2.1 Einleitung zur entwicklungspsychologischen Theorie
Mit der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit hat sich der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Erik Homburger Erikson (1902 – 1994) auseinandergesetzt. Erikson war ein Schüler und Freund von Sigmund Freud und entwickelte Freuds Einsichten zur Psychoanalyse weiter. Im Gegensatz zu Freud versteht Erikson die Entwicklung der Persönlichkeit als einen Prozess, der das ganze Leben eines Individuums andauert und in einem vielschichtigen sozialen bzw. gesellschaftlichen Kontext steht. Es existiert also eine Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft.
Wichtig in der Identitätstheorie von Erikson sind nicht die individuellen Differenzen, wie vielfältig sich einzelne Identitäten ausbilden können, sondern die Gemeinsamkeit, die uns veranlasst, unsere Identität weiter zu entwickeln.
Im Nachstehenden soll aufgezeigt werden, welche Auswirkungen diese Gemeinsamkeit, die Erfahrungen mit anderen Menschen, auf die Person haben.
2.2 Die Phasen
Erikson teilt seine Identitätstheorie in Entwicklungsabschnitte bzw. in psychosoziale Krisen ein. In jeder Phase gilt es, eine Krise[81] zu bewältigen, die den Aufstieg in die nächste Phase zulässt.
Jede Phase, die der Mensch bis zum Erwachsenenalter hin durchlebt, wirft Wendepunkte in seiner Identitätsentwicklung auf. Die Überwindung jeder Krise bedeutet einen Abschluss jener Phase zu finden, um ohne Belastung in die nächste Phase eintreten zu können. Dabei ist festzuhalten, dass die positiven Stärken, die in einer Krise entstehen können, helfen, den nächsten Krisen positiv entgegenzutreten.
Dazu erstellte Erikson ein Entwicklungsmodell, welches er eng an die fünf Phasen der psychosexuellen Entwicklung von Freud anlehnte. Freuds Modell beschreibt die Entwicklung des Menschen von der Geburt bis zur Pubertät. Die erste Phase wurde von Freud als Orale Phase bezeichnet, während das Kind die Lustbefriedigung durch alles, was mit dem Mund zusammenhängt, erlebt. Anschließend folgt die Anale Phase, in der sich die Aufmerksamkeit auf die Ausscheidungsprodukte richtet. Das Kind erlangt zunehmend Kontrolle über das Ausscheiden oder Zurückhalten der Exkremente. In der Phallischen Phase übernimmt das Kind Moralbegriffe, beispielsweise von den Eltern, und entwickelt so auch sein Über-Ich.
Des Weiteren ist diese Phase durch das erste Entdecken der eigenen und fremden Sexualität gekennzeichnet. Außerdem kommt es zu einer verstärkten Hinwendung zum gegengeschlechtlichen Elternteil und sogar zur Rivalität mit dem Gleichgeschlechtlichen, so dass auch um die Liebe des gleichgeschlechtlichen Elternteils gefürchtet wird.
In der folgenden Latenzphase werden die sozialen und seelischen Antriebe ausgebildet. Die genitale Phase bildet den Abschluss der Sexualentwicklung und konzentriert die Wahrnehmung erneut auf die eigene und fremde Sexualität. Mit dieser Phase endet auch Freuds Beschreibung. Diese Phasen hat Erikson übernommen und sie mit sozialen Merkmalen erweitert.
<Zwar fügt Erikson den fünf Phasen, die Freud in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ beschreibt, drei weitere Phasen hinzu, aber er erörtert darin eher Probleme der Identität und der Gemeinschaft als sexuelle Sachverhalte.>[82]
Erikson geht davon aus, dass die Bewältigung altersphasenspezifischer Krisen den Menschen vorantreibt. Er bezeichnet solch eine Krise aber nicht immer als negativ, sondern als einen Zustand, der zur Weiterentwicklung führt.
Er formuliert zu jeder Phase eine Stärke. Diese Stärken nennt er auch Grundtugenden, die das dauerhafte Ergebnis günstiger Verhältnisse in der Entwicklung des Menschen sind.
Die nachstehende Abbildung ist das achtstufige Modell von Erikson. Auf die einzelnen Phasen werde ich gleich näher eingehen.
2.2.1 Die Säuglingszeit / Die oral-sensorische Phase
In dieser Phase muss die Krise von Urvertrauen gegen Misstrauen überwunden werden. Der Säugling wird von der Mutter versorgt und muss seine aufnehmende Methode im Wechselspiel der gebenden Methode der Mutter anpassen. Er entwickelt die Fähigkeit, andere zu beeinflussen, um seine Bedürfnisse zu stillen.
Der Säugling macht auf sich aufmerksam, um ein Mindestmaß an Versorgung zu sichern und wird sich beruhigen, wenn ein zufriedenstellendes Maß erreicht ist.
Das Kommen und Gehen der Versorger schafft ein Lebensgefühl, das Erikson Vertrauen nennt.
Nach einer Zeit jedoch beginnt die notwendige Trennung von der Mutter. Ein Beispiel hierfür wäre die Entwicklung der Zähne, die der Mutter Schmerzen beim Stillen zufügen würden. Die Mutter beginnt den Säugling abzustillen und wendet sich nun auch wieder anderen Aufgaben zu, denen sie in der Versorgerphase nicht nachkommen konnte. In dieser Zeit erfährt sich der Säugling noch stückweise als eigene Persönlichkeit. Er baut sich langsam eine Ich-Identität auf.
