1 Neugier
Als ich das erste Mal auf einem mehr als 8000 Meter hohen Gipfel stand, blieb das große Glücksgefühl zunächst aus. Natürlich freute ich mich, aber ich war sehr erschöpft und gedanklich vor allem damit beschäftigt, dass wir auch wieder gut hinunterkommen mussten. Die überragende Freude, die tiefe Zufriedenheit, diese Gefühle stellten sich erst unten im Basislager ein. Am Vorgipfel des Broad Peak auf 8027 Metern ging es mir eher so, dass ich es fast nicht glauben konnte – stand ich wirklich hier oben? Ich hatte einfach einmal einen Achttausender versuchen wollen. Ich wollte wissen, ob ich die extreme Kälte überhaupt aushalte, von der in Berichten immer die Rede war. Wie das ist, in der dünnen Luft aufzusteigen, in der Todeszone, wie Höhen über 7000 Metern genannt werden. Und jetzt hatte ich es tatsächlich geschafft.
Die 900 Höhenmeter Aufstieg von unserem letzten Lager waren eine riesige Anstrengung für mich gewesen. Höhenbergsteigen ist auch heute noch äußerst anstrengend, aber beim ersten Mal, als ich das alles noch nicht gewohnt war, kam ich an meine Grenzen. Ich war vorher nie höher als auf 4800 Metern gewesen, mein Körper war im Vergleich zu heute noch nicht auf die verschiedenen Anpassungsmechanismen in der Höhe eingestellt, an den geringen Sauerstoffpartialdruck, das schnelle Atmen. Ich war 23 Jahre alt, und für mich war alles neu, von der Akklimatisierung bis zum Schneeschmelzen in großen Höhen. Wofür ich heutzutage, weil ich es automatisch mache, nur mehr wenig Energie aufwende, dafür war damals ständige Konzentration nötig, um alles richtig zu machen und nichts zu vergessen. Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass das meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und ich wenig von meiner Umgebung aufnehmen konnte.
Es war kalt, ein eisiger Wind blies, und es hatte zugezogen. Das Basislager war nicht mehr zu sehen, und auch die Sicht auf den K2 wurde immer schlechter. Sein Gipfel schaute noch heraus, doch unterhalb befand sich eine dichte Wolkenschicht. Wir sprachen gar nicht darüber, ob wir noch weiter zum Hauptgipfel aufsteigen, der wegen der Wolken nicht zu sehen war, für uns war das der Gipfel. Siegfried, Ernst und ich umarmten uns, und ein paar Freudentränen ließ ich freien Lauf. Ich dachte an meine Eltern und an meine Geschwister und fragte mich, ob sie sich vorstellen konnten, wo ich jetzt war. Das hatte ich mir im Lauf der Expedition oft gedacht und in Gedanken mit ihnen beredet. 1994 am Broad Peak hatten wir noch kein Satellitentelefon dabei, statt E-Mail-Verkehr wie heute gab es einen Postläufer. Ich war wirklich weit von ihnen entfernt.
Außer uns dreien war an diesem Tag, dem 2. Juli 1994, niemand zum Gipfel heraufgekommen. Keiner von uns war jemals so hoch gewesen. Zusammen mit Siegfried hatte ich schon viele Gipfel bestiegen, aber dieses gemeinsame Erlebnis war einmalig. Ich hatte ihn kennengelernt, als ich gerade meine schriftlichen Diplomprüfungen als Krankenschwester gemacht hatte. Gesehen hatte ich ihn allerdings schon früher, mit sechzehn. Er war Bergführer, lebte in Windischgarsten und hielt in meinem Heimatort Spital am Pyhrn einen Diavortrag über den K2. Er war im Sommer 1986, als am K2 dreizehn Bergsteiger ums Leben kamen, Teilnehmer der österreichischen Expedition gewesen. Zuvor hatte ich bereits den Vortrag seines Teamkollegen Willi Bauer angeschaut – eine dramatische Geschichte, weil unter anderem Fredl Imitzer, der aus Spital kam, nicht mehr zurückkehrte. Ich hatte zuvor meinen Vater gefragt, ob ich zu dem Vortrag gehen dürfe. Er gab mir hundert Schilling und sagte: »Ja, gehst halt.« Dass mich das interessierte, konnte er nicht so ganz nachvollziehen. In Siegfrieds Vortrag ging es weniger um die Tragödie – er hatte am Gipfelversuch nicht teilgenommen, weil ihm das Wetter zu unsicher war – als um das Gebirge, den Karakorum. Er zeigte Bilder vom Anmarsch, von den Trägern, vom Concordiaplatz, dem Zusammenfluss mehrerer riesiger Gletscher, und ich war von der beeindruckenden Bergkulisse fasziniert. Dahin wollte ich auch einmal!
Siegfried und ich begegneten uns im Sommer 1990 wieder, beim jährlichen Bierzeltfest in Spital am Pyhrn. Er hatte seinen wilden Vollbart abrasiert, deswegen erkannte ich ihn nicht. Wir tranken etwas miteinander und redeten eigentlich sofort vom Bergsteigen, erst später sagte er mir, wer er war – da hatten wir schon ausgemacht, dass wir zusammen klettern gehen würden. Etwas Besseres konnte mir gar nicht passieren; ich war eine begeisterte Bergsteigerin, und jetzt ging der viel erfahrenere Siegfried Wasserbauer mit mir zum Klettern!
