Reisevorbereitungen
Die Warnungen lassen sich ignorieren, Zeitreisen sind nicht gefährlicher als gewöhnliche Reisebeschreibungen, selbst wenn man fürs travelling den armchair verlässt wie die sanfte Ottilie in Goethes Wahlverwandtschaften: »Sie sprang in den Kahn und ruderte sich bis mitten in den See: dann zog sie eine Reisebeschreibung hervor, ließ sich von den bewegten Wellen schaukeln, las, träumte sich in die Fremde.« Ihr stößt bei dieser Lektüre nichts zu – wohl aber dem Säugling, der ihr anvertraut ist. Er fällt aus dem Kahn, und sie kann ihn nicht retten, weil sie wegen des aufgeschlagenen Buchs die Hand nicht gleich frei hat. Wenn Lesen gefährlich ist, wie harmlose Leute meinen, liegt das nicht am Gelesenen.
Man stelle sich vor, das Tor zur Vergangenheit wäre eine Art Sicherheitsportal ähnlich dem an unseren Flughäfen. Es würde anfangen zu piepen, wenn etwas nicht in die bereiste Epoche passt. Man käme erst durch die historische Schleuse, nachdem man alles Zeitfremde abgelegt hätte. Nichts, aber auch gar nichts dürfte man mitnehmen, völlig entblößt stünde man da. Weniger wegen der Mode als wegen des Materials, aus dem sie gemacht ist, ganz abgesehen von all unseren elektronischen Bild-, Text- und Sprechmaschinen. Vieles, was wir im Kopf haben, passt recht gut in die Goethezeit, aber alles, was wir am Körper tragen, müssen wir zurücklassen.
Dann stehen wir am 7. November 1775 morgens um fünf splitterfasernackt, aber wenigstens unsichtbar in Weimar vor dem Haus eines Kammergerichtspräsidenten namens von Kalb und sehen zu, wie Goethes Kutsche über das Pflaster rollt. Bei anderer Gelegenheit sitzen wir zwischen dem Berliner Aufklärer Anton Büsching und seiner Frau in der Kutsche. Das ist immerhin besser, als 1773 während eines Achttageritts von Berlin nach Danzig hinter dem Kupferstecher Daniel Chodowiecki auf dem Pferd zu hocken. Mit Büschings reisen wir für fünf Tage ins märkische Reckahn, um die philanthropische Reformschule des Landjunkers Eberhard von Rochow kennenzulernen. Ohne Rücksicht auf unsere von aller Gegenwart entkleideten Verfassung werden wir unter die Bauernkinder in die Bänke gesteckt. Ein Versuch, unsere Namen ins Holz zu ritzen, wäre vergeblich, nachträgliches Einschreiben in die Vergangenheit kann die Geschichte nicht dulden. Dafür könnten wir ohne Weiteres den Sprung von der Landschule an die Universität machen, in die Vorlesungen berühmter Philosophen: vor 1800 von Professor Kant in Königsberg, um 1800 von Professor Fichte in Jena und Erlangen, nach 1800 von Professor Hegel in Berlin. Weil wir unsichtbar sind, müssen wir kein Hörgeld bezahlen wie die anderen Studenten (Studentinnen gab es kaum), und falls wir, was sehr wahrscheinlich ist, die Ausführungen der Herren nicht sofort und ganz verstehen, können wir das Gehörte nach der Rückkehr in die Gegenwart in modernen kommentierten Werkausgaben nachlesen.
