Einleitung
Kinder sind eigensinnig, können mit ihrem Frohsinn anstecken und manchmal auch leichtsinnig sein, erkennen scharfsinnig, lieben den Blödsinn und sind für jeden Unsinn zu haben. Wo Kinder sind, da sind auch die Sinne im Spiel!
Kinder sind sinnenreiche Wesen. Sie haben Spaß am Einsatz all ihrer Sinne, und noch haben sie eine Antenne für alles, was ihre elementaren Sinneswahrnehmungen betrifft. Auf den ersten Blick scheinbar sinnloses Tun kann zugleich sehr sinnvoll sein, wenn man sich als Erwachsener auf die Erlebnisebene der Kinder einlässt.
Aber – Kinder wachsen in einer sinnesfeindlichen Umwelt auf. In unserer »verkopften« Gesellschaft verschwindet das körperlich-sinnliche Erleben immer mehr, und so besteht schon bei Kindern die Gefahr, dass ihre sinnliche Wahrnehmung sich vorwiegend auf das Sehen und Hören reduziert. Körpernahe Wahrnehmungen geraten dagegen immer mehr in den Hintergrund. Alle Sinnesorgane brauchen jedoch Anregung, um zu funktionieren. Sie brauchen Training, um sich weiterentwickeln zu können. Sie müssen benutzt werden, um nicht zu verkümmern. Selbst das Sehen und Hören bleibt diffus, wenn nicht auch andere – körpernähere – Systeme an der Informationsgewinnung beteiligt sind. Die Sinne sind in Gefahr, aus der Übung zu kommen, und je weniger sie im Alltag gebraucht werden, umso mehr Aufmerksamkeit müssen ihnen die Einrichtungen widmen, die sich für die Erziehung von Kindern verantwortlich fühlen.
Diesem Anliegen widmet sich das vorliegende Buch. Es will auf die Missachtung der Sinnlichkeit und der körperlichen Betätigungsbedürfnisse von Kindern in unserer – von den Erwachsenen bestimmten – Welt aufmerksam machen. Es will Wege aufzeigen, wie der Kindergarten und auch die Grundschule zu Stätten sinnlicher Wahrnehmung, lust- und sinnvollen Spielens und Lernens werden können.
Widersprüche
Es ist ein Widerspruch an sich, ein Buch über die Vielfalt sinnlicher Wahrnehmung zu schreiben. Ein Buch, das man nur über die Augen aufnehmen, im Kopf verarbeiten und eben nicht mit allen Sinnen erfassen kann. Bereits das Schreiben des Buches ist ein einseitiger Akt.
Mit allen Sinnen die Welt begreifen
© Renate Zimmer
Wie viel geht an Sinnlichkeit verloren, wenn sinnliche Erfahrungen beschrieben, analysiert, systematisiert, korrigiert, gesetzt, gedruckt und gebunden worden sind? Wenn in die Welt der Worte gedrängt ist, was doch aus der Welt des Erlebens, Fühlens, Spürens kommt? Wenn die Sinne erst verwissenschaftlicht, kategorisiert, auf ihre Funktion hin analysiert worden sind? Sie werden zu einer Sache, zu einem Organ, zu Rezeptoren und Sensoren, verloren geht der Sinn.
Diesen Widerspruch aufzulösen gelingt nur, wenn das hier Geschriebene als Hilfe für das Verstehen von Zusammenhängen, vor allem aber als Impuls für das Selbertun verstanden wird. Es soll Ein-sichten ermöglichen, An-stöße geben, damit Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer- und Lehrerinnen und auch Eltern die Lebenswelt ihrer Kinder in neuen Zusammenhängen wahrnehmen (vgl. Zimmer 2008b).
Ein weiterer Widerspruch liegt in der Aufspaltung einzelner Sinnesbereiche. Wahrnehmung ist ein ganzheitlicher Prozess – schließt dies nicht von vornherein aus, die Vorgänge des Sehens, Hörens, Tastens oder Sichbewegens getrennt zu beschreiben, ihre Funktionsfähigkeit einzeln zu erläutern?
Für das Verständnis der Sinnessysteme ist es notwendig, die Besonderheiten der jeweiligen Wahrnehmungsvorgänge zu betrachten, um dann auch ihr Zusammenwirken besser nachvollziehen zu können. Die Entwicklung der kindlichen Wahrnehmung kann als Prozess zunehmender Differenzierung der Sinnesleistungen beschrieben werden, der einhergeht mit ihrer gleichzeitigen Integration. Der gleiche Weg soll auch in diesem Buch gegangen werden, indem neben der Darstellung der jeweiligen Sinnessysteme immer auch auf ihr Zusammenspiel hingewiesen wird.
Vom wilden Spaß, die Sinne zu verschaukeln
© Lisa Volkamer
Schließlich kann auch die Frage gestellt werden, ob Kinder überhaupt eine »Schulung« der Sinne brauchen.
Sind angeleitete Spiele, vorbereitete Spielsituationen, Tastpfade und Riechsäckchen notwendig, um Kindern sinnliche Erfahrungen zu vermitteln?
Hierzu gilt ganz allgemein: Je mehr Entdeckungsräume den Kindern im Alltagsleben zur Verfügung stehen, umso weniger bedarf es der angeleiteten Beschäftigung. Gehen die Anregungen für vielseitige Sinneserfahrungen bereits von der räumlichen Gestaltung der Umwelt, von den »Dingen« selber aus, sind weniger Impulse durch die Erwachsenen notwendig, um Kindern ein Erproben ihrer Sinnestätigkeiten zu ermöglichen. Da in der heutigen Lebenswelt diese Voraussetzungen jedoch meist nicht mehr vorhanden sind, ist es wichtig, das »Training« der Sinne anzuregen und damit die Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder und der Erwachsenen zu erweitern.
Bei alledem ist es jedoch auch wichtig, den Kindern Freiraum für eigene Entdeckungen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, eigene Erfahrungen zu sammeln. So können Erwachsene am ehesten den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden, ihre Umgebung mit allen Sinnen in sich aufzunehmen, sie zu erfassen und zu begreifen.
Anliegen
Scheinbare Widersprüche aufzulösen, Gegensätze zu vereinen, gehört zu den Anliegen dieses Buches. Es verfolgt das Ziel:
die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für die kindliche Entwicklung darzustellen und die Leistungen der Sinne für die Erfahrung der Welt und der Wirklichkeit zu verdeutlichen;
die Grundlagen der Verarbeitung von Erfahrungen zu erläutern und damit Einsicht in die Bedeutung der in der frühen Kindheit erworbenen sensorischen Erfahrungen für das Lernen zu geben;
in verständlicher Form in die Funktionsweise der Sinnesorgane, die Entwicklung der Wahrnehmung und des Zusammenspiels der Sinne einzuführen;
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