1 Das Konstanzer Konzil im Blick: Wahrnehmung und Forschungsergebnisse
Papst und König, Prälaten und Fürsten; feierliche Prozessionen, prachtentfaltende Zurschaustellungen öffentlicher Akte; vor allem aber, und immer wieder, Hus auf dem Scheiterhaufen und dazu jede Menge bunter Wappen – farbenprächtige Bilder prägen in hohem Maß unsere Wahrnehmung des Konstanzer Konzils. Nicht nur die Stadt Konstanz selbst und alle diejenigen, die momentan an die lange zurückliegenden Ereignisse erinnern wollen, wissen diesen Bilderschatz für ihre Zwecke zu nutzen. Denn, wen nicht gerade ein dezidiert theologisches Interesse zur Beschäftigung mit jener längst verflossenen Kirchenversammlung und ihren Beschlüssen veranlasst hat, der dürfte seine erste Begegnung mit dem Konzil in aller Regel den einprägsamen und auf den ersten Blick leicht verständlich erscheinenden Bildern der Richental-Chronik verdanken.1 Die nicht mehr erhaltene »Urfassung« dieser Chronik, geschrieben von dem Konstanzer Bürger Ulrich Richental, entstand nur wenige Jahre nach dem Ende des dargestellten Ereignisses. Das Material hierfür hatte der Verfasser bereits in den Jahren des Konzils gesammelt und bald nach dessen Abschluss zusammengestellt.2 In insgesamt 23 voneinander abweichenden Überlieferungen ist diese Chronik noch heute erhalten; offenbar wurde sie entsprechend den Wünschen und Interessen ihrer Abnehmer angepasst und umgestaltet.3 Nicht viel später als der Text jener »Urfassung« dürften bereits die ersten bildlichen Darstellungen des Konzilsgeschehens entstanden sein; immerhin fünf der überlieferten Handschriftenzeugnisse sind mehr oder weniger stark illustriert.4 Eine zentrale Rolle für die Überlieferung hat insbesondere die heute im Rosgartenmuseum aufbewahrte Konstanzer Handschrift gespielt, verfolgte sie doch ganz offensichtlich die Intention, die offizielle städtische Erinnerung an das Ereignis (von gedachtnusse wegen) zu bewahren.5 Die ältesten farbenprächtigen Druckausgaben der Richental-Chronik reichen – wohl nicht zufällig – bis in das 15. und frühe 16. Jahrhundert zurück.
Diese unsere Vorstellungen vom Constantiense prägenden Darstellungen machen das Konstanzer Geschehen zu einem plastischen, ja geradezu medialen Ereignis.6 Der hohe Wiedererkennungswert dieser Bilder, ihre schiere Allgegenwärtigkeit, besitzt ohne Frage einen stil- und erkenntnisprägenden Charakter für die Wahrnehmung des Ereignisses »Konstanzer Konzil«. Denn die Richental-Chronik ist zweifellos die bekannteste Konzilsquelle, aber nicht unbedingt die zuverlässigste. Sollte man etwa den Versuch wagen, aus diesem Text den genauen Ablauf des Geschehens zu rekonstruieren oder gar die zentralen Aufgaben und Anliegen dieser Kirchenversammlung herausdestillieren zu wollen, lässt die Chronik rasch ihre Grenzen erkennen. Ihr Verfasser, Sohn eines Konstanzer Stadtschreibers, warf quasi von außen – aus der Perspektive eines angesehenen Bürgers der gastgebenden Stadt – einen Blick auf die Ereignisse.7 Was sich im engeren Rahmen der Kirchenversammlung tat, gar hinter den der Öffentlichkeit verborgenen Kulissen abspielte, das ist dem städtischen Bürger Richental möglicherweise entgangen, vielleicht wollte er auch gar nicht darüber berichten. Dagegen informiert er uns ausführlich über das Leben und den Alltag in der Stadt – Nachrichten, die sonst nirgends in den Quellen überliefert worden sind.
Das führt zu der Frage: Was weiß der Konzilshistoriker heute eigentlich über das Constantiense und woher bezieht er sein Wissen über die damaligen Geschehnisse?
