2 Lernarten
In diesem Kapitel werden einzelne Lernarten dargestellt: Habituation, klassisches Konditionieren, operantes Lernen, Modelllernen, Diskriminationslernen, Begriffslernen, Regellernen und Problemlösen. Zum Teil handelt es sich dabei um „niedrigere“ Lernarten, die implizit ablaufen; zum Teil um „höhere Lernarten“, die größere Anforderungen stellen und durch Vorstellungen, Gedanken und Sprache gefördert werden.
Im Nachfolgenden werden die einzelnen Lernarten in ihren Eigenarten und Gesetzmäßigkeiten besprochen. Es wird diskutiert, in welchen menschlichen Lebensbereichen sie wichtig sind und wie man sich die bisherigen Erkenntnisse bei der Förderung von Lernprozessen zu Nutze machen kann. Dabei wird auch deutlich, dass die sogenannten „niedrigeren“ Lernarten die Grundlage für sogenannte „höhere“ Lernprozesse bilden.
Lernen entsteht durch Erfahrungen, die zu einer Veränderung des Verhaltens bzw. des Verhaltenspotentials führen. Dabei lassen sich verschiedene Arten des Lernens voneinander abgrenzen, die von einfachen Gewöhnungsprozessen bis hin zum Lösen von komplexen Problemen reichen.
2.1 Habituation (Gewöhnung)
Gewöhnung oder Habituation ist die einfachste Form des Lernens. Durch Habituation wird gelernt, einen bekannten Reiz in Situationen, in denen er nicht bedeutsam ist, zu ignorieren. Wir alle kennen diese Form des Lernens aus unserem Alltag. Wir belegen einen Reiz aus unserer Umwelt automatisch mit Aufmerksamkeit, wenn er neu ist und wir ihn nicht einordnen können. Sind wir diesem Reiz jedoch wiederholt ausgesetzt und erweist er sich als unbedeutend, schwächt sich die Reaktion darauf ab und es tritt Habituation ein. So nehmen wir in einer neuen Umgebung das gleichmäßige Geräusch der Fahrzeuge einer entfernten Autobahn nach einiger Zeit nicht mehr als störend wahr. Eltern können bei ihren Neugeborenen schon nach wenigen Wochen Habituation beobachten, wenn sie ihnen ein neues Glöckchen vorführen. Die Kinder werden sich anfangs zu der Glocke hin orientieren, sich nach einiger Zeit jedoch anderen Dingen zuwenden. Weil Habituation bei kleinen Kindern regelmäßig zu beobachten ist, wird sie als eine Methode eingesetzt, um Erkenntnisse über die mentalen Fähigkeiten von Kleinkindern, beispielsweise bei der Erkennung von Gesichtern oder der Anordnung von Objekten, zu gewinnen.
Warum es ein Lernprinzip wie Habituation gibt, ist sofort einleuchtend. Wir werden in unserem Alltag ständig mit neuen Reizsituationen konfrontiert und müssen permanent entscheiden, ob ein Reiz nützlich, gefährlich oder irrelevant ist. Aufgrund unserer beschränkten Aufmerksamkeitskapazität ist es daher sehr vorteilhaft, wenn wir in der Lage sind, unbedeutende Reize „automatisch“ zu ignorieren. Ohne die Fähigkeit, sich an unbedeutende Reize zu gewöhnen, wäre unsere Aufmerksamkeit permanent überlastet und wir hätten nicht die Möglichkeit, bedeutsame Reize angemessen zu verarbeiten.
Dies können Sie selbst ausprobieren, indem Sie sich einmal in Ihrer jetzigen Umgebung umschauen. Versuchen Sie einerseits festzuhalten, welche Gegenstände es in Ihrer direkten Umgebung gibt und bemühen Sie sich gleichzeitig, sich ins Gedächtnis zu rufen, was Sie in diesem Kapitel bisher über Habituation gelesen haben. Sie werden feststellen, dass dies ein sehr schwieriges Unterfangen ist. Ist unsere Aufmerksamkeitskapazität zu stark belastet, sind wir nicht in der Lage, relevanten Informationen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.
Habituation ist also grundsätzlich eine sehr sinnvolle Art des Lernens. Das folgende Beispiel aus dem Alltag leidgeprüfter Eltern zeigt jedoch, dass auch sinnvolle Lernprinzipien nicht immer zu erwünschten Ergebnissen führen. Eine Mutter, die sich gerade für eine Tätigkeit sehr konzentrieren muss, bittet ihr Kind mit erhobener Stimme, etwas leiser zu sein. Dies ist für das Kind erst einmal bedeutsam. Es wird der Mutter die Aufmerksamkeit zuwenden und still sein, um zu sehen, was weiter passiert. Die Mutter ist zufrieden, weil das Kind nicht mehr laut ist und setzt ihre Tätigkeit fort. Wenn dies mehrfach passiert, ohne dass dies für das Kind weitere Konsequenzen nach sich zieht, wird es die Bitten der Mutter immer mehr ignorieren. Es hat gelernt, dass die Aufforderungen nicht mit Konsequenzen verbunden und daher wenig relevant sind. Es ist klar, dass die oben beschriebene Sequenz aus dem Mutter-Kind-Alltag so eher nicht stehenbleiben wird. Wahrscheinlicher ist es, dass die Mutter immer lauter wird, vielleicht sogar zu schreien beginnt und mit weiteren Konsequenzen droht, um zu erreichen, dass das Kind leise spielt.
