Lektion 2
Wie wichtig ist die Arbeit von Sportlehrern?
Die Legitimation des Sports als Schulfach
Von einem professionell arbeitenden Sportlehrer wird erwartet, dass er nicht nur weiß, was er tut, sondern auch weiß, warum er dies tut. Die Erwartung an ihn besteht zu Recht, schließlich hat er einen pädagogischen und fachlichen Auftrag mit hohem Anspruch zu erfüllen. Die Forderung an den Sportlehrer, sein Handeln zu begründen, ist nicht nur eine Selbstverpflichtung. Wer von der Notwendigkeit seines Tuns nicht überzeugt ist, wird unsicher sein und ohne Selbstbewusstsein auftreten. Wer die Gründe und Hintergründe seines Tuns nicht kennt, wird sein Handeln nicht beurteilen und weder sich selbst noch anderen gegenüber rechtfertigen können. Mit der Fähigkeit, die Anliegen und Ziele seines Berufs als bedeutsam ausweisen zu können, gewinnt der Sportlehrer Motivation und Souveränität.
Diese Fähigkeit ist nicht isoliert zu sehen und hängt eng mit anderen Aufgaben zusammen. Eine erste besteht darin, die für das Fach ausgewiesenen Ziele in die Praxis des Sportunterrichts umzusetzen. Eine zweite Aufgabe ist es, die Ziele des Schulsports programmatisch zu entwerfen und in differenzierter Weise zu verdeutlichen. Eine dritte Verpflichtung – um diese geht es in dieser Lektion – verlangt, Aufgaben und Ansprüche des Schulsports zu begründen und den schlüssigen Nachweis für die Berechtigung des Sports als Schulfach zu erbringen. Diese Bemühungen zielen auf die Legitimation des Faches.
Bei der Behandlung der Legitimationsfrage werden in dieser Lektion drei Ausgangspunkte gewählt:
- eine anthropologische Grundlegung, die die Bedeutung von Leiblichkeit, Bewegung und Spiel für eine ganzheitlich ausgerichtete Erziehung in der Schule heraushebt;
- eine vom Kind und vom Jugendlichen her zu begründende Notwendigkeit, mit den fachspezifischen Möglichkeiten des Schulsports die Bildung, Erziehung und Entwicklung der Heranwachsenden insgesamt zu fördern;
- eine von der Sache her, d. h. der gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung des Sports her zu rechtfertigenden Verpflichtung, in der Schule auf dieses Handlungsfeld vorzubereiten und Schüler zu einer Handlungsfähigkeit im Sport zu führen.
In einem abschließenden Kapitel wird die Tauglichkeit der Argumente für eine kontrovers geführte Debatte untersucht.
1 Warum ist Schulsport unverzichtbar?
Das Fach Sport weist eine Besonderheit auf, durch die es sich von allen anderen Schulfächern unterscheidet: Schulsport versteht sich als Anwalt für die körperlich-motorische Entwicklung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen. Daraus erwächst nicht nur ein besonderer Erziehungsauftrag, darin ist auch seine Unverzichtbarkeit begründet, da kein anderes Fach diesen Erziehungsanspruch übernehmen kann.
Die Schule steht unter der pädagogischen Verpflichtung zu einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Schulen sind nicht nur für die Entwicklung und Förderung intellektueller, sondern auch körperlich-motorischer Fähigkeiten verantwortlich. Die Einlösung dieser Anforderung sichert das Fach Sport. Die Besonderheit des Faches wird deutlich, wenn man in diesem Zusammenhang auf anthropologische Grundgedanken zurückgreift. Die Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Sie sucht Klärung über Eigenschaften, die den Menschen in ihrer Existenzform wesensgemäß sind. Das zentrale Thema der Anthropologie ist das „So-Sein“ des Menschen: so, wie der Mensch ist, und so, wie er in der Welt ist.
(1) Als eine grundlegende anthropologische Einsicht gilt: Ein Wesensmerkmal des Menschen ist seine leibliche Verfasstheit. Meine Existenz ist in fundamentaler Weise durch meinen Leib bestimmt. Zwar weiß ich nicht immer um meine Leiblichkeit. Mein Körper fällt mir gar nicht weiter auf, wenn ich mich nicht auf ihn konzentriere und mir besondere körperliche Zustände und Befindlichkeiten nicht bewusst werden. Der Körper bleibt im alltäglichen Handeln oft in der Anonymität des Selbstverständlichen verborgen. Doch auch in solchen Situationen ist unser Leib immer mit dabei. Solange wir leben, ist er bei uns und wir in ihm. Insofern trifft die Aussage zu: Der Mensch ist Leib.
In Fällen allerdings von Behinderungen und Störungen meldet sich unser Körper und wir werden uns seiner bewusst. Wir spüren körperliche Zustände der Ermüdung, des Unvermögens und des Schmerzes. Die selbstverständliche Übereinstimmung mit dem Leib geht dann verloren. Wir wenden uns unserem eigenen Körper zu. Für diesen Fall, der übrigens auch in Situationen von Glück und Euphorie positiv ausgerichtet sein kann, gilt die Formel: Der Mensch hat Körper.
