Einleitung
Von Dietrich Kurz & Norbert Schulz
Sport ist an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ein großes Fach. Wer die Schule bis zum Abitur besucht, hat in seiner gesamten Schullaufbahn nur in den Fächern Deutsch und Mathematik, dazu unter Umständen noch in der ersten Fremdsprache mehr Unterrichtsstunden besucht als im Fach Sport. Dennoch ist Sport unter allen Fächern, die bis in die gymnasiale Oberstufe hinein unterrichtet werden, das einzige, dessen Status als Prüfungsfach umstritten ist. Die Diskussion kreist immer wieder um dieselben Fragen: Welchen Stellenwert kann das Fach Sport in der gymnasialen Oberstufe beanspruchen? Kann es ein gleichwertiges Abiturfach sein, ohne seine Eigenart zu verlieren? Was kann Sport als Bewegungsfach zu Wissenschaftspropädeutik und allgemeiner Studierfähigkeit in der gymnasialen Oberstufe beitragen? Wie lässt sich der Unterricht gestalten, damit in der Abiturprüfung ein Niveau erreicht wird, das den offiziellen Anforderungen entspricht? Solche Fragen werden auch in diesem Buch wieder aufgenommen, in dem wir über einen in Deutschland bisher einzigartigen Schulversuch berichten.
Auslöser war eine Entscheidung der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Sie hatte im Jahr 1998 überraschend verfügt, Sport als 4. Fach der Abiturprüfung an den Gymnasien und Gesamtschulen des Landes künftig nicht mehr zuzulassen. Welche Signalwirkung diese Entscheidung für den Schulsport in Deutschland haben würde, welche Folgen für den Status des Faches, aber auch für die Gestalt der gymnasialen Oberstufe insgesamt, haben nicht alle Verantwortlichen und Betroffenen sofort erkannt. Einige Fachlehrkräfte mögen sogar zunächst erleichtert gewesen sein, diesen anspruchsvollen Unterricht nicht mehr vorbereiten und die aufwendige Abiturprüfung nun nicht mehr abnehmen zu müssen, weil sie die längerfristigen Konsequenzen für ihr Fach und damit auch für den eigenen Berufsstand nicht sogleich erkannten.
Bis dahin hatte es auch in Fachkreisen wenig Beachtung gefunden, dass Sport als Fach der Abiturprüfung schon seit Längerem in mehreren Bundesländern nicht oder nur unter restriktiven Auflagen zugelassen war. Vielen wurde erst allmählich klar, welche Folgen es haben müsste, wenn nun auch im „Sportland“ Nordrhein-Westfalen, das im Schulsport seit Jahren eine Führungsposition beanspruchte, die Abiturfähigkeit des Faches in Zweifel gezogen wurde. Etwa zeitgleich mit dem Aus für das 4. Abiturfach Sport traten in Nordrhein-Westfalen die ersten Sportlehrpläne einer neuen Generation in Kraft, die bundesweit Maßstäbe setzen sollten. Schon der bisherige Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe hatte als anspruchsvoll gegolten, und zwar nicht nur in fachlicher Hinsicht, sondern auch bezüglich jener spezifischen Ansprüche, die in der gymnasialen Oberstufe an jedes Fach zu stellen sind. Und in diesem Bundesland sollte es nun kein 4. Abiturfach Sport mehr geben?
Was unterscheidet das Fach Sport so grundsätzlich von allen anderen Schulfächern, dass ihm als einzigem die generelle Abiturfähigkeit abgesprochen werden kann? Hinter den diversen vorgebrachten Argumenten lässt sich ein grundlegender Einwand erkennen: Wenn Sport im Kern ein praktisches Fach ist, wenn also im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens die primär körperliche Bewältigung von Bewegungsaufgaben steht, dann können Wissensumfang und Reflexionstiefe in diesem Fach nicht das Niveau der anderen, der „wissenschaftlichen“ Fächer erreichen. Mit diesem Einwand wird nicht bestritten, dass Sport einen Beitrag zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule leisten kann, der durch kein anderes Schulfach zu ersetzen ist. Bestritten wird auch nicht, dass Sport noch in der gymnasialen Oberstufe eines der wenigen Pflichtfächer sein sollte. In Frage steht jedoch, wie weit die in diesem Fach erbrachten Leistungen auch in die Abiturnote eingehen sollen und ob es sogar als Fach der Abiturprüfung akzeptabel sei.
Die Entscheidung der nordrhein-westfälischen Landesregierung gegen Sport als 4. Abiturfach kam auch für die Fachöffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt überraschend. Es dauerte daher eine Weile, bis in Fachschaften weiterführender Schulen, in Studienseminaren und an sportwissenschaftlichen Hochschuleinrichtungen bewusst wurde, was hier auf dem Spiel stand. Massive Kritik der zuständigen Fachorganisationen, auch auf Bundesebene, wirksam unterstützt auch vom Landessportbund, hat die Landesregierung schließlich dazu bewegt, ihre Entscheidung zwar nicht zurückzunehmen, aber doch zu überprüfen.
24 Gymnasien und Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen wurden ausgewählt, um vom Schuljahr 1999/2000 an in einem Zeitraum von sechs Schuljahren zu erproben, ob und ggf. wie das 4. Abiturfach Sport dem Anspruch der gymnasialen Oberstufe gerecht werden kann. Dieses „Erprobungsvorhaben“ (so die offizielle Bezeichnung) wurde ausdrücklich als „ergebnisoffen“ bezeichnet. Schulaufsicht, Fachaufsicht und Wissenschaft sollten es gemeinsam begleiten und auswerten und damit faktenbasierte Grundlagen für die politische Entscheidung über die Zukunft des Sports in der gymnasialen Oberstufe schaffen. Damit stand das Fach nun offiziell auf dem Prüfstand.
