Einführung
»Ich war auf Geschäftsreise nach Wisconsin. Den ganzen Tag lang war ich in einem Raum eingesperrt und wollte etwas frische Luft schnappen. Ich nahm mir vor, in der Mittagspause einen kurzen Spaziergang zu machen, obwohl es draußen recht kalt war. Dazu suchte ich mir ein erholsames Plätzchen. Natürlich schien die Sonne und sie strahlte auch wie eine Sonne, aber von ihr ging überhaupt keine Wärme aus. Und da überkam mich Traurigkeit – die Sonne war genau wie meine Mutter.«
Heather, eine zierliche, vierunddreißigjährige Außendienstmitarbeiterin bei einem großen Pharmakonzern, musste weinen, als sie mir das erzählte. Sie erwartete ihr erstes Kind und hatte Angst, so zu werden wie ihre Mutter.
Heather: Wissen Sie, ich konnte mir lange nicht einmal vorstellen, selber Mutter zu werden. Ich war so glücklich, dass ich nach mehreren schlimmen Beziehungen Jim kennen lernte und merkte, dass mich wirklich jemand liebte. Schon lange wünschten wir uns ein Baby, aber ich hatte Angst, mit mir würde etwas nicht stimmen. So als würde ich genauso kalt sein wie meine Mutter, sobald ich schwanger war. Der Gedanke, ich würde mich meinem Kind gegenüber auch einmal so verhalten, war unerträglich.
So etwas Bestürzendes höre ich immer wieder von Frauen, die alten Schmerz und Angst mit sich herumtragen, weil ihre Mutter sie emotional sehr verletzt hat.
In meiner über fünfunddreißigjährigen Tätigkeit als Therapeutin in unterschiedlichen Bereichen habe ich unzählige Frauen kennen gelernt. Wie Heather sind viele von ihnen wissentlich oder unwissentlich in jenem schädlichen emotionalen Einflussbereich der Frauen, die sie aufzogen, gefangen. Sie können sich diesem Einfluss nur mit Mühe entziehen. Sie kommen mit
- Ängsten und Depressionen,
- Beziehungsproblemen,
- mangelndem Selbstvertrauen,
- Sorge um ihre Fähigkeit, für sich selbst einzustehen oder gar zu lieben,
zu mir, um eine Therapie zu machen. Manchen gelingt es, einen Zusammenhang zwischen der Beziehung zu ihrer Mutter und den eigenen Schwierigkeiten zu erkennen. Andere sagen Dinge wie: »Meine Mutter macht mich verrückt.« Aber das ist ihnen nicht so wichtig wie die Probleme, wegen denen sie zu mir kommen.
Oft versuchen sie, verwirrende, doppeldeutige Botschaften zu enträtseln. Sie hoffen, der Schmerz aus der Vergangenheit möge sich als Irrtum herausstellen.
Ich bat Heather, mir zu erzählen, was genau sie mit »dem kalten Verhalten meiner Mutter« meinte. Zögernd begann sie:
Heather: Es war, als hätte meine Mutter zwei Seiten: Sie richtete Geburtstagsfeiern für mich aus, kam manchmal zu Schulveranstaltungen, ab und zu war sie sogar zu meinen Freunden nett. Aber sie hatte auch eine andere Seite …
Susan: Und wie sah die aus?
Heather: Na ja, sie kritisierte mich furchtbar oft. Aber eigentlich ignorierte sie mich meistens, als wäre ich nicht mal ihre Zeit wert. Vielleicht waren ihre Nettigkeiten nur Show. Aber sicher fühlte ich mich in ihrer Umgebung nicht. Es gab weder eine echte Verbindung noch erlebte ich sie freundlich … Ich hatte nie das Gefühl, ihr wichtig zu sein. Sie befasste sich mit mir nur, wenn es ihr in den Kram passte. Aber als alleinerziehende Mutter hatte sie ja auch so viel um die Ohren, da konnte man ihr Unaufmerksamkeit nicht vorwerfen.
Wie so viele Frauen sprach Heather aufrichtig darüber, wie sie behandelt worden war. Doch sie spielte die eigentliche Verletzung herunter und hatte Mühe, ihre Mutter so zu sehen, wie sie selten war: nämlich liebevoll.
Was macht eine gute Mutter aus?
Von einer guten Mutter wird nicht erwartet, dass sie perfekt ist. Niemand erwartet, dass sie sich wie eine Märtyrerin aufopfert. Sie hat selbst ihr Päckchen zu tragen, hat seelische Narben und Bedürfnisse. Vielleicht will sie ihren Beruf nicht aufs Spiel setzen und ist deshalb nicht immer für ihre Tochter da. Vielleicht verliert sie die Beherrschung und sagt oder tut Dinge, die sie nachher bedauert. Doch wenn sie trotz ihres dominanten Verhaltens Selbstwertgefühl, Selbstachtung, Selbstvertrauen und Sicherheit ihrer Tochter fördert, macht sie ihre Sache gut, ganz egal ob sie eine tolle oder mittelmäßige Mama ist. Sie zeigt ihrem Kind spürbar und verlässlich echte Liebe.
Für Heather und viele andere Frauen gab es nährende Liebe und Aufmerksamkeit hingegen nur tröpfchenweise. Hinter verschlossenen Türen sah die Realität, von der Außenstehende selten erfuhren, anders aus: Ihre Mütter machten sie fertig, konkurrierten mit ihnen, ignorierten sie eiskalt, schrieben sich die Leistungen ihrer Töchter zu, vernachlässigten sie oder misshandelten sie gar. Aber sie lieben? Nein. Liebe ist etwas Konstantes, Allumfassendes. Diese nährende Wärme fehlte.
