Einleitung
Cara musste plötzlich erfahren, dass ein Gerücht umging. Ein Gerücht darüber, dass sie Geld von ihrer Mutter gestohlen haben soll. Als sie gefragt wurde, wer dieses Gerücht verbreitet hätte, sagte sie: Solche Dinge findet man nie heraus. Sie [die anderen Mädchen] haben gesagt, dass Jenny es zuerst gesagt, Jenny sagte, sie hätte es von Diana, und dann aber sagte sie, dass Amy es gesagt hätte. Amy wiederum behauptet Angie hätte es gesagt, Angie sagt, Amy hätte es gesagt, und dann sagte Amy wieder, dass Jenny es gesagt hätte.
Xie, Swift, Cairns & Cairns (2002)
Den offenen und körperlichen Formen aggressiven Verhaltens galt bislang vor allem die Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Gesellschaft. Das Spektrum aggressiver Verhaltensweisen ist aber viel breiter, als gemeinhin angenommen wird. Wichtig und sinnvoll ist es, zwischen verschiedenen Spielarten aggressiven Verhaltens zu unterscheiden (Schwartz, 2000; Tremblay, 2000), denn anderen körperliche Schmerzen zuzufügen, ist nur eine und dabei eine vergleichsweise grobe Form, Mitmenschen Leid zu bereiten. Weitaus subtiler, aber nicht minder wirksam sind Formen aggressiven Verhaltens wie hinter dem Rücken einer Person unvorteilhafte Informationen über sie preiszugeben, sie vor ihren Freunden lächerlich zu machen, sie aus gemeinsamen Aktivitäten auszuschließen oder auch nur damit zu drohen, eines dieser Dinge zu tun. Unser anfängliches Beispiel verdeutlicht diese Art von sozial aggressiven Szenarien.
Über Kameraden zu lästern oder Lügen über sie zu verbreiten, gilt gewöhnlich als aggressives Verhalten. Dennoch können diese subtilen Aktivitäten, die auch schon in der Kindheit und Jugend enorm verbreitet sind, schnell zur peinigenden Aggression werden, wenn sie absichtlich und mit der Intention, jemanden zu schädigen, ausgeführt werden.
Da sozial-manipulative Verhaltensweisen häufig von anderen unbemerkt bleiben, liegt der Fokus dieses Buches auf diesen Formen aggressiven Verhaltens von Kindern und Jugendlichen.
Wie lässt sich die bisherige Schwerpunktsetzung auf körperliche Aggression erklären? Zum einen tritt „Hauen“, „Treten“ oder „Boxen“ schon früh in der Entwicklung auf; bei den meisten Kindern sind diese körperlichen aggressiven Verhaltensweisen schon im 2. und 3. Lebensjahr zu beobachten (Dunn, 1988; Tremblay, 2000). Zum anderen verstößt ein solches Verhalten in nahezu allen Fällen gegen die Regeln unserer Kultur, so dass Fragen nach der Rechtfertigung solcher Handlungen gar nicht erst aufkommen (Krappmann, 1994). Und zum dritten sind schmerzhafte Kniffe und Tritte auch für unbeteiligte Erwachsene relativ einfach zu beobachten und erhalten daher eine große Aufmerksamkeit von Eltern, Lehrern und anderen beteiligten Erwachsenen.
Schwieriger wird es, wenn neben direkten körperlichen Schädigungen auch indirektes und relational oder sozial aggressives Verhalten einbezogen wird. Dann wird das „Opfer“ nämlich nicht direkt konfrontiert (indirekt aggressives Verhalten), sondern es werden seine Beziehungen zu ihm wichtigen Personen torpediert (sozial und relational aggressives Verhalten). Hier geht es um die Beschädigung seiner sozialen Reputation oder seiner interpersonalen Beziehungen, die natürlich nur im Kontext, also mit genauer Kenntnis der Beteiligten, ihrer „wunden Punkte“ und ihrer Stellung in der Peer-Gruppe, zu erfassen sind. Mit anderen Worten: Hier ist auch eine Insider-Perspektive und viel Forschungsaufwand gefragt.
Kein Wunder daher, dass hervorragende Berichte über diese Formen der Viktimisierung in Form von Romanen vorliegen. Dort werden die psychischen Quälereien von einzelnen oder mehreren „Tätern“ den Leiden des „Opfers“ gegenübergestellt. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Roman „Der junge Törless“ von Robert Musil (1906/1983), in dem ein männlicher Jugendlicher in der repressiven Atmosphäre einer Kadettenanstalt durch eine Gruppe von Altersgenossen solange schikaniert wird, bis er die Anstalt verlässt. Weniger aussichtslos im Ergebnis ist der Roman „Katzenauge“, in dem die kanadische Autorin Margret Atwood (1988/1998) die Beziehung zwischen zwei Grundschülerinnen beschreibt, bei der die vermeintliche Freundin ein Klima der Angst schafft, indem sie die Ich-Erzählerin durch ständige moralische Besserungsversuche einschüchtert und bedroht. „An manchen Tagen scheint alles normal“, schreibt die 9-jährige Protagonistin, „es wird von mir erwartet, dass ich so tue, als sei nie etwas passiert. Aber das ist gar nicht so leicht, weil ich mich immer beobachtet fühle. Jeden Augenblick kann ich eine Grenze übertreten, von der ich gar nicht weiß, dass es sie gibt“ (Atwood, 1988/1998, S. 149).
