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Wofür sitzen Sie eigentlich hier?

Geschichten vom DB-Service-Point

AutorAndreas Schorsch
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641144968
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Du bist nicht du selbst, wenn du einen Zug erwischen musst ...
Das Irrenhaus Deutsche Bahn kennen wir als leidgeprüfte Zugreisende alle - doch wie ein Angestellter am Service Point die Chaoswirtschaft erlebt, darüber konnten wir bislang nur mutmaßen. Fakt ist, im Herzen des Bahnhofs treffen sie alle aufeinander: die Verrückten, die Verwöhnten, die Verzweifelten. Fußballfans, die am Wochenende die Bahnsteige zerlegen. Alte Damen, die Süßigkeiten vorbeibringen, seit ihnen 1998 der Koffer gerettet wurde. Hobbyjuristen, die ihre Fahrpreiserstattung bereits einklagen, bevor sie überhaupt in den Regional-Express steigen. In der zugigen Vorhalle ist Andreas Schorsch der Fels in der Brandung. Nur 'der kleine Prinz', sein durchsetzungsschwacher Chef, hat bei ihm niemals was zu lachen ...

Andreas Schorsch, geboren 1960 in Düsseldorf, verbrachte nach der Hauptschule lässige 458 Tage beim Bund. Seine Ausbildung zum Fachverkäufer für Schuhmode fand ein abruptes Ende, als er eine Diskussion mit seinem Vorgesetzten nonverbal beendete. Es blieb bis heute sein einziger Sieg durch K.o. Seitdem setzt er sich als Mitarbeiter der Deutschen Bahn wortgewandt und hilfsbereit für die liebe Kundschaft ein.

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Leseprobe

Vorwort

Der Mensch ist langsam im Denken. Und von Natur aus gemütlich. Er möchte es einfach, klar und griffig, und er möchte, dass immer alles so bleibt, wie es einmal war. Wobei einmal heißt: zu der Zeit, in der er es gelernt hat.

Nehmen wir zum Beispiel mal das Filmegucken. Kein Mensch gibt sich heute noch freiwillig mit Videokassetten ab. Niemand nestelt mehr klobige Klötze aus schwarzem Kunststoff in große Schlitze und sieht gütig darüber hinweg, dass die Bildqualität des Bandes, das damals angeblich mehr als tausend Überspielungen verlustfrei aushalten sollte, schon nach zehn Aufnahmen in Richtung Hinterhof-Überwachungskamera kippt. Alle sind froh und glücklich über digitale Recorder, auf deren Festplatten ein ganzer Regalmeter voller Videokassetten passt, oder über die unendlichen Weiten des Internets, in denen man alles einfach so abrufen kann – im Prinzip ein bisschen wie Captain Picard in Star Trek, wenn er sein Quartier betritt, einen Tee aus dem Replikator zieht und dem Computer befiehlt: »Chopin, die Nocturnes«, woraufhin das edle Klimpern beginnt.

Trotzdem schwärmen heute die Nostalgiker: Weißt du noch, wie das war, Andreas? Die guten, alten Videokassetten? Dieser satte Klang, wenn man sie in den Schacht schob? Und wir hatten ja nichts! Keine zweite Tonspur. Keinen Kommentar des Regisseurs! Wenn wir die englische Version gucken wollten, haben wir eine Extrakassette aus den USA importiert!

Die guten, alten Zeiten.

Telefone hatten noch Schnüre.

Das Fernsehen bestand aus drei Sendern plus RTL.

Und Twix hieß noch Raider.

Die Erinnerung daran wärmt das Herz.

Hat man sich aber irgendwann an das Neue gewöhnt oder sich selbst beigebracht, verblasst sogar sie.

