III.a Anatomisch-physiologische Grundlagen
Zunächst scheint die Erklärung zu dem, was Bindegewebe eigentlich ist, recht einfach: Alles, was bindet, verbindet. Schaut man in die Literatur, so findet man allerdings keine einheitliche Definition.
Bindegewebe umhüllt Muskeln, den Muskelbauch, aber auch jedes einzelne Muskelfaserbündel und jede Muskelzelle. Es verbindet den Muskel mit dem Knochen und mit den benachbarten Muskeln. Es bildet stützende Bindegewebsplatten, es umhüllt Nervenstränge, die Knochen oder auch die Organe. Es baut Zellverbände, die wie eine Verschiebeschicht wirken. Alles „gleitet“ und der Körper bleibt beweglich.
Der Querschnitt einer Orange lässt Vergleiche zur Lage der bindegewebigen Hüllen im Körper zu:
Abb. 1: Querschnitt einer Orange
Wie auch die Orange von einer weißen, milchigen Schicht aus Zellgewebe umhüllt ist, umgibt eine Hülle von Bindegewebe unter unserer Haut den Körper – die Oberflächenfaszie. Die Orange unterteilt sich weiter in einzelne Schnitze und innerhalb der Schnitze in kleine, mit Fruchtwasser gefüllte Beutelchen. So ähnlich ist es auch im menschlichen Organismus. Jede Körperstruktur, jeder Muskel, jedes Organ wird von einer sie umziehenden Bindegewebshülle umgeben und damit als eigene Einheit von anderen getrennt, gehalten, gestützt und geschützt. Selbst der Saft der Orange steht analog zu der Grundsubstanz, der Matrix, im Körper.
Würde man den Körper, oberhalb einer Muskelgruppe, mit einer Nadel durchdringen, durchwandert man nach der Haut zunächst das Unterhautfettgewebe. Darunter stößt man bereits auf die erste bindegewebige feste Schicht – die Fascia superficialis – die Oberflächenfaszie. Nach dem Durchdringen einer zweiten Fettschicht trifft man auf die tiefe fasziale Verschiebeschicht – die Fascia profunda. Lässt man die Nadel weiter gleiten, so trifft man auf das Epimysium, die Muskelhülle und dann Millimeter für Millimeter auf die einzelnen Unterteilungen der Muskelfaserbündel und Muskelfasern. Tritt man aus einem Muskel aus, so trifft man auf die darunter liegende Muskelschicht und erneut auf dieselben bindegewebigen Anteile, bis, in der Tiefe auf die Hüllschicht des Knochens, die bindegewebige Knochenhaut, getroffen wird.
Lässt man die Nadel an einer anderen Stelle des Körpers wandern, so gäbe es, neben der Haut, dem Fettgewebe und den Muskeln, noch die bindegewebigen Hüllschichten der verschiedenen Organe zu durchdringen.
Abb. 2: Querschnitt der Haut, Abbildung, modifiziert nach Stecco & Stecco (2012)
Das Bindegewebe unterteilt den Körper in ein Labyrinth von Hüllen und Kammern. Es wirkt vom Scheitel bis zur Sohle wie ein dreidimensionales Spannungsnetz, das Muskeln, Knochen, Organen, Nerven und Gehirn den Halt und Orientierung gibt.
Ida Rolf (Biochemikerin, Körpertherapeutin, Erfinderin der Rolfing-Methode, 1896-1979) beschrieb es treffend als:
„DAS ORGAN DER FORM“.
Heute wissen wir, dass es weit mehr als das ist.
III.a.i Aufgaben des Bindegewebes
Die Aufgaben des Bindegewebes sind vielfältig. Das Bindegewebe ist hochgradig anpassungsfähig und richtet sich in seiner Funktion nach dem Gebrauch.
Folgende Funktionen lassen sich unterscheiden:
- Verbindende Funktion
Das gesamte knöcherne System steht mittels Bindegewebe, Kapseln und Bändern in Kontakt. Die Muskeln finden ihre Verbindung zum Knochen mittels ihrer Sehnen (geformtes, faseriges Bindegewebe). Die Muskeln, die Organe und die Haut sind über fasziale Strukturen mit den umliegenden Geweben verbunden. Ein Ganzkörpernetzwerk, das keinen Anfang und kein Ende hat.
- Schützende Funktion
Die Faszien stellen eine mechanische Barriere gegen eindringende Fremdkörper dar oder sind in der Lage, äußere Belastungen und Kräfte zu verteilen und zu absorbieren.
- Abwehrfunktion aus immunologischer Sicht
Im Bindegewebe finden sich viele phagozytierende Zellen. Das sind Fresszellen, die bei Angriffen auf unser Immunsystem aktiv werden.
- Informationssystem
Das Bindegewebe, und vor allem das darin gebundene Wasser, hat eine wichtige Aufgabe als Informationsträger und Vermittler (van den Berg, 2011). Ein dichtes Nervengeflecht sorgt für Reizwahrnehmung und deren Weiterleitung.
