Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben,
ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.
Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt,
nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage,
sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.
Karl Marx
Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben,
er muss endlich hinaus ins „feindliche Leben“.
Man darf das „ die Erziehung zur Realität“ heißen.
Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion.
Eine Illusion aber wäre es zu glauben,
dass wir anderswoher bekommen könnten,
was sie uns nicht geben kann.
Wo Es war, soll Ich werden.
Sigmund Freud
1 Einige persönliche Vorbemerkungen[1]
Die Frage zu beantworten, warum man sich gerade für jene Bereiche des Denkens interessiert, die nun einmal im eigenen Leben wichtig geworden sind, fällt nicht leicht. Vielleicht ist die Neigung zu bestimmten Fragen angeboren, vielleicht ist es der Einfluss bestimmter Lehrer oder gerade aktueller Ideen, vielleicht sind es persönliche Erlebnisse, die in die Richtung der späteren Interessen gewiesen haben: Wer kann schon sagen, welcher dieser Faktoren seinen späteren Lebensweg bestimmt hat. Wollte man ganz genau die jeweilige Bedeutung all dieser Faktoren erkennen, so könnte man nur mit einer ausführlichen Autobiographie den Versuch einer Antwort wagen.
Da dieses Buch nicht als eine historische, sondern nur als eine Art „intellektuelle“ Autobiographie gedacht ist, möchte ich nur einige Erlebnisse aus meiner Jugendzeit herausgreifen, die für mein späteres Interesse an den Theorien von Marx und Freud sowie an dem, was beide verbindet, bedeutsam wurden.
Warum ich ein so großes Interesse für die Frage entwickelte, warum die Menschen sich gerade so und nicht anders verhalten, dafür mag der Hinweis hilfreich sein, dass ich das einzige Kind eines ängstlichen und launischen Vaters und einer zu Depressionen neigenden Mutter bin. Ich begann mich für die merkwürdigen und geheimnisvollen Ursachen menschlicher Reaktionen zu interessieren. Ganz lebhaft entsinne ich mich noch an eine Begebenheit – ich war damals etwa zwölf Jahre alt –, die mein Denken weit mehr beschäftigte als alles, was ich zuvor erlebt hatte, und die jenes Interesse an Freud vorbereitete, das dann zehn Jahre später offenkundig wurde.
Folgendes war geschehen: Ich kannte eine junge Frau, etwa fünfundzwanzigjährig, eine Freundin meiner Familie. Sie war schön und attraktiv, und außerdem war sie Malerin – die erste Malerin, der ich begegnet war. Ich entsinne mich, gehört zu haben, dass sie verlobt gewesen war, aber nach einiger Zeit die Verlobung wieder gelöst hatte; auch erinnere ich mich, dass sie fast stets in Begleitung ihres verwitweten Vaters war. Soweit ich mich erinnern kann, war ihr Vater ein alter, uninteressanter Mann von wenig anziehendem Äußeren. (Das fand ich wenigstens damals, aber vielleicht war mein Urteil auch etwas von Eifersucht getrübt.)
Eines Tages hörte ich die erschütternde Nachricht, dass der Vater gestorben sei und die junge Frau unmittelbar darauf sich das Leben genommen und ein Testament [IX-040] hinterlassen habe, in dem sie erklärte, sie wolle zusammen mit ihrem Vater begraben werden.
Ich hatte damals noch nie etwas von Ödipuskomplex oder von inzestuöser Fixierung zwischen Tochter und Vater gehört. Aber ich war tief betroffen. Ich hatte mich zu der jungen Frau stark hingezogen gefühlt und den wenig anziehenden Vater verabscheut. Und ich hatte zuvor noch niemanden gekannt, der sich das Leben genommen hatte. Der Gedanke durchfuhr mich: „Wie ist so etwas möglich? Wie ist es möglich, dass eine junge, schöne Frau so in ihren Vater verliebt ist, dass sie ein Grab an seiner Seite den Freuden des Lebens und des Malens vorzieht?“
Ich wusste natürlich keine Antwort auf diese Fragen, aber das „Wie ist so etwas möglich?“ blieb haften. Und als ich mit Freuds Theorien bekannt wurde, schienen sie mir die Antwort auf ein rätselhaftes und erschreckendes Erlebnis meiner Jugendzeit geben zu können.
Mein Interesse an den Ideen von Marx hatte einen anderen Ursprung. Ich wuchs in einer religiösen jüdischen Familie auf, und die Schriften des Alten Testaments bewegten und fesselten mich mehr als alles andere, das mir begegnete. Allerdings galt dieses Interesse nicht für alle Schriften des Alten Testaments in gleichem Maße. So langweilte mich die Geschichte von der Eroberung Kanaans durch die Hebräer, ja sie stieß mich ab. Mit den Geschichten über Mordechai oder Ester wusste ich nichts anzufangen, und auch das Hohelied wusste ich – zu dieser Zeit – noch nicht zu schätzen. Doch die Geschichten vom Ungehorsam Adams und Evas, von Abrahams Ringen mit Gott um die Rettung der Bewohner von Sodom und Gomorra, von Jonas Sendung nach Ninive und viele andere Details der Bibel faszinierten mich.[2] Am allermeisten aber bewegten mich die Schriften der Propheten Jesaja, Amos und Hosea, und zwar nicht sosehr wegen ihrer Warnungen und ihrer Prophezeiung des Untergangs, sondern wegen ihrer Verheißung des Jüngsten Tages, wo die Völker „Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen“ schmieden werden (Jes 2,4); wo die Verheißung galt: „Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt sich nicht mehr für den Krieg“ (Jes 2,4); wo alle Völker Freunde werden, „denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (Jes 11,9).
