Kapitel 1
Führerschein Klasse A1 und A
»Du brauchst doch keinen Motorradführerschein!«, behauptete mein Vater an meinem achtzehnten Geburtstag und tat wie immer zu viel Zucker in seinen Kaffee. Etwas verdattert blies ich die achtzehn Kerzen auf der Eierlikörtorte aus, denn es war bei meinen Freunden üblich, mit dem Autoführerschein gleichzeitig den Motorradführerschein zu machen.
Die Vorteile lagen klar auf der Hand: Nur einmal Theorie pauken, minimaler zusätzlicher Zeitaufwand, geringe Mehrkosten. Doch auf dem mir feierlich überreichten Gutschein für die ortsansässige Fahrschule stand in Schönschrift lediglich das Wort Autoführerschein. Trotzdem freute ich mich riesig. Ein Wahnsinnsgeschenk!
Als Martin und ich uns ein paar Jahre später kennen lernten, fuhr ich daher einen roten Renault R4. Mit dem gondelte ich jeden Tag zur Bank, bei der ich als Assistentin des Filialleiters arbeitete. Eines Tages kam ein neuer Kreditsachbearbeiter hinzu: Martin.
Mit meinem Chef, einem charismatischen Mann in den Vierzigern, kam ich bestens klar. Die Filiale in Ludwigsburg besaß mehrere angeschlossene Geschäftsstellen, die von uns zentral dirigiert wurden. Insgesamt fünfzig Mitarbeiter. Das garantierte einen verantwortungsvollen und abwechslungsreichen Arbeitstag. Mir machte der Job Spaß.
Martin hingegen kein bisschen. Er kam sich zwischen seinen Aktenbergen mit Liquiditätsberechnungen, Bilanzanalysen, Grundbuchauszügen, Finanzierungsangeboten und Rentabilitätsplänen vor wie auf einem fremden Planeten, von dem er nicht runter kam. Sein Leben fand ausschließlich in der Freizeit statt.
Während die Kollegen im Pausenraum Aktienkurse diskutierten, erzählte Martin von seinen Wochenendausfahrten mit dem Motorrad, von langen Touren nach Südfrankreich oder Kurztrips ins Elsass. Von Schnecken in Knoblauchsauce, Flammkuchen und Gewürztraminer. Von gemütlichen Chambres d’hôtes, alten Möbeln und Stoffen statt Tapeten an den Wänden.
So wehte jeden Montagmorgen ein Hauch von Abenteuer durch die sterile Bankwelt, und ich sog ihn gierig in mich ein.
Die Ferien hatte ich als Kind mit den Eltern auf Campingplätzen in Italien oder Spanien verbracht. Selbstverständlich wurde selbst gekocht. Meiner Mutter kamen weder Antipasti noch Paella auf den Tisch. Schon gar keine Meeresfrüchte. Und als Erwachsene machte ich es auch nicht besser. Mein letzter Urlaub fand damals pauschal auf einer spanischen Insel statt.
Welch ein Kontrast zu Martin: Einmal faltete er die Michelinkarte Nr. 338 auseinander, suchte sich die grün eingezeichneten Sträßchen in den Cevennen heraus, sattelte sein Motorrad und brauste ohne Netz und doppelten Boden los. Zwei Wochen lang schlief er im Schlafsack unter freiem Himmel und hatte einen unvergesslichen Urlaub.
Seit dem Kultfilm Easy Rider mit Dennis Hopper und Peter Fonda steht das Motorrad als Synonym für Freiheit und Pioniergeist. Vermutlich schlummerte jahrelang ein Samenkorn davon in mir, das durch Martins Erzählungen zu keimen begann. Eines Montagmorgens, als der Keim sein erstes Blatt bekam, stand für mich fest: Ich mache jetzt doch den Motorradführerschein!
