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Tagebuch eines Philosophen

AutorAlexandre Kojève
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783957571151
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Er nannte sich selbst 'Sonntagsphilosoph', schuf eine epochale Hegel-Interpretation, die auf das Werk von Bataille, Breton, Lacan und Derrida ausstrahlte, spionierte wahrscheinlich für den KGB und war Co-Architekt des europäischen Wirtschaftsraums: Kaum ein Denker des 20. Jahrhunderts griff so lustvoll und verschiedentlich in die Geschichte ein wie Alexandre Kojève. Dass schon dem achtzehnjährigen Kojève ein anderes Leben als pure Zumutung erschienen wäre, zeigt sein 'Tagebuch eines Philosophen', das Erinnerungen, Reflexionen und Gedichte des gerade nach Westeuropa aufgebrochenen Studenten versammelt.

Alexandre Kojève geb. 1902 in Moskau, gilt bis heute als einer der wichtigsten, aber auch mysteriösesten französischen Denker des 20. Jahrhunderts. Er starb 1968 in Brüssel.

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Leseprobe

Moskau, 8. Januar 1917

Gedanken zur Schlacht bei den Arginusen


Gerade habe ich Wägners Beschreibung der Schlacht bei den Arginusen in seiner Geschichte Hellas1 gelesen. Prinzipielle Fragen, die durch einige Ereignisse dieser Schlacht aufgeworfen werden, haben mich zu einer Reihe von Überlegungen geführt. In dieser Schlacht errang die athenische Flotte dank der außergewöhnlichen strategischen Fähigkeiten ihrer Feldherren einen glänzenden Sieg über die spartanische. Unmittelbar nach dem Ende der Schlacht kam ein schrecklicher Sturm auf und die athenische Flotte, während der Gefechte stark beschädigt, wäre zu einem unvermeidlichen Niedergang verdammt, wenn die Feldherren mit dem Befehl, alles Mögliche über Bord zu werfen, die Lage nicht gerettet hätten. Unter anderem warfen sie auch die Leichen ihrer gefallenen Soldaten über Bord, was im alten Griechenland als eines der größten Verbrechen galt und nach damaligen Gesetzen mit dem Tod bestraft wurde. Sogleich nach ihrer Rückkehr nach Athen wurden die Feldherren deshalb dem Gericht übergeben und wegen des Sakrilegs zum Tode verurteilt. Auf diese Weise ihrer besten Feldherren beraubt, erlitten die Athener eine Niederlage nach der anderen und verloren letztlich den gesamten Krieg. Der Einzige, der dem Urteil widersprach, war Sokrates. Er schlug vor, die Feldherren freizusprechen und führte dafür zwei Argumente an: Erstens, sahen die Feldherren in dieser Tat das einzige Mittel, die Flotte zu retten und im gegebenen Fall konnte der Zweck das Mittel rechtfertigen; zweitens, – hätten die Feldherren es nicht getan, wäre die Flotte unvermeidlich untergegangen und die Körper der Getöteten hätten ohnehin nicht begraben werden können. Im gegebenen Fall war das Verbrechen unvermeidlich und niemand kann dafür unter Anklage gestellt werden. Doch hatte Sokrates in seinen Überlegungen überhaupt Recht? Wenn man schon über die Möglichkeit der Rechtfertigung des Mittels spricht und den Weg der relativistischen Moral einschlägt, ist es schwierig, über irgendeine Ethik zu sprechen. Welches Kriterium können wir bei der Lösung der Frage aufstellen, ob man dieses oder jenes Mittel, ob dieser oder jener Zweck das Mittel rechtfertigen kann und welches Verhältnis zwischen dem Zweck und dem Mittel im gegebenen Fall besteht? Es ist unmöglich und deshalb kann der Zweck ein Mittel, das als solches unzulässig ist, nicht rechtfertigen. Ebenso schwierig ist es, dem zweiten Argument zuzustimmen. Das Begräbnis der Toten war zwar nicht möglich, aber rechtfertigt das die Feldherren? Diese Aussage steht jenseits von Gut und Böse. Sie entspricht den Grundsätzen Nietzsches: Stoße den Fallenden, heile nicht den hoffnungslos Kranken. Dies kann als Rechtfertigung der Feldherren nicht gelten, aber auf der anderen Seite können wir dem Urteil ebenso wenig beipflichten. Mit ihrer Tat waren die Feldherren nicht auf persönliche Vorteile aus, denn ihr Leben konnten sie ohnehin retten. Hier konnte es entweder nur um ein Verbrechen um des Verbrechens willen oder um ein Verbrechen für das Gesamtwohl gehen. Sowohl im einen als auch im anderen Fall sind sie vor sich selbst nicht schuldig.

Hier stehen wir wieder einmal vor dem Konflikt der individuellen und der sozialen Moral. Der vor sich selbst unschuldige Mensch ist vor der Gesellschaft verbrecherisch; unschuldig vor der Gesellschaft, aber verbrecherisch vor sich selbst. Anders gesagt, der ideell Unschuldige ist faktisch verbrecherisch. Dies beweist noch einmal das Vorhandensein des metaphysischen Parallelismus im Universum. Die Idee und die Realität verlaufen parallel, ohne auf einander einzuwirken.

