Zur Einführung
„Die Bewegungen der Kranken hatten zugenommen. Eine schreckliche Unruhe, eine unsägliche Angst und Not, ein unentrinnbares Verlassenheits- und Hülflosigkeitsgefühl ohne Grenzen mußte diesen, dem Tode ausgelieferten Körper vom Scheitel bis zur Sohle erfüllen. Ihre Augen, diese armen, flehenden, wehklagenden und suchenden Augen schlossen sich bei den röchelnden Drehungen des Kopfes manchmal mit brechendem Ausdruck oder erweiterten sich so sehr, daß die kleinen Adern des Augapfels blutrot hervortraten.“1
Verlassen wir die um das Bett der Konsulin versammelte Familie für den Moment, nicht ohne das Versprechen, später wieder zurückzukehren. Es ist ein ungutes Gefühl, das uns auf dem Weg über die herrschaftlichen Treppen hinunter auf die Mengstraße befällt. In das Mitleid mischt sich wohl auch die bange Frage, ob einem selbst das Schicksal, die Vorsehung oder der Plan Gottes ein solches Ende bereithalten mögen.
„Komm süßer Tod“, mit dieser Bitte beginnt hier ein Rundgang durch die bundesdeutsche Sterbehilfe-Debatte, immer mit Seitenblicken auf Situationen und Diskurse in unseren Nachbarländern. Den Ausgangspunkt bildet dabei eben dieses ungute Gefühl, dem zwei Grundängste zugeordnet werden können.
Zwar kennt wohl jeder die Hoffnung auf einen „guten Tod“2, oder, wie es Johann Sebastian Bach singen lässt, auf einen „süßen Tod“3: die Hoffnung, am Ende des Lebens einem schmerzvollen Leiden entgehen zu können und nicht bis zuletzt im Räderwerk einer als fremdbestimmend empfundenen Geräte- und Arzneimittelmedizin gefangen zu bleiben, die nicht nur das Leben, sondern auch das Leiden verlängern kann. Doch immer wieder setzt sich das Unbehagen der Verunsicherung durch, die Angst vor Hilflosigkeit, Entmündigung, Autonomieverlust.
Auch die zweite Grundangst speist sich aus der Befürchtung, den eigenen Willen und die eigenen Wünsche nicht durchsetzen zu können. Doch nicht das potenzielle Grauen medizinischer Überversorgung, sondern die Schrecken einer Unterversorgung beherrschen hier die Fantasie. Es ist die Angst, dass nicht mehr alles für eine mögliche Heilung und eine würdevolle Pflege unternommen werden könnte, weil die Gesellschaft dem Einzelnen nur eine begrenzte Einladung zum Leben ausspricht. Alte oder behinderte Menschen, so die bange Vermutung, könnten des Ressourcenmangels wegen nicht mehr adäquat medizinisch versorgt werden. „Europa auf dem Weg zur Euthanasie?“ öffnet in Frageform die dunkelsten Assoziationsräume deutscher Geschichte und verbalisiert diese zweite Befindlichkeit.
Vor dem Hintergrund dieser doppelgesichtigen Angst, am Ende sinnlos leben zu müssen oder nicht mehr leben zu dürfen, soll der Versuch unternommen werden, sachlich und reflektiert das weite Feld der Sterbehilfe-Debatte zu durchschreiten, ein Feld, das Risiken birgt und zumal in der bundesdeutschen Diskurslandschaft mit allerlei Minen bestückt ist. Doch gerade die Unübersichtlichkeit des Geländes fordert zu neuer Orientierung heraus, und Wegweiser sind gefragter denn je. Anders gesagt: Die Argumente im Streit um die Sterbehilfe verdienen sorgfältigste Prüfung, weil sie längst nicht mehr nur Spezialistenzirkel beschäftigen, sondern mitten hinein in die Alltagswelt jedes Einzelnen zielen. Die Menschen in Europa leben inzwischen nicht nur länger als früher, sondern sie sterben auch länger. Die Spanne zwischen Erstdiagnose, Therapie und Tod hat sich erweitert, und so müssen viele Patienten und deren Angehörige lernen, einen neuen Abschnitt ihrer Biografie – Leben mit tödlicher Diagnose – zu bewältigen.4 Dies schafft unweigerlich den Raum, darüber nachzudenken, wie diese Phase autonom mitgestaltet werden muss oder kann.
In zwei Nachbarländern Deutschlands wurde 2002 die ärztliche aktive Sterbehilfe legalisiert, in ein drittes, die Schweiz, reisen jedes Jahr fast 50 Bundesbürger, um dort, begleitet von einer Sterbehilfeorganisation, assistierten Suizid zu begehen. Einem zunehmenden Sterbehilfe-Tourismus steht bislang noch keine einheitliche europäische Regelung gegenüber. Das zusammenwachsende Europa verstärkt somit die Notwendigkeit für die Gesellschaft, für verschiedenste Institutionen und Verbände, letztlich für die bundesdeutsche Politik, sich intensiver mit einer Neuregelung der Sterbehilfe-Formen befassen zu müssen. In die nationalen Debatten schalteten und schalten sich, mit ganz unterschiedlichen Positionen, auch die christlichen Kirchen immer wieder ein. Für den Diskurs in Deutschland wurden kirchliche Äußerungen aus der Schweiz, den Niederlanden oder England bis jetzt noch nicht fruchtbar gemacht – ein Defizit, das in dieser Arbeit besonders deshalb behoben werden soll, weil durch die liberale Sterbehilfe-Position etwa der Nederlandse Hervormde Kerk, die der ablehnenden Haltung der katholischen Kirche oder der Evangelischen Kirche in Deutschland diametral gegenübersteht, die Debatte aufgebrochen und um neue Facetten bereichert wird. Die divergierenden kirchlichen Stellungnahmen wurden bis jetzt weder zueinander in Beziehung gesetzt noch auf ihre theologischen Grundannahmen und Konsequenzen hin untersucht.