Der Service Point im Foyer des Bahnhofs hieß jahrzehntelang einfach nur Information. In den Wohnzimmern standen Nierentische, und über den Eingängen kleiner Frisörsalons spannten sich süße rot-weiße Minimarkisen. Männer mit Ledertaschen schimpften über die langhaarigen Bombenleger, Franz Beckenbauer wurde Weltmeister als Spieler, und Helmut Kohl trat seine Regentschaft an, die laut Plan nicht hätte enden sollen, ehe die Befehlshaber von 642 Meter langen Raumschiffen mit der knappen Höhe des Kölner Doms ihrem Computer sagen, welche Musik sie gerne zum Tee hören möchten. Thomas Gottschalk moderierte Wetten, dass..? mit ebenfalls Kohl’schen Amtslängen-Absichten, und Franz Beckenbauer wurde Weltmeister als Trainer. Die Mauer fiel und bereicherte den Bahnverkehr um ein fein gesponnenes Streckennetz, dessen Verästelungen bis tief in die Buchten der Mecklenburgischen Seenplatte reichen. Und in all dieser Zeit, in der Imperien kamen und gingen, hieß die kleine Theke im Foyer eines Bahnhofs, an der man Informationen bekam: Information.

Nur weniges bleibt so lange dermaßen beständig und wenn, dann aus gutem Grund.

Persil.

Tempo.

4711.

Irgendeine Veranlassung, diese Namen zu ändern?

Vielleicht in:

Parsi?

Speed?

0815?

Nee.

Lass mal.

Manches brennt sich ein.

Das kriegt keiner so schnell weg.

In den Neunzigern kamen dann die Menschen, die dachten: Wir kriegen das weg! Alles weg aus den Köpfen! Marketing statt Maoismus, aber mit gleicher Absicht: Kulturrevolution! Adieu deutsche Sprache, hallo flotter Anglizismus. Wir alle kennen das Spiel. Es wurden Bücher drüber geschrieben, und noch heute erzählt man sich gerne, wie die Parfümerie Douglas an Kundschaft verlor, weil die Menschen dachten, der neue Slogan »Come in and find out« hieße: »Komm rein und mach, dass du schnell wieder rausfindest!« Den Altpatrioten schwoll angenehm der Kamm, denn sie sahen sich nun ihrerseits berechtigt, das Kind mit dem Bade auszuschütten und mit der Rücknahme des unmöglichen »Denglisch« auch gleich die Umstellung von T-Shirt auf T-Hemd oder von Walkman auf »tragbares Abspielgerät für Musikkassetten« zu fordern, was der verbissen sachlichen Benennung der Dinge in der ehemaligen DDR so nahekam, wie es einem konservativen Heimatwächter aus der Oberpfalz nun eigentlich auch wieder nicht recht sein konnte.

Die Information?

Sie verwandelte sich in jenen wilden Zeiten zum Service Point.

Also, das Wort verwandelte sich. Sonst blieb eigentlich alles beim Alten, denn freundlichen, von der Hochachtung gegenüber dem Kunden getragenen Service haben wir schließlich schon immer geboten und bieten ihn bis heute, wie dieses Buch im Folgenden beweisen wird.

Hö, hö.

Nun denn, ein kleiner Schritt für uns war ein großer Schritt für die Menschheit. Über Jahre hinweg lautete die fortan meistgestellte Frage an der Infor…, pardon, am Service Point: »Äh, Verzeihung? Wo finde ich denn hier die Information?«

Als wir schon dachten, dass es niemals aufhört, war eines Tages der Punkt überschritten, an dem die Menschen sich weigerten, den neuen Begriff zu akzeptieren oder ihn tatsächlich noch nie gehört hatten. Selbst Neunzigjährige arbeiteten sich nun zu uns durch und fragten ganz unverblümt: »Wie oft muss ich denn wohl umsteigen, wenn ich von hier nach Potsdam möchte?«

Es kam vor, dass wir dann unsererseits aus Gewohnheit die Frage überhörten und im Tonfall erfahrener Krankenschwestern antworteten, langsam und deutlich artikulierend: »Ja, richtig, genau. Das ist die Information.«

Das Ergebnis war eine Fortbildung in Sachen Altersdiskriminierung bei einer Dozentin namens Sibylle Rauchfuß-Gantenbein. Die hieß natürlich nicht wirklich so, aber sehr ähnlich.

Jedenfalls, irgendwann, nach langen, endlosen Mühen, war die Information im Bewusstsein der Menschen nun endlich der Service Point geworden. Und zwar so sehr, dass dieses Buch im Untertitel Geschichten vom DB-Service-Point heißt, obwohl der Service Point im Jahre 2015 schon seit der großen Sprachreinigungsaktion von Oberchef Rüdiger Grube vor fünf Jahren längst wieder DB Information heißt.