Moskau, 8. Januar 1918

»Schön sind nur die letzten Begegnungen …«


Heute hat jemand wieder dieses Gedicht erwähnt: »Schön sind nur die ersten Begegnungen, nur der Morgen der Liebe ist schön …«2 Wie oft spricht man das aus und wie oft stimmt man dem zu. Ich verstehe es nicht. Meiner Meinung nach sind nur die letzten Begegnungen schön und nur der Herbst der Liebe ist schön. Die Begegnungen ohne Leidenschaft, ruhiges Reden; im Erinnern ans Vergangene sind sie lebendig. Ja, wie schön sind jene letzten Begegnungen. Ich weiß wirklich nicht, woher es kommt. Womöglich ist die Frische des ersten Gefühls, welches die Vernunft zum Schweigen bringt, meiner Natur nicht eigen? Oder es missfällt mir durch seine Einfachheit, Kunstlosigkeit. Ich weiß es nicht, aber das erste Gefühl der beginnenden Liebe hinterlässt in mir immer eine unangenehme Erinnerung.

Moskau, 5. Mai 1918

Die Psychologie des Mannes und der Frau


Zwischen der Psychologie des Mannes und der Frau liegt eine tiefe, grundsätzliche Kluft. Sie verläuft nicht immer parallel zur geschlechtlichen Differenz und der psychologische Hermaphrodismus ist viel häufiger anzutreffen als der geschlechtliche. Nichtsdestoweniger ist die Differenz zwischen den männlichen und weiblichen Prinzipien als solchen gewaltig. Und ich möchte nun versuchen, das Wesentliche und das Verhältnis dieser Prinzipien zueinander zu bestimmen.

Das männliche Element wird für gewöhnlich als das aktive Element definiert, das weibliche als das passive. Aber diese Definition ist nur zum Teil wahr. Anders kann man diese zwei Elemente als das schöpferische männliche und das wahrnehmende weibliche definieren, aber auch nur mit gewissen Einschränkungen. Das Wesentliche der Differenz zwischen Mann und Frau besteht aber darin, dass der Mann die Idee, das Sein, die Welt und sich selbst als etwas Übergeordnetes, nicht im Verhältnis zu ihm, als Wahrnehmenden, Stehendes wahrnimmt (begreift). Die Frau nimmt aber ihre gesamte Umgebung, sich selbst als Objekt der Wahrnehmung nur insofern wahr, als es eine tonale Färbung der Lust oder des Leidens erhält. Der Mann begreift die Idee als solche, oder ihre konkrete Realisierung als Ding an sich, die Frau jedoch nimmt die Idee und ihre Realisierung nur als Anlass oder Ursache wahr, die in ihr die eine oder andere Gefühlsregung hervorruft. Der Mann begreift das außerhalb seines Ich Liegende und versucht immer, die Produkte seiner Tätigkeit über seine Grenzen hinauszutragen. Die Frau assimiliert ihr Ich an ihre Umgebung und ist danach bestrebt, mit Hilfe von äußeren Eindrücken, diese in sich einschließend, ein Empfinden der Lust in sich hervorzurufen. Zwar folgt der Mann in seinen Handlungen ebenfalls der Lust und dem Leiden, aber er findet das erste in der Aussonderung, das zweite nur in der Wahrnehmung. Die Frau hingegen ist nur zum Wahrnehmen fähig, worin sich ihr Leben auch erschöpft. In diesem Sinne kann man das männliche Element als das schöpferische definieren, das weibliche – als das wahrnehmende. Die Definition der Geschlechter als Aktivität und Passivität ist nicht ganz richtig, denn auf dem Gebiet der inneren Arbeit weist die Frau nicht weniger Aktivität als der Mann auf. Allgemein kann man ohne jeden Zweifel sagen, dass, wenn einzig die Männer schöpferisch tätig sind, dann sind sie nur für die Frauen schöpferisch tätig, denn nur die Frauen sind zum Wahrnehmen um des Wahrnehmens willen fähig. Das Wahrnehmen des Mannes ist das Wahrnehmen des Materials für seine innere Verarbeitung und weitere Aussonderung von Resultaten des Empfindens.

Moskau, 6. Oktober 1918

Der Aphorismus von Oscar Wilde


In der Paradoxen- und Aphorismensammlung von Oscar Wilde kann man Folgendes nachlesen: »Die erste Pflicht im Leben besteht darin, so künstlich zu sein wie möglich. Was die zweite Pflicht ist, hat bis jetzt noch niemand herausgefunden.«3 Meiner Meinung nach aber ist die einzige Pflicht im Leben, stets danach zu streben, derjenige zu sein, der du niemals sein können wirst.

Moskau, 28. Februar 1919

Der Antisemitismus als Folge des Rassenantagonismus


Gestern hatten wir Besuch und den ganzen Abend hat man über den Antisemitismus gesprochen. Darüber, welche Ausmaße der Hass gegen die Juden nach der Revolution angenommen hat. Es gibt einfach keinen Menschen mehr, der sie nicht anschwärzen würde, den Grund allen Übels in Russland nicht in ihrer Existenz sehen würde. Viele erklären diesen Hass mit dem Charakter des jüdischen Volkes, eines amoralischen und unsympathischen als solchen. Ich sehe im Antisemitismus aber nichts anderes als den Rassenantagonismus zwischen den Ariern und den Semiten. Die Begriffe der Moral und Sympathie sind relative Begriffe und es ist schwer zu sagen, wer die Wahrheit auf seiner Seite hat. Für die Semiten sind die Arier ebenso unannehmbar wie für uns die Semiten. Zu sagen, welche Rasse von beiden besser oder schlechter ist, ist unmöglich. Es ist allerdings klar, dass die Kluft zweier unterschiedlicher Rassen die Arier von den Semiten trennt. Man widersprach mir mit dem Einwand, wir würden andere Rassen nicht als antagonistisch ansehen. Solange wir mit Afrikanern und Chinesen nicht konfrontiert werden, verhalten wir uns ihnen gegenüber sicherlich gleichgültig. An dieser Stelle aber ein Blick auf die Geschichte: War...

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