Der katholische Theologe Hans Küng forderte bereits Mitte der 80er-Jahre zu einem innertheologischen Umdenken auf und sprach sich für die Legalisierung von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe aus.5 Aus der amerikanischen Philosophie kamen zur selben Zeit durch Peter Singer und Helga Kuhse weitere Impulse, die das christliche „Prinzip der Heiligkeit des Lebens“ – gedacht als Argument für einen uneingeschränkten Schutz jedes menschlichen Lebens – heftig kritisierten.6 Diese Arbeit will die Denkanstöße Küngs und die Kritik Kuhses aufnehmen, erstmalig zu den verschiedenen europäischen kirchlichen Stellungnahmen in Bezug setzen, material-theologisch weiterdenken und die Frage beantworten, welche Konsequenz die Forderung, der Mensch dürfe selbst über sein Lebensende bestimmen, für die theologische Anthropologie und die Vorstellung vom Wirken Gottes in der Welt hat. Die Arbeit stellt Ergebnisse aus den bestehenden geschichtswissenschaftlichen, juristischen und exegetischen, besonders aber den fundamental-theologischen Diskursen vor und bringt diese in die Sterbehilfe-Debatte ein.
Sich stetig erweiternde medizinische Möglichkeiten machen eine Novellierung der gesetzlichen Regelungen notwendig. Dem muss immer ein breiter gesellschaftlicher Diskurs vorweg gehen, in dem tiefgehende ethische und theologische Reflexion erkennbar wird. Dies ruft die Ethiker auf den Plan, die im vorliegenden thematischen Kontext wohl weniger als Grenzwächter des vermeintlich Bekannten denn als Kundschafter fungieren sollten, die neues Terrain denkend erforschen und so neue Lösungsvorschläge suchen. Dabei müssen sie bisher gültige und verlässliche Wertungssysteme in Frage stellen, was zu Verunsicherung, Stress und Nervosität, nicht zuletzt auch in Fachdebatten und öffentlich ausgetragenen Diskussionen, führt. Die medizinethische Aufarbeitung wird so zu einer „akademisch kanalisierten Stressreaktion“7 auf die veränderten Deutungen und Gestaltungsmöglichkeiten von Lebensende und Lebensanfang.
Am Ende des jetzt beginnenden Weges wird es keine argumentativ entwickelte und für alle nachvollziehbare „Lösung“ geben. Es spricht alles dafür, dass Gesellschaft und Kirchen mit einem Dissens leben müssen.8 Die Hoffnung, durch das Hinterfragen der Argumente auf deren material-theologische Voraussetzungen und Konsequenzen hin und durch die Einbringung von Elementen außerdeutscher Diskurse die Debatte öffnen, transparenter und ein wenig problemsensibler gestalten zu können, ist Ansporn genug.
Eine juristische, ethische oder theologische Bewertung der Sterbehilfe-Thematik kann nur gelingen, wenn sie sich einer weitreichenden Differenzierung bedient. Drei bewusst unspezifisch gewählte Leitbegriffe helfen bei der Erschließung der komplexen Problematik: Situation, Art und Form. Zu unterscheiden sind etwa Situationen der Sterbehilfe, in denen der Tod unmittelbar bevorsteht, von solchen, in denen sich der Patient noch nicht in der Sterbephase befindet; Arten der Sterbehilfe, in denen Menschen bei klarem Verstand zu Entscheidungen kommen, von Arten, bei denen der mutmaßliche Wille eines Bewusstlosen eruiert werden soll; Formen der Sterbehilfe, bei denen eine Behandlung abgebrochen werden soll, von Formen, bei denen ein Mensch sich selbst töten will. Das zweite Kapitel wird versuchen, eine Matrix aus zwei Situationen, drei Arten und fünf Formen zu skizzieren, um so alle 30 Fälle der Sterbehilfe darstellen und einordnen zu können. Die Unterscheidungen werden durch Patientengeschichten veranschaulicht, um definitorische Grauzonen aufzuzeigen und Einblick in die medizinische Praxis zu geben.
Das dritte Kapitel bietet als Vorbereitung für die Darstellung der kirchlichen Stellungnahmen eine Übersicht über die gegenwärtige Rechtsdiskussion, Rechtsprechung und Rechtslage in der Bundesrepublik, ergänzt durch eine Einführung in die Praxis und rechtliche Regelung der Sterbehilfe in der Schweiz, den Niederlanden und Belgien. Erst wenn man die Rechtslage, die gesellschaftliche Stimmung und die Sterbehilfepraxis etwa in der Schweiz kennt, kann man die Stellungnahme einer reformierten Kirche einordnen und verstehen, in der sie sich dafür ausspricht, auch in kirchlichen Pflegeheimen ärztlich assistieren Suizid zu ermöglichen.
Das vierte Kapitel wird verschiedene kirchliche Äußerungen in der Sterbehilfe-Debatte vorstellen und bietet vor dem geschichtlichen Hintergrund, gestützt auf die fallanalytische Differenzierung und im Wissen um die juristische Ausgangslage,...