Mit der wissenschaftlichen Auswertung wurde eine gemeinsame Forschungsgruppe der Universität Bielefeld und der Deutschen Sporthochschule Köln beauftragt. Damit ergab sich in einer fachpolitisch brisanten Situation die Chance zu einer breit angelegten Schulsportforschung mit einem einzigartigen Zugang zum Feld. Die zentrale Aufgabe der Erprobung lässt sich in aller Kürze so beschreiben: Der spezifische Bildungsauftrag des Schulfaches Sport, wie ihn auch die Lehrpläne für Nordrhein-Westfalen vorgeben, stellt die praktische Bewältigung sportlicher Bewegungsaufgaben in den Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens. Reflexion, Vermittlung von Wissen und Einübung in die Anwendung von Methoden schließen an die praktische Erfahrung an, bereiten sie vor und werten sie aus. Sie bilden aber nicht – wie typischerweise in den anderen Schulfächern – den Kern des Unterrichts. Prüfungsanforderungen, die diesem besonderen Charakter des Faches Sport gerecht werden sollen, müssen daher zum Teil andersartig sein als die Anforderungen der meisten anderen Schulfächer. Das gilt auch für die gymnasiale Oberstufe und das Abitur. Die Aufgabe besteht folglich darin, das Fach Sport in der gymnasialen Oberstufe so zu organisieren und zu unterrichten, dass eine den anderen Fächern gleichwertige Abiturprüfung erwartet werden kann. Dabei ist die Gleichwertigkeit insbesondere unter dem oberstufenspezifischen Auftrag der Wissenschaftspropädeutik festzustellen sowie unter dem Anspruch des Abiturs, Studierfähigkeit zu bescheinigen.
Im Dezember 2004 entschied der nordrhein-westfälische Landtag aufgrund der bis dahin vorliegenden, insgesamt ermutigenden Zwischenergebnisse, die Erprobung in eine zweite Phase von nochmals drei Schuljahren (bis 2007/2008) zu überführen und dann über eine mögliche Öffnung zu entscheiden. An dieser erweiterten Erprobung nahmen 54 Schulen mit gymnasialer Oberstufe teil. Es stand nach dem bisherigen Verlauf nicht mehr in Frage, ob eine Abiturprüfung im 4. Prüfungsfach Sport den Ansprüchen der gymnasialen Oberstufe genügen und der Prüfung in den anderen Fächern gleichwertig sein kann. In Frage stand vielmehr, wie, d. h. unter welchen Rahmenbedingungen und in welcher Ausrichtung, dies jeweils auch sicherzustellen ist. Aus der Erprobung wurde Qualitätsentwicklung. Entsprechend hatte sich auch die wissenschaftliche Begleitung in der zweiten Phase auszurichten.
Mit einem Runderlass vom 1. Mai 2009 hat das Ministerium für Schule und Weiterbildung den Rahmen dafür geschaffen, dass nach dem erfolgreichen Abschluss auch dieser zweiten Phase auf Antrag wieder an jeder Schule mit gymnasialer Oberstufe Sport als 4. Fach der Abiturprüfung angeboten werden kann. Damit ist nun jedoch nicht der Zustand wieder hergestellt, wie er vor 1998 bestand. Das Fach hat sich an den beteiligten Schulen im Lauf der Erprobung verändert. Auch die weiteren Schulen, die nach der landesweiten Öffnung Sport wieder als 4. Fach einführen wollen, müssen Voraussetzungen und Bereitschaft nachweisen, dem didaktischen Konzept, das in der Erprobung Konturen gewonnen hat, zu folgen. Daher bleibt Sport auch als 4. Abiturfach an die schulaufsichtliche Genehmigung gebunden.
Mit dem Buch, das wir hier vorlegen, machen wir die Erfahrungen aus neun Jahren Schulversuch einer größeren Fachöffentlichkeit zugänglich. Mit unserer Darstellung verfolgen wir mehrere Absichten und bedienen dementsprechend unterschiedliche Leseerwartungen. Zunächst geht es uns darum, die schul- und fachpolitische Entscheidungssituation zum Sportunterricht in der gymnasialen Oberstufe am Beispiel des Landes Nordrhein-Westfalen zu erläutern. In diesen Zusammenhang findet sich auch die Fachdidaktik eingebunden. In Teil 1 zeichnen wir in drei aufeinander bezogenen Kapiteln (Kap. 1.1-1.3) diesen Zusammenhang nach, für den unser Schulversuch geradezu ein Lehrstück bildet. Ein Lehrstück ist er auch dafür, wie die noch viel zu seltene Schulsportforschung zwischen wissenschaftlichen Standards und politischen Rahmenbedingungen zu balancieren hat (Kap. 1.4).
In Teil 2 legen wir die Rahmenbedingungen offen, unter denen die Erprobung ablief: die beteiligten Schulen (Kap. 2.1), die Schülerinnen und Schüler (Kap. 2.2) und die mit dem Sportunterricht in der Sekundarstufe I geschaffenen Voraussetzungen für das Anforderungsniveau in der gymnasialen Oberstufe (Kap. 2.3). Der eigentliche Prüfbericht beginnt in Teil 3. Auf dem Prüfstand stehen die didaktische Konzeption und ihre Verwirklichung. In Kap. 3.1 geht es um das Herzstück der Konzeption, die Verknüpfung von...