1 Sozialisationsbedeutung des Sports
Im ersten Kapitel wird dargestellt, dass dem Sport eine grundlegende Bedeutung für die Sozialisation von Kindern zukommen kann. Hierfür werden im Abschnitt 1.1 die Zusammenhänge von Sozialisation und Sport aufgezeigt und im Abschnitt 1.1.3 der Forschungsstand zusammengefasst.
Die Literaturauswahl orientiert sich an Autoren aus den Fachbereichen der pädagogischen Psychologie (u. a. Helmke, 1992; Hurrelmann, 1983, 2002, 2006; Magnusson, 1990; Moschner & Dickhäuser, 2006; Sonstroem, 1997) und der empirischen Sportpädagogik bzw. Sportpsychologie (u. a. Bräutigam, 2008; Brettschneider & Gerlach, 2004; Burrmann, 2008a; Burrmann, 2008b; Conzelmann, 2008; Gabler, Nitsch & Singer, 2000; Gerlach, 2008; Gerlach & Brettschneider, 2008; Sygusch, 2007; 2008). Diese Autoren haben wesentlich dazu beigetragen, das Phänomen der Sozialisation zu beschreiben und den Zusammenhang zwischen Sozialisation und Sport aufzuarbeiten.
1.1 Theoretischer und empirischer Hintergrund zu Sozialisation und Sport
1.1.1 Sozialisation als dynamischer Interaktionsprozess
Zum besseren Verständnis der kindlichen Sozialisation durch sportliche Aktivität werden zunächst die prototypischen Betrachtungsweisen Sozialisations- und Selektionsperspektive unterschieden. Anschließend wird der eigentliche Sozialisationsprozess näher beschrieben und auf Kinder im Grundschulalter bezogen (Sozialisation als dynamischer Entwicklungsprozess). Am Ende des Abschnitts werden erste forschungsrelevante Ableitungen für die Untersuchung von Sozialisationswirkungen im Sport wiedergegeben (der dynamische Interaktionismus als Rahmenkonzeption).
Sozialisations- und Selektionsperspektive
Im Rahmen der Wirkungsforschung geht es immer auch um die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Diese ist oftmals nicht unmittelbar transparent. In Bezug auf Judo lässt sich beispielsweise rückblickend nicht mehr nachvollziehen, ob jemand durch intensives und langes Üben ein guter Judoka7 wurde, oder ob diese Person von Beginn an bestimmte physische und psychosoziale Eigenschaften besaß, die es ihm ermöglichten, Judo langfristig auf hohem Niveau zu betreiben. Hinter diesem Problem steckt die allgemeine Frage, ob die Sportbeteiligung die Entwicklung von physischen und/oder psychosozialen Merkmalen beeinflusst oder ob umgekehrt physische und/oder psychosoziale Merkmale die Grundlage für das Sporttreiben darstellen. Diese Frage enthält letztlich zwei prototypische, auf den ersten Blick gegeneinander gerichtete Wirkungen bzw. Ansätze (Gerlach, 2008; Sonstroem, 1997):
• Die Selektionshypothese bzw. der Self-Enhancement-Ansatz geht davon aus, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale für die Aufnahme einer sportlichen Aktivität verantwortlich sind.
• Die Sozialisationshypothese bzw. der Skill-Development-Ansatz geht davon aus, dass sportliches Engagement Einfluss auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale nimmt.
Beide Annahmen erscheinen plausibel, wenn davon ausgegangen wird,
„(a) dass am Zustandekommen jeder komplexen Leistung immer die ganze Person beteiligt ist, also auch bei der sportlichen Leistung Persönlichkeitsmerkmale eine mehr oder weniger mitentscheidende Rolle spielen und (b) dass ein längeres intensives Sporttreiben und die mit ihm verbundene Konfrontation mit bestimmten sportmotorischen Anforderungen, mit Erfolgs- und Misserfolgserlebnissen, mit sportspezifischen Rollen, Normen und Werten, die Einbindung in eine bestimmte soziale Gruppe und bestimmte soziale Interaktionen usw. nicht ohne Rückwirkung auf die betreffende Person bleiben werden“ (Gabler, Nitsch & Singer, 2000, S. 296).
Heute wird angenommen, dass sich beide Kausalbeziehungen gegenseitig beeinflussen (Moschner & Dickhäuser, 2006). Dies bedeutet aber nicht, dass sich Selektions- und Sozialisationsprozesse stets die Waage halten. So dominieren beispielsweise beim Selbstkonzept – dem mentalen Modell einer Person über ihre Fähigkeiten und Eigenschaften (ebd.) – in Übergangsphasen Selektionseffekte, während in Konsolidierungsphasen Sozialisationseffekte im Vordergrund stehen (Helmke, 1992).