Etwaige Verständnisschwierigkeiten müssen uns nicht peinlich sein, es ging den Zeitgenossen ebenso, etwa Georg Ludwig Spalding (nicht zu verwechseln mit seinem Vater Johann Joachim). Henriette Herz erzählt in ihren Erinnerungen: »Ich begegnete eines Tages Professor Spalding, dem Philologen. ›Ach‹, rief er mir schon in der Entfernung einiger Schritte entgegen, ›morgen steht mir ein saueres Diner bevor! Im Laufe desselben soll ich ein Werk, das ich nicht ganz verstehe, in eine Sprache übertragen, die mir nicht geläufig ist.‹ Und es ergab sich, dass er zu Frau von Stael eingeladen war, um ihr beim Diner so nebenher ein philosophisches Werk Fichtes in französischer Sprache beizubringen.«
Aber Zeitreisende lernen nicht nur den philosophischen Zeitgeist kennen, sondern erleben auch handfeste Abenteuer, überstehen mit dem jungen Eichendorff einen Schiffsunfall auf der Oder, blicken am Berliner Gendarmenmarkt zu E.T.A. Hoffmanns Eckfenster hinauf, traurig darüber, dass oben der Gespensterschreiber im Sterben liegt, gequält von blutenden Wunden auf dem Rücken. Oder wir sehen zu, wie Georg Lichtenberg in Göttingen seinerseits durchs Fernglas der Beerdigung von Gottfried August Bürger zusieht.
Vielleicht stehlen wir uns auch in den Anatomiesaal von Jena, wo die Selbstmörderinnen obduziert werden, die in Weimar in die Ilm gegangen sind. Auf abgelegenen Rittergütern schauen wir fronenden Dreschern zu und beobachten, wie sie jeden Abend heimlich eine Handvoll Körner in ihren Hosentaschen vom Herrenhof schmuggeln, um sich für die erzwungene Arbeit wenigstens symbolisch zu entschädigen. In heruntergekommenen Dörfern blicken wir durch offen stehende Türen in Stuben, in denen halb verhungerte Familien an Webstühlen, die ihnen nicht gehören, aus Garnen, die ihnen nicht gehören, Stoffe herstellen, die ihnen nicht gehören. In Berlin begegnen wir einer Äpfelfrau auf dem Hackeschen Markt, einem Wacholdersaftverkäufer vor der Oper, einer Brezelverkäuferin vor dem Schloss: »Kauffen sie nicht schöne Spandosche Zimtpretzeln?«
An einem Tag begleiten wir unbemerkt eine Gräfin, die nicht einmal in der Lage ist, sich ohne die Hilfe ihrer Zofe anzuziehen, den nächsten Tag verbringen wir mit dieser Zofe, die nur besitzt, was sie auf dem Leib trägt, und außer sich gerät vor Dankbarkeit, wenn die Herrin ihr ein buntes Band schenkt. In der einen Stunde langweilen wir uns bei einem prunkvollen Souper in einer Residenzstadt, in einer anderen löffeln wir in einer verrußten Bauernkate Hirsebrei aus einer Holzschüssel. Im einem Augenblick sind wir unter den Straßenräubern, die Knüppel schwingend eine Kutsche überfallen, im nächsten unter den Reisenden, die hoffen, dass sie mit dem Leben und ohne Blessur davonkommen – und vielleicht auch, ohne die Goldstücke einzubüßen, die man sich unter die Achsel gesteckt oder, noch sicherer, ins Mieder genäht hat.
Dem Zeitreisenden kann im Unterschied zu den Zeitgenossen nichts passieren, was immer auch – geschehen ist. Zum Glück sind Touristen der Vergangenheit für Zeitgenossen unsichtbar, zum Unglück ist die Geschichte ein Geschehen, in das niemand mehr eingreifen kann. Nichts ist wiedergutzumachen, alles nur besser zu verstehen.
Dennoch schadet es nicht, zur Einstimmung gewisse Vorbereitungen zu treffen. Man könnte sich beispielsweise zum Ersatz für die Zahnbürste, die das historische Sicherheitsportal nicht passieren durfte, ein Läppchen zurechtschneiden und Zahnpulver aus geriebener Kohle oder aus verbranntem und zerbröseltem Brotteig in eine Emailledose füllen, deren Deckel ein Medaillonporträt des Alten Fritz trägt. Es zeigt ihn in der letzten Lebensphase, mit spitzem Zopf, spitzer Nase und eingefallenen Wangen. Er hat alle Zähne verloren und kann die Flöte nicht mehr blasen.