- Transport- und Ernährungsfunktion
Vom arteriellen System werden Nährstoffe über das Bindegewebe zu den Orten des Bedarfs transportiert und umgekehrt die Abfallprodukte über das Bindegewebe zum venösen Gefäßsystem oder Lymphgefäßsystem transportiert.
III.a.ii Entstehung des Bindegewebes
Aktuell herrscht noch keine Einigung darüber, welche Gewebearten dem Begriff Faszien zuzuordnen sind. In unterschiedlichen Literaturquellen lassen sich verschiedene Abgrenzungsansätze finden. Einigkeit herrscht allerdings darüber, dass es diverse Erscheinungsformen gibt, die sich in:
aufteilen.
Abb. 3: Erscheinungsformen des Bindegewebes; Blau: Fasziale Strukturen, auf die generell mit Bewegung Einfluss genommen werden kann. Dunkelblau: Fasziale Strukturen, auf die vornehmlich in diesem Buch eingegangen wird.
Knorpel- und Knochengewebe sowie Zahnbein bilden die Stützgewebe und damit eine eigene Gruppe innerhalb der Bindegewebe.
Das faserige Bindegewebe lässt sich in geformte und ungeformte Strukturen unterteilen.
Wie die embryonale Entwicklung zeigt, liegt der Ursprung jeder ausgewachsenen Bindegewebszelle im dritten Keimblatt. Das ist mesenchymatisches, teilungsfreudiges, anpassungsfähiges, bewegliches (amöboides) Gewebe, welches sich erst zu einem späteren Zeitpunkt ausdifferenziert.
Abb. 4: Mesenchymatische Zelle und deren Ausdifferenzierungsmöglichkeiten. Abbildung, modifiziert nach van den Berg (2011)
Der gemeinsame Ursprung all dieser Gewebetypen ist entscheidend, viele Phänomene und Funktionen des faszialen Bindegewebes werden dadurch erklärbar und mit Blick auf die Bewegungsmodelle zur möglichen Einflussnahme auf die Faszien besser verständlich.
III.a.iii Bestandteile des Bindegewebes
Das Bindegewebe besteht aus ortsansässigen und mobilen Zellen. In der Grundsubstanz, auch Extrazellularmatrix (Zwischenzellflüssigkeit) genannt, sind kollagene, retikuläre und elastische Fasern eingelagert.
Hauptbestandteil, neben dem Wasser, ist das Kollagen, welches ein dichtes Maschenwerk bildet und mit quellenden und dadurch formgebenden Proteoglykanen gefüllt ist.
Bestandteile des Bindegewebes:
Fibroblasten, Fibrozyten, Myofibroblasten,
Mastzellen, Makrophagen, Phagozyten,
Fettzellen,
Kollagen-, Elastinfasern/Retikulinfasern (heute als Kollagen Typ III eher bekannt),
Grundsubstanz (Proteoglykane und Glykosaminoglykane) – extrazelluläre Matrix,
63-69 % Wasser und
Nervenfasern.
Abb.5: Bestandteile des Bindegewebes
Die Funktion des Kollagens besteht darin, Zugkräften zu widerstehen, während die Proteoglykane kompressionsdämpfend wirken. Diese beiden Funktionen im Verbund sorgten in der Baubranche für den bahnbrechenden Erfolg bei der Erfindung von Stahlbeton. Der Stahl übernimmt dabei die Funktion, der hohen Zugspannung standzuhalten, entsprechend dem Kollagen im Bindegewebe, während der Beton Kompressionen entgegenwirken kann, gleich den Proteoglykanen in der Matrix.
Diese Eigenschaft wird Viskoelastizität genannt. Das Zusammenwirken beider Funktionen sorgt für die Form, den Ort und die Lage von Organen und Muskeln.
Schon gewusst?
Elastizität beschreibt die Eigenschaft eines Körpers oder Stoffs, unter Krafteinwirkung seine Form zu verändern und bei Wegfall der einwirkenden Kraft in die Ursprungsform zurückzukehren.
Die Plastizität oder plastische Verformung beschreibt die Fähigkeit von Stoffen, sich unter einer Krafteinwirkung nach Überschreiten einer Fließgrenze irreversibel zu verformen (zu fließen) und diese Form nach der Einwirkung beizubehalten.
Als Viskoelastizität bezeichnet man ein teilweise elastisches, teilweise zähflüssiges Materialverhalten. Viskoelastische Stoffe vereinigen also Merkmale von Flüssigkeiten und Festkörpern in sich. Der Effekt ist zeit- und temperaturabhängig.
Je größer die Viskosität, desto dickflüssiger (weniger fließfähig) ist das Fluid; je niedriger die Viskosität, desto dünnflüssiger (fließfähiger) ist es. Es kann also bei gleichen Bedingungen schneller fließen.
Bestandteile des Bindegewebes
Das Bindegewebe setzt sich aus einer Vielzahl von Zellen und Zellverbundsystemen zusammen, die in ihrer Funktion nun genauer beschrieben werden, um die Anpassungsmöglichkeiten, initiiert durch Training, besser zu verstehen.
- Fibroblast
Aktive, junge Bindegewebszelle mit hoher Synthesefähigkeit von:
Je nach Belastungsart produzieren sie mehr Kollagen oder extrazelluläre...