Die Aussagen präadoleszenter Mädchen, die Rachel Simmons in semi-strukturierten Interviews mit Fokus-Gruppen gewonnen und in ihrem Buch „Odd girl out“ (2002) zusammengefasst hat, beschreiben eindrucksvoll ähnliche Erlebnisse von relationaler Aggression. Dieses Buch erreichte in den USA Bestsellerauflagen. Ethnografische Beobachtungen von Mädchengruppen bestätigten viele der Thesen dieses Buches von Simmons: Mädchengruppen benutzen in der Tat subtile Strategien, um andere Mädchen, die in ihren Augen besser dastehen, schlecht zu machen oder um unerwünschte Mitläuferinnen auszugrenzen (Goodwin, 2002).
In der wissenschaftlichen Forschung in Psychologie, Soziologie und Pädagogik wurden sozial manipulative Formen aggressiven Verhaltens vergleichsweise spät aufgegriffen. Die wohl bekannteste Form dieser Art von Aggression ist das sogenannte „Bullying“. Bullying ist eine Form der sozial manipulativen Aggression, die hauptsächlich im Klassenverband untersucht wird und darauf abzielt, das Ansehen einer Person in einer sozialen Gruppe zu schädigen. Mehrere Autoren, u. a. Atria, Strohmeier & Spiel und Schäfer & Kulis, greifen dieses Thema in diesem Band auf und verdeutlichen die Wichtigkeit der individuellen Klassen- und Personenmerkmale für die Ausprägung des „Bullyings“. Zu erwähnen ist in dieser Themengruppe auch der Beitrag von Hayer, Scheithauer & Petermann, die diesmal nicht die Schüler, sondern die Lehrer als Opfer von Bullyingverhalten thematisieren.
1988 veröffentlichte eine finnische Arbeitsgruppe erstmals eine Arbeit über das Vorkommen von indirekt aggressivem Verhalten (Lagerspetz, Björkvist & Peltonen, 1988). Dass vor allem unter präadoleszenten Mädchen das Lästern und das Verbreiten von nachteiligen Gerüchten über Klassenkameradinnen häufig auftritt, bestätigten zwei weitere Untersuchungen, nämlich eine Beobachtungsstudie aus Großbritannien (McCabe & Lipscomb, 1988) und eine Längsschnittstudie aus den USA (Cairns, Cairns, Neckerman, Ferguson & Gariepy, 1989). Seit 1995 publizierte die Forschergruppe um Nicki Crick und Nicole Werner Ergebnisse zum relational aggressiven Verhalten, einem Verhalten, „das die Beziehungen einer Person zu Gleichaltrigen oder die Gefühle der sozialen Zugehörigkeit oder Akzeptanz beschädigt“ (Werner, Bigbee & Crick, 1999, S. 154). In diesem Band beschäftigen sich vor allem die Beiträge von Werner & Hill, Sippola, Epp, Buchanan & Bukowski, von Salisch, Ittel & Bonekamp mit den unterschiedlichen Ausprägungen und Bedingungsgefügen von relationaler Aggression in Kindheit und Jugend.
Seit 1997 sind darüber hinaus verschiedene Veröffentlichungen zum sozial aggressiven Verhalten nachzulesen (Galen & Underwood, 1997), das sich nicht nur auf Selbst- und Fremdberichte, sondern auch durch Beobachtungen stützen lässt. Viele Autoren in diesem Band thematisieren diese Arten der aggressiven Verhaltensweisen in ihren Beiträgen.
Vergleicht man die Definitionen dieser drei „sozial-manipulativen“ Spielarten aggressiven Verhaltens, so gibt es zwischen ihnen eine große Schnittmenge. Allen gemein ist, dass sie Verhaltensweisen umfassen, die explizit der Schädigung einer anderen Person dienen und sich dabei nicht körperlicher Attacken bedienen. Während aber indirekt aggressives Verhalten per definitionem die Abwesenheit der Zielperson voraussetzt, enthält das Repertoire relational aggressiver Verhaltensweisen gleichwohl auch direkte Verhaltensweisen, wie etwa das „Opfer“ der Attacke öffentlich vor anderen lächerlich zu machen. Indirekt aggressives Verhalten kann nicht nur die Beziehungen einer Zielperson beeinträchtigen, sondern dieser Person auch direkt schaden, etwa indem man ihr einen Streich spielt. Sozial aggressives Verhalten enthält gleichfalls sowohl direkt schädigende Verhaltensweisen, wie etwa abfällige Bemerkungen oder abwertende Bewegungen von Gesicht und Körper gegenüber der Zielperson, als auch indirekt aggressives Verhalten, wie üble Nachrede in Abwesenheit der Zielperson (Galen & Underwood, 1997). Schmid stellt diese verschiedenen Definitionen in ihrem Beitrag zu diesem Buch einander gegenüber.
Seit einiger Zeit hat sich die Untersuchung indirekt relational oder sozial aggressiven Verhaltens zu einem aktiven Forschungsfeld gemausert. Eine Abstract-Suche erbrachte über 100 Titel von Zeitschriftenartikeln, die zwischen 1994 und 2004 über diese Varianten aggressiven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen publiziert wurden. Allerdings, so muss man konstatieren, findet diese Forschung kaum unter deutscher Beteiligung statt. Lediglich ein Buchkapitel (Werner, Bigbee & Crick, 1999), ein Zeitschriftenartikel (Jugert, Scheithauer, Notz & Petermann, 2000) und ein Buch (Scheithauer, 2003) wurden zu diesem Thema bisher in deutscher Sprache veröffentlicht. Ein Anliegen dieses Bandes ist es daher, die Aufmerksamkeit deutschsprachiger Leserinnen und Leser auf diese bisher vernachlässigten Formen aggressiven...