Direkt nach Feierabend suchte ich mir eine Fahrschule in der Nähe meines Arbeitsplatzes. Frau Mayer, die Inhaberin, machte einen sympathischen Eindruck, ihr Dackel Schröder wedelte freundlich mit dem Schwanz, und so füllte ich den Anmeldebogen aus. Bei Datum und Unterschrift zitterte meine Hand. Die Wangen glühten. Das Abenteuer begann.
Martin war von meinem Vorhaben Motorradausbildung ganz begeistert, sah in mir eine Seelenverwandte. Die Kollegen eine Abtrünnige, die Eltern eine Unbelehrbare. Das eine freute mich, das andere war mir egal. Ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf.
Mit dem Motorradführerschein läuft es genauso wie mit dem Autoführerschein: Erst die Theorie, dann die Praxis. Ich bekam einen Stapel Übungsbögen mit den üblichen Fragen zu den allgemeinen Verkehrsregeln plus Zusatzstoff zum Thema Motorrad mit nach Hause und sollte einmal die Woche zum Unterricht vorbeikommen – alles klar.
Dann, eines Samstags war es endlich so weit. Mit einer modischen Lederhose, einer viel zu dünnen Lederjacke und Cowboystiefeln erschien ich zur ersten Fahrstunde. Handschuhe und Helm, beides viel zu groß, hatte mir Martin ausgeliehen, denn zwischenzeitlich waren wir ein Paar. Von Sicherheitskleidung konnte hier keine Rede sein. Aber ein Motorradführerschein kostet noch heute viel Geld, und die Bank bezahlte nicht gerade üppig nach dem Bundesangestelltentarif. Wie sich herausstellte, spielte die Ausrüstung an diesem Tag sowieso keine Rolle, denn mir wurde die Moto Guzzi 850 lediglich erklärt. Fahren durfte ich in meiner ersten Fahrstunde keinen Meter.
Die Guzzi schüchterte mich ein. Der Eisenhaufen wog 250 Kilo – ich 52. Überhaupt sind 850 Kubik für einen Anfänger viel zu viel. Ein Hoch auf den Stufenführerschein! Dieses Modell war ein persönliches Faible der Fahrlehrerin. Aber statt mich zu beruhigen, redete Frau Mayer immer nur davon, dass ich das Motorrad beim Hantieren auf keinen Fall umschmeißen dürfe, der Tank würde sonst zerkratzt und die Chromteile unansehnlich, der Wiederverkaufswert ruiniert.
Ich beschloss, so schnell wie möglich mein Sparbuch zu plündern und Sicherheitsbekleidung zu kaufen, einen eigenen Helm, feste Motorradstiefel und dicke Handschuhe.
Meine erste richtige Fahrstunde fand am darauf folgenden Samstag statt. Komplett neu eingekleidet fühlte ich mich sicher und bereit. Frau Mayer stopfte rechts und links Ohrhörer in meinen Helm. Nach erneuter Ermahnung, die Guzzi beim Aufsitzen auf keinen Fall umzuschmeißen, kündigte sie eine längere Überlandfahrt an.
»Eine Überlandfahrt?«, fragte ich vorsichtig, »ist das für den Anfang nicht zu schwierig?«
Mein Einwand wurde mit einem Augenrollen abgetan.
»Zwei mal fünfundvierzig Minuten sind Pflicht«, dozierte Frau Mayer, »und so haben wir das gleich hinter uns.«
Bei strahlendem Sonnenschein und milden Temperaturen tastete ich mich im Schneckentempo durch die City, fuhr Ecken beim Abbiegen, brachte die Gänge komplett durcheinander, würgte an mehreren Ampeln den Motor ab, konnte mit den dicken Handschuhen das Visier nicht hochklappen.
Völlig durchgeschwitzt erreichte ich den Stadtrand und beschleunigte todesmutig auf 50 km/h.
Frau Mayer mit Dackel Schröder folgten mir im Auto. Sie brüllte über Funk ständig Anweisungen in meinen Helm. Er döste vermutlich auf dem Beifahrersitz.