Die Vision eines universalen Friedens und der Gedanke einer Harmonie zwischen allen Völkern rührten mich, als ich etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Der Grund für dieses Interesse an der Idee des Friedens und des Internationalismus dürfte in der Situation zu suchen sein, in der ich mich damals befand: Ich war ein jüdischer Junge in einer christlichen Umwelt, machte gelegentlich Erfahrungen mit dem Antisemitismus und – was noch entscheidender war – empfand die Fremdheit und die engherzige Abgrenzung gegen Andersartige auf beiden Seiten. Mir missfiel diese Engherzigkeit umso mehr, als ich von dem überwältigenden Wunsch erfüllt war, aus der emotionalen Isolation eines einsamen, verwöhnten Jungen herauszukommen. Was konnte für mich da aufregender und schöner erscheinen als die prophetische Vision von der Brüderlichkeit aller Menschen und von einem universalen Frieden?
Vielleicht hätten mich alle diese persönlichen Erlebnisse nicht so tief und nachhaltig berührt ohne das Ereignis, das meine Entwicklung mehr als alles andere bestimmte: [IX-041] der Erste Weltkrieg. Als dieser Krieg im Sommer 1914 ausbrach, war ich ein Junge von vierzehn Jahren, den die Aufregungen des Krieges, die Siegesfeiern, die Tragödie des Todes einzelner Soldaten, die ich persönlich kannte, mehr als alles andere beeindruckten. Das Problem des Krieges als solches interessierte mich nicht. Seine sinnlose Unmenschlichkeit war mir nicht aufgegangen. Aber bald änderte sich das alles, wozu auch einige Erlebnisse mit meinen Lehrern beitrugen. Mein Lateinlehrer, der in den beiden Jahren vor dem Krieg in seinen Unterrichtsstunden die Devise: Si vis pacem para bellum („Willst du den Frieden, so halte dich kriegsbereit“ – Vegetius Renatus) als seinen Wahlspruch verkündet hatte, war begeistert, als der Krieg ausbrach. Ich merkte jetzt, dass seine angebliche Sorge um die Erhaltung des Friedens nicht echt gewesen sein konnte. Wie war es möglich, dass ein Mann, dem die Erhaltung des Friedens so am Herzen zu liegen schien, jetzt über den Krieg frohlockte? Von da an fiel es mir schwer zu glauben, dass Aufrüstung dem Frieden diene, selbst wenn Menschen dafür eintreten, die mehr guten Willen haben und aufrichtiger sind als mein ehemaliger Lateinlehrer.
Bestürzt war ich auch über den hysterischen Hass gegen die Engländer, der damals ganz Deutschland erfüllte. Plötzlich waren es elende, bösartige und skrupellose Söldner, die unsere unschuldigen und allzu vertrauensseligen deutschen Helden zu vernichten trachteten. Inmitten dieser nationalen Hysterie ist mir ein entscheidendes Ereignis in Erinnerung geblieben. Wir hatten in unserem Englischunterricht die Aufgabe bekommen, die englische Nationalhymne auswendig zu lernen. Diese Aufgabe war uns vor den Sommerferien gestellt worden, als noch Frieden herrschte. Als dann der Unterricht wieder begann, sagten wir Jungen zu unserem Lehrer – teils aus Ungezogenheit und teils, weil wir vom „Hass gegen England“ angesteckt waren –, wir weigerten uns, die Nationalhymne unseres schlimmsten Feindes auswendig zu lernen. Ich sehe ihn noch vor der Klasse stehen, wie er mit einem ironischen Lächeln über unseren Protest ruhig sagte: „Macht euch nichts vor; bis jetzt hat England noch nie einen Krieg verloren.“ Hier sprach die Stimme der Vernunft und des Wirklichkeitssinns inmitten des aberwitzigen Hasses – und es war die Stimme eines verehrten und bewunderten Lehrers! Dieser eine Satz und die ruhige, vernünftige Art, in der er geäußert wurde, war für mich eine Erleuchtung. Er durchbrach die verrückte Hasswelle und die nationale Selbstvergötterung, und ich begann nachzudenken und mich zu fragen: „Wie ist so etwas möglich?“
Ich wurde älter, und meine Zweifel wuchsen. Einige meiner Onkel und Vettern und ältere Schulkameraden fielen im Krieg. Die Siegesprophezeiungen der Generale erwiesen sich als falsch, und bald lernte ich das zweideutige Gerede von „strategischen Rückzügen“ und „siegreicher Verteidigung“ verstehen. Und noch etwas anderes geschah. Die deutsche Presse hatte von Anfang an behauptet,...