungsgeschehens mit den Bezugspersonen des Kindes und mit der Umwelt. Das beginnt mit den Austauschprozessen zwischen Mutter und Kind zu Beginn der Schwangerschaft. Diese Prozesse interagieren wiederum mit der Lebenswelt der Mutter, ihrer körperlichen und seelischen Befindlichkeit, ihren Bezugspersonen, ihrer wirtschaftlichen Situation, der geographischen, klimatischen, kulturellen, politischen Situation in ihrem Lebensraum.
Bedeutung der Bezugspersonen
Die Qualität der erlebten Interaktionen mit Bezugspersonen und die aktuelle Lebenswelt spielen in der kindlichen Entwicklung eine herausragende Rolle. Die damit zusammenhängende emotionale Befindlichkeit eines Kindes ist ein entscheidender Faktor für die Entwicklung von Motorik, Wahrnehmung, Kommunikation, Beziehungsverhalten, Kognition.
So steht die Bewegungsentwicklung nicht nur in engem Zusammenhang mit dem Bewegungs- und Lageempfinden. Die Interaktion mit den Bezugspersonen spielt eine große Rolle (z.B. hinwenden, abwenden, suchen, mittun). Kommunikatives Verhalten – nonverbal oder mit Lauten – ist Bewegung. Gefühle lösen Bewegungen aus. Bewegungen sind mit Gefühlen verbunden. Sinneswahrnehmungen führen zu Bewegungen. Bewegungen erlauben neue Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen.
Petermann et al. (2004, 121) betonen die enge Verflechtung der emotionalen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung. Sie beschreiben, wie Gefühle Denken und Handeln beeinflussen und wie Denken Gefühle mitsteuert. Sie weisen auf die Bedeutung der Sprache für den Ausdruck und die Regulation von Gefühlen hin, aber auch für die kognitive Entwicklung. Für sie ist »Entwicklung ein aktiver Prozess, in dessen Verlauf das Individuum durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt fortschreitend Erkenntnisse aufbaut. ... Bereits der Säugling nimmt Ereignisse nicht passiv zur Kenntnis sondern integriert sie. Diese Interpretation, nicht das Ereignis selbst bestimmen sein Verhalten.«
Lernen und Entwicklung sind untrennbar ineinander verflochten. Wygotski beschreibt Lernen als Motor der Entwicklung (nach Miller 1993, 375). Entwicklung wird meist als übergeordneter Begriff gebraucht. Konsens besteht darüber, dass sie in ständiger wechselseitiger Einflussnahme zwischen Kind und Umwelt entsteht (vgl. Largo 1995, 15). Der Begriff Lernen betont mehr den Aspekt der Aneignung. »Lernen bedeutet für ein Kind, sich Fähigkeiten und Wissen auf seine Weise anzueignen« (Largo 1999b, 226). Das Kind möchte die soziale und materielle Welt begreifen, sich mit ihr auseinandersetzen. Es ist neugierig und sucht aktiv nach Erfahrungen. Für ein Kind liegt der Anreiz des Lernens nicht im Endprodukt, in Einsicht oder Wissen, sondern im Lernprozess selbst (vgl. Largo 1999b, 214).
Spitzer betont den Zusammenhang von Lernen und Entwicklung am Beispiel des Laufenlernens (2002, 206): »Allein durch Wachstum und Reifung kommt Laufen nicht zustande. Es bedarf auch der Erfahrung, weswegen man zurecht vom Laufenlernen spricht. Die...