Die Tabatiere könnte aber auch das Merkpulver eines erzgebirgischen Apothekers trocken halten, damit man später alles gut erinnert, was man auf der Zeitreise erlebt: »Dieses wohl appretierte Extra feine Hirn und Fluß Pulver des Tags 2 bis 3 mahl geschnupft ist gut vor den Schwindel und Flüsen, stärket das Gedächtnis.«
Wenn man weder dem erzgebirgischen Pulver noch dem eigenen Gedächtnis traut, sollte man genug Federn bereitlegen, um alles aufzuschreiben, am besten Düsseldorfer Schreibfedern, wie Philipp Andreas Nemnich in seinem Tagebuch einer der Industrie gewidmeten Reise 1809 rät:. »Sie empfehlen sich durch vollkommene Klarheit, Zahnlosigkeit und Härte.« Jedes Bündel dieser Federn enthält 25 Stück. Sie »werden zu je 8 und 8 Bündel, d.i. 200 Stück, in Papier und mit vorgedruckten Nummern als Waare angeboten. Die Nummern zeigen die Qualität.« In der Tabatiere könnte man statt des Merkpulvers Sauerkleesalz aufbewahren, um die ›Dintenflecke‹ aus der Wäsche zu reiben.
Um während der Reise zu wissen, wie spät es ist, käme eine Taschenuhr infrage, vielleicht eine aus der 1765 von Friedrich II. in Berlin gegründeten Königlichen Uhrenmanufaktur. Man sollte nur gut auf sie achtgeben, besonders in den Menschenmengen bei öffentlichen Hinrichtungen. Nirgends wird mehr gestohlen als unter dem Galgen. Eine klappbare Taschensonnenuhr aus Holz wäre sicherer, wenn auch weniger praktisch, weil nur im Freien und am Tage benutzbar. Hilfreicher, aber auch umständlicher wäre eine der »Reise-Pendul-Uhren« des Weimarer Hofmechanikus Jacob Auch: »mit der ganzen Vorrichtung zum Arretiren, Einpacken und Aufstellen; in Mahagony-Gehäuse und Coffer von Eichenholz«.
Für Fußmärsche ist ein versteifter Felltornister empfehlenswert (er muss ja nicht gleich mit einem Dachskopf verziert sein wie der vom Syrakuswanderer Seume), für weite Kutschfahrten mit großem Gepäck eine eisenbeschlagene Holzkiste, für Herren erweitert durch einen Deckelaufsatz aus Blech, der aussieht wie ein Ofenrohr, aber für den (noch nicht klappbaren) Zylinder bestimmt ist, für Damen ergänzt durch (mindestens) eine Hutschachtel, deren Umfang nur wenig geringer ist als der Radumfang der Kutsche, mit der sie transportiert wird.
Zur Orientierung hilfreich wäre in Weimar Karl Gräbners Handbuch für Einheimische und Fremde: Die Großherzogliche Haupt= und Residenz=Stadt Weimar, nach ihrer Geschichte und ihren gegenwärtigen gesammten Verhältnissen dargestellt; zur Orientierung in Deutschland Vollrath Hoffmanns Handbuch der Vaterlandskunde für alle Stände. Zur Orientierung in der Welt kann man sich an ein Kompendium von Theophil Ehrmann halten, mit allem über alles für alle: Allgemeines historisch-statistisch-geographisches Handlungs-, Post- und Zeitungs-Lexikon für Geschäftsmänner, Handelsleute, Reisende und Zeitungsleser: enthaltend in alphabetischer Ordnung eine genaue, planmäßig vollständige, historische, statistische und topographische Beschreibung aller Erdtheile,...