»Schneller!!!«
»Nächste rechts!!!«
»Schneller!!!«
»Nächste links!!!«
Je mutiger ich über die Bundesstraße glitt, desto lauter wurde es in meinem Helm. Er dröhnte und knisterte. Von Frau Mayers Gebrüll verstand ich kein Wort mehr, konnte daher ihren Anweisungen nicht mehr folgen. Vielleicht waren die Ohrhörer verrutscht. Vielleicht das Visier nicht ganz zu. Vielleicht ihre Stimmbänder gerissen.
Irgendwann überholte mich der Fahrschulwagen riskant und setzte sich direkt vor mein Vorderrad. Von Sicherheitsabstand keine Spur. Vorsichtshalber ging ich vom Gas. Aus dem linken Seitenfenster erschien eine zappelnde Hand und bedeutete mir, hinterherzufahren. Mit einem Affenzahn nahm Frau Mayer die nächste Ausfahrt und erklärte damit die Überlandfahrt für beendet. Ich folgte dem Wagen in immer größerem Abstand, konnte sein Tempo nicht halten.
Mit ordentlich Verspätung und zitternden Knien kam ich zur Fahrschule zurück. Ich war so fertig, dass ich das Motorrad beim Aufbocken umschmiss …
Im wöchentlichen Theorieunterricht saß ich mutterseelenalleine vor einem Fernseher mit integriertem Videorecorder und sah mir die Verkehrsregeln sowie motorradspezifische Bestimmungen vom Band an. In dieser Zeit führte Frau Mayer Dackel Schröder spazieren. Wenn ich nicht die Fragebögen zu Hause fleißig ausgefüllt und alle Regeln auswendig gelernt hätte – niemals hätte ich die theoretische Prüfung bestanden. Lediglich von Martin bekam ich Hilfe. Er erläuterte mir Fachbegriffe wie Fliehkraft, Ideallinie oder Scheitelpunkt der Kurve.
Problemlos bestand ich die theoretische Prüfung mit null Fehlern – aber das war allein mein Verdienst. Ich bin sehr gut im Lernen.
Insgesamt machte die Fahrschule überhaupt keinen Spaß. Frau Mayer fuhr zwar selbst Motorrad, brachte aber trotzdem weder Leidenschaft noch Faszination rüber. Am liebsten saß sie in ihrem Auto und brüllte Anweisungen in das Funkgerät.
Trotz unserem abgekühlten Verhältnis, ein Chromteil hatte bei meinem Umfaller Schaden genommen, und der ungeeigneten Maschine machten meine Fahrkünste gute Fortschritte. Ich bewegte mich flüssig in der City, fuhr saubere Halbkreise beim Abbiegen, brachte keine Gänge durcheinander, würgte den Motor nie mehr ab, klappte beim Halten das Visier lässig mit dem Daumen hoch.
Dann kam der große Tag: Die praktische Prüfung. Freunde und Kollegen drückten mir die Daumen, meine Eltern legten besorgt ihre Stirn in Falten. Für Martin war es reine Formsache. Ich brachte vor Aufregung seit Tagen keinen Bissen runter.
Der Prüfer schüttelte zunächst Frau Mayer, dann mir die Hand. Seinen Namen vergaß ich sofort wieder, nicht aber sein Aussehen. Er war groß und durchtrainiert, hielt sich aufrecht wie eine deutsche Eiche. Ich schätzte ihn auf vierzig Jahre. Sein Bürstenhaarschnitt war eine exakte Kopie von Michael Douglas’ Frisur in dem Film Falling Down. Er steckte von Kopf bis Fuß in Bundeswehrklamotten, trug die typischen schwarzen Schnürstiefel.
Was war das denn? Ein Soldat nahm meine Fahrprüfung ab? Anscheinend, denn der Kommandoton, den er umgehend anschlug, klang...