Eine erste Rezeption des Konstanzer Konzils und damit der Anfang aller intensiveren Beschäftigung mit dieser Kirchenversammlung und ihren Entscheidungen setzte längst vor Richental ein, genau genommen sogar schon bevor Martin V. am 15. Mai 1418 den Schlusssegen erteilte und tags darauf den Konzilsort in Richtung Italien verließ. Spätestens mit dem Abschluss der Synode brach eine lebhafte und mitunter kontroverse Diskussion darüber aus, wie die zuvor gefassten Beschlüsse und Entscheidungen eigentlich auszulegen und umzusetzen seien, was wiederum der Überlieferung des Konzils und seiner Beschlüsse Vorschub leistete. Vergleichsweise einfach lagen die Dinge beim Dekret Frequens,8 durch welches die Einberufung weiterer Versammlungen programmiert worden war: Festgeschrieben war darin eine periodische Abhaltung von Konzilien mit genauen Zeitvorgaben, wann diese stattzufinden hatten. Komplizierter war die Sachlage schon bei dem zweifellos wirkungsmächtigsten Dekret des Constantiense, bei Haec Sancta,9 in dem das Konzil sein eigenes Selbstverständnis definierte, insbesondere jedoch auch seine Stellung gegenüber dem Papst bestimmt und festgehalten hatte. Die Interpretation dieses umstrittenen Dekrets führte alsbald zu einer massiven Auseinandersetzung, da der dogmatische und kirchenrechtliche Charakter sowie die Reichweite des Dekrets völlig unterschiedlich, ja geradezu gegensätzlich beurteilt wurden. Wenn das Konzil in Basel (1433–1437/49) gerade dieses Dekret rezipierte und es für nötig erachtete, es ein weiteres Mal zu dekretieren, zeigt dies eine Gegenwärtigkeit des Konstanzer Konzils, die weit über das Ende dieser Kirchenversammlung hinausreichte. Mit dem Abschluss des Constantiense stand darüber hinaus die Frage der kirchlichen Reform, die in Konstanz nur in ersten Ansätzen behandelt worden war und auf ihre konkrete Umsetzung noch wartete, auf der Tagesordnung. Das Constantiense hatte erst einen vorsichtigen Schritt, einen zögerlichen Anfang auf diesem schwierigen Weg gemacht; die angekündigte Synode in Pavia (1423) sollte diese Arbeit fortsetzen. Entsprechend wurde um die konkrete Umsetzung des Reformanliegens heftig gerungen. Zuvor hatte bereits eine vor allem in Böhmen geführte, äußerst kontroverse Diskussion um Jan Hus und den Umgang der Konzilsväter mit ihm eingesetzt. Mit allen Mitteln der Information und Desinformation suchten Hus-Anhänger10 wie seine Gegner, nicht zuletzt die Konzilsväter selbst, ihr Verhalten zu legitimieren und für ihre Position zu werben.
Wie man an der mit wenigen Strichen gezeichneten Frührezeption unschwer erkennen kann, waren die drei Causae des Konzils mit dem Ende dieser ersten allgemeinen Kirchenversammlung auf Reichsboden am 15. Mai 1418 keineswegs erledigt. Ihre Rezeption in der unmittelbaren nachkonziliaren Phase blieb aber größtenteils noch auf die damals aktuellen Auseinandersetzungen beschränkt und war dementsprechend gekennzeichnet von Parteilichkeit und Polemik. Es ist indes kein Zufall, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Konzilsbefürwortern und den Anhängern des dem Konzil äußerst reserviert gegenüberstehenden Papstes Eugen IV. auf dem in Konstanz bereits festgesetzten, übernächsten Folgekonzil in Basel das Bedürfnis weckten, die Texte mit den Dekreten des Constantiense zur Hand zu haben. Viele Teilnehmer der zurückliegenden Synode waren inzwischen gestorben, die Zahl der direkten Zeitzeugen wurde immer kleiner. Fragestellungen, die bereits in Konstanz eine wichtige Rolle gespielt haben, wie etwa das Verhältnis zwischen Papst und Konzil, wurden jetzt, im Kontext des Basiliense, erneut gestellt. In das zeitliche Umfeld dieser Folgesynode gehört daher auch die Entstehung der ältesten Zusammenstellung der Konstanzer Dekrete, die später Eingang in die einschlägigen Konziliensammlungen finden sollte. Das Scheitern des Basiliense und der Sieg des Papsttums über die Konzilsidee ließen dann aber das Interesse am Konstanzer Konzil in den nachfolgenden Jahrzehnten erst einmal deutlich zurückgehen – und mit ihr die Produktion von Constantiensia, von Quellen des Konstanzer Konzils.
Erst mit Erfindung des Buchdrucks machte die Konstanz-Forschung einen entscheidenden Schritt vorwärts. 1483 besorgte der Augsburger Verleger Anton Sorg die früheste gedruckte Ausgabe der Konzilschronik des Ulrich Richental. Nur wenig später erschienen weitere Texte, die in einem direkten, unmittelbaren Zusammenhang zum Konzil standen: Reden, Predigten und Traktate, so 1483 eine erste Teilausgabe der Werke des Theologen Jean Gersons. Konzilsakten im eigentlichen Sinne wurden allerdings erstmals im Jahre 1500 von Heinrich Gran im elsässischen Hagenau verlegt, weitere Druckausgaben dieser Akten lassen sich in rascher Folge an unterschiedlichen Orten 1506, 1510, 1511 und 1514 nachweisen, was auf ein wiederauflebendes Interesse am Constantiense im Kontext der beiden konkurrierenden Konzilien von Pisa II (1511/12) und Lateran V (1512–1517) hinweist.11...