Durch die fehlende Möglichkeit sich selbst zu versorgen, kann ein Säugling nur auf seinen Versorger hoffen. Ein ungebrochenes Vertrauen hilft dem Säugling unbeschwert diese Zeit zu bestehen, ohne Angst, von seinen Versorger verlassen zu werden.
Das Gleichgewicht dieser Krise findet sich in der Identifikation mit der Mutter, der Möglichkeit des Verstehens einer gebenden Person und dem Vertrauen auf die Bindung zwischen Mutter und Säugling. Das Misstrauen wird genährt durch das Gefühl des Verlustes. Erikson erklärt, dass parallel zu der individuellen Entwicklung des Vertrauens ein gesellschaftliches Vertrauen entsteht. Ebenso wird das individuelle Misstrauen zum gemeinschaftlich formulierten Schlechten.
Entsteht beim Säugling ein Vertrauen in seine Versorger, so entsteht gleichzeitig ein Vertrauen in den gesellschaftlichen Mechanismus, der dahinter steckt. Es entsteht ein Glaube in die Gemeinschaft.
Es hängt von der Qualität des Versorger-Kind-Verhältnisses ab, ob sich ein Urvertrauen oder ein Misstrauen gegenüber dem Leben entwickelt.
Während der oralen Phase entsteht aus dem positiv verlaufenden Wechsel von Urvertrauen und Misstrauen die Stärke der Hoffnung, die Erikson auch als die Grundtugend Hoffnung bezeichnet.
2.2.2 Das Kleinkindalter / Die muskulär-anale Phase
In dieser Phase gilt es, die Krise von Autonomie gegen Scham und Zweifel zu bewältigen. Das Kind bildet nun seine motorischen Fähigkeiten aus, indem es Gegenstände umklammert oder festhält. Das Kind entdeckt auch seinen autonomen Willen, Dinge loszulassen.
Für die Erprobung eines freien Willens ist jedoch das Vertrauen der ersten Phase Voraussetzung, was eine Sicherheit für das Kind darstellt, nicht seine Versorger durch ungeübte Schritte der Autonomie zu verlieren.
Dem Versuch, ein Gefühl von Autonomie zu entwickeln, stehen Scham und Zweifel gegenüber. Erikson beschreibt die Scham als Gefühl, sich vorzeitig und töricht bloßgestellt zu haben. In dieser Haltung entwickelt sich der Zweifel. Der Zweifel daran, das Vertrauen der Eltern zu genießen und der Zweifel an der eigenen Fähigkeit.
Innerhalb dieses Konfliktes entwickelt sich ein Abwägen zwischen Autonomie und Selbstbeschränkung ohne Verlust der Selbstachtung.
Diese Phase löst im positiven Sinne die Krise der Entfremdung von der Mutter, da das Kind einen eigenen Willen entdeckt. Dieser freie Wille wird zur zweiten Stärke. Die Grundtugend dieser Phase ist somit die Willenskraft.
2.2.3 Das Spielalter / Die lokomotorisch-genitale Phase
In der Kindheits-Phase muss die Krise von Initiative gegen Schuldgefühl überwunden werden. Sie ist gekennzeichnet durch drei wesentliche Entwicklungen des Kindes.
Erstens lernt das Kind sich freier und sicherer zu bewegen. Für seine Sinne stehen nun auch Quellen zur Verfügung, die nicht in unmittelbarer Reichweite stehen oder vom Versorger zugebracht werden.
Zweitens entwickelt sich die Sprache, die neue Eindrücke durch gezieltes Fragen, wie „Was ist das?“ entstehen lassen.
Drittens lässt diese Weiterentwicklung das Erdenken bzw. Erstellen einer Phantasiewelt zu, in der sich erste entworfene Rollen wiederfinden. Durch das Gehen des Kindes, erfährt es eine neue Art der Aneignung. Das Kind kann sich auf ein Objekt zu bewegen, was Interesse in ihm hervorruft. Erst jetzt können alle Sinne dem „Erobern der Welt“ dienen. Es handelt sich dabei um die Aneignung von Wissen und greifbarer Erfahrung. Das Kind lernt nun das räumliche Fremde sowie das soziale Fremde kennen.
Ein gutes Beispiel hierfür wäre der Kindergarten, wo sich das Kind in bislang fremden Räumen bewegt und auf viele gleichaltrige Kinder trifft. Die Umgebung des Kindes vergrößert sich, in der die eigene Initiative gefördert wird. Um bei dem Beispiel des Kindergartens zu bleiben, wäre dies ein erstes Gespräch oder aktiver körperlicher Kontakt mit den anderen Kindern.
Während der Drang nach Autonomie in der zweiten Phase ggf. einen Selbstschutz vor Rivalen aufbaute, entsteht in der Initiative ein Rivalitätsgefühl allen anderen gegenüber, die schon da sind und den Raum besetzen. Diese Eifersucht und Rivalität führt zu einem Gefühl von Schuld und Angst.
Die Möglichkeiten, die das Kind in dieser Phase entdeckt, bergen die Gefahr etwas falsch zu machen, jemanden zu verletzen oder zu enttäuschen. Diese Krise löst sich auf, wenn das Kind spielerisch gelernt hat, wann die Konsequenzen der Initiative real werden. Die Entwicklung dieser...