Die anthropologische Doppelformel, dass der Mensch Leib ist und Körper hat, bleibt nicht folgenlos. Es ist leicht zu erkennen, dass wir mit der Entwicklung unserer körperlichen Potenziale und Fähigkeiten unser eigenes Selbst erschließen. Dies zum einen, und zum anderen: Auf unsere leibliche Verfasstheit gründet sich auch der unmittelbare Zugang zu unserer Umwelt. Über leibliche Erfahrungen vermitteln sich die Gegenstände, die uns in der äußeren Welt umgeben. Zugleich erschließen sich über diese Erfahrungen wiederum eigene Möglichkeiten und Fähigkeiten. Der Leib ist das Instrument, der Fühler und das Medium. Er vermittelt zwischen dem eigenen Selbst und der Umwelt. Er bestimmt die Art und Weise der Erfahrungsprozesse und am Ende deren Ergebnisse. Die Wege, über die solche Erfahrungen führen, stehen in einem direkten Zusammenhang mit den menschlichen Wahrnehmungssystemen. Die Wahrnehmung seiner Welt und die Wahrnehmung seiner selbst gewinnt man über die Sinne. Dabei kommt den körpernahen Sinnen besondere Bedeutung zu. Erst das Tasten, Berühren und Bewegen schaffen die Voraussetzungen dafür, Gehörtes und Gesehenes abzusichern und dauerhaft in der Erfahrung zu verankern. Dies sind Erfahrungen gleichsam „aus erster Hand“.
Der Leib ist keine abgegrenzte Unterabteilung des Menschen. Leiblichkeit ist vielmehr ein Aspekt, der in allen menschlichen Aktivitäten ständig mit anwesend ist. Deshalb sind leibliche Erfahrungen für jeden Menschen elementare Grunderfahrungen, und alle Erfahrungen, die der Mensch macht, sind mit seiner Leiblichkeit verknüpft. Grundsätzlich gilt: Der Mensch ist als eine Gesamtheit zu sehen. Körperlich-motorische, emotional-affektive und kognitiv-intellektuelle Elemente sind zwar unterscheidbar, aber im Menschen selbst unmittelbar aufeinander bezogen und miteinander vernetzt. Viele Erfahrungen aus der konkreten Lebenspraxis verweisen auf diese Ganzheitlichkeit des Menschen: Körperliche Verletzungen und Krankheiten mindern nicht selten die geistige Leistungsfähigkeit und provozieren psychische Missstimmungen. Intensive geistige Arbeit und seelische Belastungen führen zu körperlicher Müdigkeit und Erschöpfung. Körperliche Überforderung vermindert die Konzentrationsfähigkeit.
Die anthropologischen Befunde von der Leiblichkeit und Ganzheit des Menschen weisen nicht nur beschreibend auf Zusammenhänge hin. Es liegt auf der Hand, dass die Einsichten zu pädagogischen Forderungen führen: Da Heranwachsende ein Anrecht auf eine umfassende und ganzheitliche Förderung ihrer Anlagen, Potenziale und Fähigkeiten haben, sind Bemühungen um eine angemessene und optimale Entwicklung unvollständig, wenn sie das Thema Leib und Leiblichkeit auslassen.
(2) Betrachtet man die Leiblichkeit des Menschen nicht so sehr als grundlegendes Kennzeichen menschlicher Existenz, sondern eher als Vorgang und Prozess, dann kommt die Fähigkeit des Leibes in den Blick, sich zu bewegen. Die menschliche Bewegung als ein Vermögen, das auf Leiblichkeit beruht, ist eine weitere – zweite – anthropologische Grundkategorie. Bewegung stattet den Menschen mit einem besonderen Potenzial aus: Mithilfe der Bewegung kann sich der Mensch sich selbst und der Welt gegenüber in einer aktiven und sinnvollen Weise verhalten. Über Bewegung aktiviert, entwickelt und verbessert er seine eigenen Möglichkeiten. Durch Bewegung macht er sich seine Umwelt in ihren Sach- und Bedeutungszusammenhängen nicht nur aktiv zugänglich, er wirkt auf sie ein, gestaltet und verändert sie. In dieser aktiven Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Umwelt entwickelt er sich weiter, erschließt sich zunehmend vielfältiger und differenzierter die eigenen Fähigkeiten und seine räumliche, materiale und soziale Umwelt.
Aus pädagogischer Sicht ist die Entfaltung des menschlichen Bewegungspotenzials nicht nur möglich und wünschenswert, sondern notwendig und lebenswichtig. Die Gründe dafür liefern wiederum anthropologische Einsichten. Der Mensch kommt nicht mit voller Lebens- und Handlungsfähigkeit auf die Welt, sondern als „Mängelwesen“. Dies trifft selbstverständlich auch für die Fähigkeit zu, sich gekonnt zu bewegen. Das Tier etwa ist im Unterschied zum Mensch mit einem sicheren Instinkt ausgestattet und verfügt von Geburt an über die meisten Bewegungsweisen, die es zum Überleben benötigt. Was auf den ersten Blick wie ein Vorteil aussehen könnte, erweist sich jedoch als entscheidende Einschränkung. Denn die angeborenen Fähigkeiten der Tiere beziehen sich auf eine besondere Umwelt. Ihre Lebensfähigkeit ist auf diese spezifischen Umweltbedingungen begrenzt. Der Mensch dagegen ist (um)weltoffen. Zwar muss er zunächst alle lebensnotwendigen Handlungsweisen erwerben – eben auch seine Bewegungsfähigkeit ausbilden –, aber genau dafür ist er auch ausgestattet: Er ist entwicklungs- und lernfähig. Mithilfe dieses Vermögens kann er sich nicht nur an verschiedene und wechselnde Umweltbedingungen anpassen, er nimmt aktiv Einfluss auf seine Umwelt und gestaltet und verändert sie produktiv mit....