Nur: Gemerkt hat es bislang keiner.

Stattdessen fragen uns jetzt die Leute, ob sie hier am Service Point seien, denn da stünde ja »nur« DB Information.

Ich halte für diese Fälle immer eine Packung Minischokotäfelchen und einen Gratisstadtplan von Düsseldorf bereit, damit sie mir auch sofort glauben, dass ich nicht nur wie ein Automat Informationen raushaue, sondern auch ordentlichen Service biete. Ich trage sogar Koffer. Und stelle Bescheinigungen aus für alle Lebenslagen.

Außerdem sollen Sie, liebe Leserinnen und Leser, ja auch nicht unnötig verwirrt werden. Deswegen dachte ich mir, erklärst du das einfach mal, bevor es losgeht. Ich hätte ohnehin nie gedacht, dass ich mal ein Buch schreibe. Jetzt, wo ich es tue, muss ich an die braunen, weichen Taschenbuchausgaben denken, in denen wir damals in der Schule Schillers Räuber lasen. Hamburger Lesehefte hießen die. Da stand vorne immer kurz und knapp, wer mitspielt, was mir stets gut gefiel. Übersicht ist wichtig. Ich erläutere den Kunden, die mich nach einer Verbindung Richtung Stuttgart fragen, ja auch nicht zuerst die Legende von den Gebeinen der Heiligen Drei Könige oder die spannende Tatsache, dass sonst nur noch Limburg Süd der einzige Bahnhof ist, in dem ausschließlich Fernzüge halten, sondern sage ihnen erst einmal: Wenn Sie nach Stuttgart wollen, fahren Sie über Köln und Frankfurt Flughafen. Alles andere berichte ich vielleicht auch noch, das kommt auf die Situation und die Gemütslage des Kunden an.

Also sage ich jetzt: Die Figuren, mit denen Sie es in diesem Buch zu tun bekommen, sind meine Wenigkeit, meine Kollegin Annika und hin und wieder mein Chef, den wir nur den kleinen Prinzen nennen, weil er stets so viel möchte und alles für möglich hält. Der Gute. Die Annika ist eine ganz Liebe, und das ist nicht nur so dahergesagt. Sie hat eine unendliche Geduld mit den Menschen, zitiert gerne Lebensratgeber und achtet darauf, dass ich nicht »übertreibe«. Aber was heißt schon übertreiben? Ich gestalte meinen Beruf eben interessant aus. Auf dem Bahnhof ist sowieso jeder im Ausnahmezustand. Es gibt eine Werbung für diesen berühmten Schokoriegel mit Erdnüssen, dessen Marke Ihnen gerade bestimmt nicht einfällt, weil ich sie gewissenhaft verschweige, da lautet der Slogan: »Du bist nicht du selbst, wenn du Hunger hast.«

Nach mehreren Jahrzehnten Erfahrung mit den Menschen im Bahnhof kann ich guten Gewissens umdichten: »Du bist nicht du selbst, wenn du einen Zug erwischen musst.«

Die Kunden, von denen ich erzähle, hat es alle gegeben. Sollten Sie das Gefühl kriegen, der ein oder andere Dialog wäre heillos auf die Spitze getrieben worden, ist es wahrscheinlich der naturgetreueste. Das mag an mir und der bereits erwähnten kreativen Ausgestaltung meines Berufsprofils liegen, die immer dann besonders aufblüht, wenn die Menschen liebenswert verrückt sind oder anerkennenswert sportlich in ihrer Hartnäckigkeit.

Die liebe Annika und den kleinen Prinzen hingegen gab es zwar auch, doch sie sind nicht mehr bei der Bahn. Insofern handelt es sich hier tatsächlich noch um Geschichten vom Service Point. Die Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich jetzt arbeite, möchten lieber erst in einer etwaigen Fortsetzung mit dem Titel Geschichten von der DB Information vorkommen. Und mein Chef, der zurzeit das Sagen hat, hat anders als damals der kleine Prinz...

Blick ins Buch

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