Der hohe Preis für fehlende Mutterliebe
Im Leben machen wir unweigerlich schmerzhafte und verletzende Erfahrungen. Heranwachsende Mädchen identifizieren sich mit ihrer Mutter. Wenn diese ausfallend, kritisch, erdrückend, deprimiert, nachlässig oder distanziert ist, müssen sie sich ein stabiles Ichgefühl und ihren Platz in der Welt ganz allein erkämpfen.
Sie merken selten, dass ihre Mütter lieblos oder, in Extremfällen, böswillig waren. Dies würden Kinder ganz allgemein auch nicht zugeben können, denn sie sind für ihr Überleben so sehr auf eine Bezugsperson angewiesen, dass ihnen dieses Eingeständnis Angst machen würde. Für ein Kind ist es weniger gefährlich zu glauben: »Wenn zwischen uns etwas nicht stimmt, dann deshalb, weil mit mir etwas nicht stimmt.« Die Tochter erklärt sich das verletzende Verhalten ihrer Mutter, indem sie sich selbst Vorwürfe macht und sich für böse hält. Das tut sie auch als Erwachsene noch, egal wie viel sie leistet oder wie sehr sie von anderen, auch den eigenen Kindern, geliebt wird.
Aus einem kleinen Mädchen, das von einer lieblosen Mutter kritisiert, ignoriert, misshandelt oder unterdrückt wurde, wird eine Frau, die sich einredet, sie sei nie gut oder liebenswert genug, nie so klug, so hübsch oder so akzeptabel, dass sie Erfolg und Glück verdient hätte. »Wenn du Respekt und Zuneigung wirklich verdient hättest«, flüstert eine innere Stimme, »hätte deine Mutter dir diese Dinge gegeben.«
Falls es Ihnen auch so ergangen ist und Sie von Ihrer Mutter die so dringend benötigte Liebe nicht bekommen haben, ist Ihr Selbstvertrauen heute vielleicht auch angeknackst und Sie fühlen sich leer und traurig und nie so recht wohl in Ihrem Leben. Vielleicht misstrauen Sie Ihrer Liebesfähigkeit und können erst dann mit Ihrem Leben zurechtkommen, wenn Sie diese unterschwellige, aber stets vorhandene Verletzung durch Ihre Mutter überwunden haben.
Warum ich dieses Buch jetzt schreibe
Meine Sitzung mit Heather brachte mir wieder einmal eine schmerzliche Realität in Erinnerung, über die ich noch lange nachdachte. Heather ist intelligent, attraktiv und fähig, schien diese Eigenschaften jedoch nicht zu sehen. Sie zweifelte an ihrer Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden. Sie kam sich wie eine Blenderin vor, immer in Angst, etwas sei mit ihr nicht in Ordnung, obwohl alles dagegen sprach. Selbstkritisch wie sie war, wartete sie noch mit vierunddreißig auf die Anerkennung und den Segen ihrer Mutter, um als Frau, Partnerin und Mutter Selbstvertrauen zu entwickeln. Aber das war wahrscheinlich vergebens. Ohne stärkende Mutterbindung haben Frauen oft ein Leben lang mit Verlust- und Mangelgefühlen zu kämpfen.
Ich habe schon immer am liebsten die schwierigen Wahrheiten zu der Frage beleuchtet, wie wir hinter der Fassade des »perfekten Paars« oder der »glücklichen Familie« tatsächlich miteinander umgehen. Mit meinem Buch Vergiftete Kindheit: Elterliche Macht und ihre Folgen hätte ich alles über unsere Erziehungsberechtigten gesagt, dachte ich. Doch da immer mehr Töchter zu mir kamen, die eine nicht liebende Mutter hatten, und die nun mit den seelischen Folgen kämpften, wusste ich, dass ein Gespräch von Frau zu Frau nötig war.
Für die Entstehung dieses Buches war noch ein anderer – recht aufschlussreicher – Faktor ausschlaggebend: Obwohl ich meine eigene Geschichte mit meiner Mutter schon lange verarbeitet habe, wagte ich es bis zu ihrem Tod nicht, ein Buch zum Thema nicht liebende Mütter zu schreiben. Meine Klientinnen hatten oft auch zu ihren Vätern ein schmerzliches Verhältnis. Diese hatten selbst große Probleme und waren deshalb selten für ihre Töchter da. Doch die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung scheint bei der Tochter immer den emotionalen Kern zu berühren, wenn es darum geht, Ehe, Beruf und Mutterschaft zu meistern.
Falls Sie bei einer Mutter, die Sie nicht liebte, aufgewachsen sind, spiegelt sich dies täglich in Ihren derzeitigen und künftigen Problemen, Ihren Gefühlsbeziehungen und Ihrem Versuch, Selbstvertrauen und Selbstachtung aufzubauen wider. Vielleicht sind Sie frustriert, entmutigt und verstört. Wir werden in diesem Buch gemeinsam zu jener Klarheit und Erleichterung finden, die Ihnen bisher versagt geblieben sind. Ich werde Sie dabei begleiten, die Beziehung zu Ihrer Mutter und sich selbst neu zu gestalten, damit die alten schmerzhaften Wunden heilen können.
Wir werden das Verhalten Ihrer Mutter und dessen Auswirkung auf Sie gründlich und ehrlich analysieren. In den Fallbeispielen werden Sie die Verhaltensmuster Ihrer Mutter – und Ihre eigenen – genau erkennen. Ich zeige Ihnen wirksame, neue Strategien, um hinderliche Glaubenssätze und...