2.2 Lernen von Signalen: Klassisches Konditionieren
Klassisches Konditionieren ist eine grundlegende Form des Lernens, bei der ein Reiz oder ein Ereignis das Auftreten eines anderen Reizes oder Ereignisses vorhersagt. Wir erlernen neue Verbindungen zwischen zwei Reizen. Beim klassischen Konditionieren wird auf einen neuen Reiz mit einem bereits vorhandenen Verhalten reagiert. Im Unterschied zu anderen Lernformen sind beim klassischen Konditionieren fast immer autonome Reaktionen wie Reflexe und Emotionen betroffen. Der Lernprozess selbst ist hierbei weitgehend reaktiv. Damit ist gemeint, dass er automatisiert und nicht intentional abläuft.
Entdeckt und der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht wurde das Prinzip des klassischen Konditionierens durch Iwan Pawlow, der für seine Forschungen über das Verdauungssystem 1904 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Pawlow stellte fest, dass Futter bei Hunden reflexartig Speichelfluss auslöste. Dieser Speichelfluss wurde jedoch ebenfalls ausgelöst, wenn die Hunde antizipierten, dass es gleich Futter geben werde. So speichelten sie bereits dann, wenn sie die Schritte ihrer Betreuer hörten. Pawlow konnte nun zeigen, dass ganz unterschiedliche Hinweisreize oder Signale (Glocke, Metronom, Leuchten einer Glühbirne) den Speichelfluss auslösen konnten, wenn sie einige Male zusammen mit dem Futter präsentiert wurden. Pawlow bezeichnete diese Form des Lernens als klassisches Konditionieren.
In Pawlows Terminologie ist das Futter ein unkonditionierter (unbedingter, natürlicher) Reiz (UCS). Der Speichelfluss wird entsprechend als unkonditionierte (unbedingte, natürliche) Reaktion (UCR) bezeichnet. Aus dem anfangs neutralen Reiz (Glocke), der keinen Speichelfluss sondern nur eine Orientierungsreaktion auslöst, wird durch die mehrfache Kombination mit dem Futter ein konditionierter Reiz (CS). Dieser ist dann in der Lage, Speichelfluss auszulösen, auch wenn kein Futter präsentiert wird (konditionierte Reaktion, CR). Abbildung 5 verdeutlicht das Prinzip des klassischen Konditionierens.
Ein sehr gutes Beispiel für die Funktionsweise des klassischen Konditionierens bei der Entstehung von Angst sind die Fliegerbombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs. Diese wurden jeweils einige Zeit vorher durch den Fliegeralarm angekündigt, bei dem laute Sirenen die Menschen warnten und dazu aufforderten, sich in Sicherheit zu bringen. Die mit Lebensgefahr verbundenen Bombenangriffe (UCS) führen zu einer Angstreaktion (UCR). Die mehrmalige Kombination von Alarmsirenen (CS) und den Bombenangriffen bewirkt, dass die Angstreaktionen auch dann auftreten, wenn nur die Sirenen heulen (CR). Dies konnte man nach dem Krieg beobachten, als viele Menschen über starke Angstsymptome bei Probealarmen berichteten, oft sogar dann, wenn sie wussten, dass es sich um einen Probealarm handelte.
Beim klassischen Konditionieren ist die zeitliche Nähe zwischen dem UCS (Bomben → Todesangst) und dem CS (Sirenen) von entscheidender Bedeutung. Nur wenn sie zeitlich benachbart sind, kann der Organismus diejenigen Assoziationen zwischen ihnen herstellen, die die Grundlage des Lernprozesses bilden. Die besten Konditionierungsergebnisse werden erzielt, wenn der CS kurz vor dem UCS auftritt. Dieses gemeinsame Auftreten der Reize wird als Kontiguität bezeichnet. Kontiguität allein ist jedoch nicht ausreichend für Lernen im Sinne des klassischen Konditionierens.
Ein Experiment von Kamin (1968, S. 32) belegte, dass unter bestimmten Umständen auch bei mehrfacher Paarung von UCS und CS keine Konditionierung auftrat. Wie in Tabelle 1 zu sehen ist, arbeitete Kamin hierbei mit zwei CS (Licht und Ton), denen in den Aneignungsphasen 1 und 2 jeweils ein leichter Schock (UCS) folgte. Bei den Tieren aus der Versuchsgruppe wurde in Phase 1 eine CR auf das Licht etabliert, die sich in Phase 2 von Anfang an zeigte. Entscheidend ist nun, dass die Tiere aus der Versuchsgruppe in Phase 3 keine CR auf den Ton zeigten, während bei den Tieren aus der Kontrollgruppe eine CR auf den Ton sichtbar war.
Tab. 1: Versuchsanordnung von Kamin (1968)
| 1. Phase | 2. Phase | 3. Phase | Resultat |
Versuchsgruppe | Licht | Licht + Ton | Ton | Ton erzeugt keine CR |
Kontrollgruppe | – | Licht + Ton | Ton | Ton erzeugt eine CR |
Abb. 5: Funktionsweise des klassischen...