Sozialisation als dynamischer Entwicklungsprozess
Judo stellt – für Kinder, die Judo betreiben – einen Lebensbereich neben vielen anderen dar. Um überprüfen zu können, ob dieser Bereich für ihre Entwicklung förderlich sein kann, muss der Prozess der Sozialisation differenziert betrachtet werden. Denn nicht alle Aspekte der Persönlichkeit können gleichermaßen durch die Umwelt beeinflusst werden. Beeinflussbar sind laut Conzelmann und Hänsel (2008) sowie Gerlach und Brettschneider (2008):
• Handlungs-/Bewertungsdispositionen wie das Selbstkonzept, aber auch der Selbstwert oder die Selbstwirksamkeit;
• Aspekte der persönlichen Leistung, wie z. B. Intelligenz im kognitiven Bereich, technische Fertigkeiten und konditionelle bzw. koordinative Fähigkeiten im motorischen Bereich sowie soziale Kompetenzen.
Die genetische Ausstattung bzw. stabile Persönlichkeitsmerkmale, wie die sogenannten Big Five (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit), sind hingegen nicht bzw. kaum beeinflussbar (Gerlach und Brettschneider, 2008). Dennoch spielen letztlich alle Persönlichkeitsbereiche und -aspekte eine Rolle, da am Zustandekommen einer komplexen Leistung immer die ganze Person beteiligt ist:
„Sozialisation bezeichnet den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen Umwelt (‚äußere Realität’) und den natürlichen Anlagen der körperlichen und psychischen Konstitution (‚innere Realität’)“ (Hurrelmann, 2006, S. 730).
Das Verständnis von Sozialisation als Prozess der ständigen Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität basiert auf der Grundannahme, dass der Mensch durch die soziale, kulturelle, ökonomische und physikalische Umwelt geprägt wird und sich gleichzeitig auf eine jeweils individuelle Weise mit dieser Umwelt auseinandersetzt und, soweit wie möglich, durch aktives Handeln auf sie einwirkt (Hurrelmann, 2006). Der Mensch ist dabei als ein produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt anzusehen (Bräutigam, 2008; Hurrelmann, 1983). Demnach ist nach Bräutigam (2008)
„einerseits unterstellt, dass das Individuum sein Handeln auf der Grundlage der aktiven Verarbeitung je vorfindlicher Realitäten selbst konstituiert und dabei in der Lage ist, sein Verhalten bewusst und zielgerichtet anzulegen und zu organisieren“ (ebd., S. 30).
Andererseits bedeutet dies, dass Individuen ihr eigenes Handeln reflektieren und als subjektive Erfahrungen verarbeiten. „Im Zuge dieser Verarbeitungsprozesse verändern und entwickeln sich die handelnden Personen weiter und bilden im Zeitverlauf ihre je individuelle Handlungs- und Erfahrungsgeschichte aus“ (ebd.). Das Bild des Menschen als produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt (Hurrelmann, 1983) bezieht sich nicht nur auf Erwachsene. Auch Kinder sind aktiv Handelnde und (Mit-)Gestaltende ihrer Wirklichkeit (Mey, 2006).
Abb.1 verdeutlicht das Verständnis von Sozialisation als Auseinandersetzung zwischen innerer und äußerer Realität: Während aufseiten der inneren Realität nicht alle Bereiche der Persönlichkeit gleichermaßen durch die Umwelt beeinflusst werden können, sind aufseiten der äußeren Realität nicht alle Aspekte zur gleichen Zeit von Bedeutung.
Abb. 1: Sozialisation als Prozess (Hurrelmann, 2006)
Für die Zielgruppe Kinder im Grundschulalter sind insbesondere Organisationen bzw. Institutionen der unmittelbaren sozialen und räumlichen Umgebung sozialisationsrelevant (Hurrelmann, 2006, S. 735):
• soziale Netzwerke, z. B. Familien, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Gleichaltrigengruppe, Freundeskreis;
• organisierte Sozialisationsinstanzen, z. B. Grundschule, Hort, Heim;
• soziale Organisationen, z. B. Vereine;
• Massenmedien.
In den letzten 50 Jahren hat sich nach Hurrelmann (2006) eine Kombination aus familiärer und außerfamiliärer Kinderbetreuung durchgesetzt. „Für die meisten Kinder bedeutet die[se] Mischung verschiedener Betreuungsverhältnisse, dass sie sich im Laufe eines normalen Tages an mehreren Orten aufhalten“ (ebd., S. 735f.). Eine Kombination aus verschiedenen Sozialisationsinstanzen findet sich auch im Bereich des Sporttreibens wieder: Kinder sind a) innerhalb sozialer Netzwerke (z. B. Fußball spielen mit den Nachbarskindern auf dem Bolzplatz), b) innerhalb organisierter Sozialisationsinstanzen (z. B. Schwimmen lernen im Rahmen des Schulsports) und c) innerhalb sozialer Organisationen (z. B. Turntraining im Sportverein) sportlich aktiv.
Die Realität des Sports konfrontiert sie dabei insbesondere mit folgenden Entwicklungsaufgaben (vgl. Brettschneider & Gerlach, 2004; vgl. Einleitung):
• Erlernen körperlicher...