Richtig schwierig geklettert war ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich hatte mit acht Jahren meine ersten Wanderungen gemacht, mit der Jungschar, der katholischen Kinder- und Jugendgruppe. Jeden Freitag war Jungscharstunde, in der wir zusammen spielten, bastelten, sangen oder Aufführungen einstudierten. Besonders beliebt war das sommerliche Ferienlager unter der Leitung des Pfarrers von Spital am Pyhrn, Erich Tischler, der mich auch getauft hatte. Eigentlich durften erst Kinder ab sechs Jahren daran teilnehmen, aber weil meine ältere Schwester Manuela auch dabei war und ich so sehr bettelte, durfte ich schon mit fünf Jahren mitfahren. Es kam noch eine andere »kleine Schwester« mit, Eva, und wir wurden beide von den Neun- bis Zwölfjährigen bemuttert. Vor allem hingen wir aber an der »Jungschar-Oma«, Hermine Schwaighofer, die achtzehn Jahre lang die Jungscharköchin im Lager und sehr beliebt war. Das Lager fand am Almsee in der Grünau statt, und unter anderem machten wir einen Ausflug in den Märchenpark Schindlbach. Der Herr Pfarrer – bis zu meiner Hochzeit, als er mir das Du anbot, blieb er für mich immer der »Herr Pfarrer« – fotografierte Eva und mich vor der Figur des Rübezahl, dem wir gerade bis zu den Knien gingen. Jahre später erzählte er mir, dass ich, als ich mit Eva und Frau Schwaighofer vor dem Knusperhäuschen mit der Hexe stand, auf deren Buckel die Katze saß, fragte: »Oma, ist das der Muskelkater?« Das Wort Muskelkater musste ich irgendwo aufgeschnappt haben.
Von da an war ich jeden Sommer dabei. Während die Tage mit Geschicklichkeitsspielen, Postenläufen oder der Lagerolympiade mit Gruppenwertung ausgefüllt waren, saßen wir abends gemütlich am Lagerfeuer – da wurde gesungen, der Herr Pfarrer spielte Gitarre und Ziehharmonika, und ich genoss die Fröhlichkeit und die Gemeinschaft mit den anderen Kindern. In den Schlafsälen der Hütten hatten wir immer eine große Gaudi, der Küchendienst wurde abwechselnd eingeteilt, das Miteinander stand im Vordergrund. Das Jungscharlager war der Höhepunkt des Jahres für mich, ich zehrte jeweils lange davon und litt, wenn ich wieder lange Monate darauf warten musste. Heimweh kannte ich nicht.
Unser Pfarrer ging sehr gern in die Berge, und mindestens einmal während jedes Jungscharlagers wurde gemeinsam ein Berg bestiegen. Beim ersten Mal durfte ich noch nicht mit, aber später war ich mit Begeisterung auf diesen Wanderungen dabei. Später erzählte er, ich sei eine von den »Gangigsten« gewesen; überall wollte ich dabei sein, und es wurde mir scheinbar nie zu viel, ich ging immer gern noch einen zusätzlichen Gipfel und konnte gar nicht genug bekommen. Diese Bergtouren waren für mich das Schönste: Wir frühstückten morgens kräftig, waren den ganzen Tag draußen an der frischen Luft, hatten unsere Jause dabei, rasteten ausführlich, und wenn der Herr Pfarrer von seinen Bergerlebnissen erzählte, lauschte ich gebannt.
Seit ich in die Schule gekommen war, ging ich freitags in die Schülermesse. Religion interessierte mich, und mit zwölf wurde ich Ministrantin. Wenn ich zum Dienst eingeteilt war, stand ich sehr früh auf und schlich mich aus dem Haus, denn um Viertel vor sieben musste ich in der Kirche sein. Im Winter war es da noch stockdunkel. Die Frühmesse war um sieben Uhr, danach ging ich mit dem Herrn Pfarrer hinauf in die Volksschule, er, um Religion zu unterrichten, ich in meine Klasse. An meiner Disziplin merkte er anscheinend, dass es mir ernst war, wenn ich etwas wollte, auf jeden Fall bot er mir und anderen Ministrantinnen an, uns sonntags nach der Messe mit auf eine Bergtour zu nehmen. Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen, ich war voller Begeisterung dabei, mindestens alle vierzehn Tage, wenn er Zeit dazu hatte. Weil es jeweils schon halb zwölf war, wenn wir aufbrechen konnten, bestiegen wir in erster Linie Berge in der näheren Umgebung von Spital wie den Großen Hengst in den Niederen Tauern. Auf diesen Touren brachte er uns grundsätzliche Dinge bei: dass ein guter Bergsteiger sich auf jeden Schritt konzentriert, dass sich die ganze Gruppe nach dem Schwächsten richtet, dass man beieinanderbleibt und aufeinander wartet. Er erklärte uns aber auch, wie man am besten steigt, dass man nicht nur auf den Zehenspitzen, sondern mit der ganzen Sohle auftritt, dass man in steilem Gelände mit der Ferse auf einen Stein treten kann, damit die Fußsohle relativ flach bleibt – das kommt mir heute noch manchmal beim Gehen in den Sinn. Der Herr Pfarrer war aber auch Jäger, und so zeigte er uns die unterschiedlichen Wildspuren und erzählte von den Tieren. Das waren Sonntag für Sonntag eindrucksvolle Erlebnisse für uns.
Als ich dreizehn war, wollten andere Ministrantinnen und ich gern einmal das Klettern ausprobieren. Der Herr Pfarrer nahm uns mit zu einer leichteren Klettertour auf den Sturzhahn im Toten Gebirge. Am Seil zu gehen, warmen Fels unter meiner Hand zu...