In Change-Gewittern
»Wo das Niveau niedrig ist, braucht es Tiefschläge, um auf die Nase zu treffen.«
(Unbekannter Boxer)
Welt, Wandel und die arme Organisation
Natürlich wissen es alle schon seit längerer Zeit: Wer etwas herstellt oder verkauft, ein Produkt oder eine Dienstleistung, muss sich in Märkten und Wettbewerben bewähren, deren Dynamiken man sich vor einigen Dekaden noch nicht einmal vorstellen wollte oder konnte. Unternehmen müssen sich solchen Situationen stellen, aber – in modifizierter Weise – ebenso öffentliche Verwaltungen und soziale Einrichtungen. Gewachsene Verhältnisse und Vorgehensweisen stehen zunehmend auf dem Prüfstand und unter einem andauernden Anpassungsdruck, der einen Veränderungsdruck zeitigt und in seiner Heftigkeit lange suchen müsste, um vergleichbare Vorbilder zu finden.
Auch in ihrer Binnenstruktur sind Unternehmen komplexer geworden. Internationalisierung, Standardisierung, Diversity, Innovation, Kultur, Kostenreduktion, Mitarbeiterzufriedenheit oder Wachstum sind keine neuen Schlagwörter, aber immer noch die Überschriften schlagender Argumentationslinien der getriebenen Veränderungstreiber. Man muss etwas tun. Es wird etwas getan. Meistens planvoll, manchmal ratlos versucht man, wechselnden Lagen und Herausforderungen zu begegnen. Radikales Downsizing folgt bisweilen auf hektischen Kapazitätsaufbau – oder umgekehrt –, und das in immer kürzeren Zeitabständen. Wandel allenthalben, bewusst oder nicht gewollt oder ungesteuert. Die meisten Aktivitäten betreffen die eigene Organisation: die Strukturen, die Prozesse, die Abläufe, die Kultur, die Menschen, die Haltungen. Was könnte man auch sonst tun?
Organisationen: Sind sie noch klein, mag man sie. Groß geworden, beginnen sie aber ihr Eigenleben und werden kompliziert. Die meisten würden sie abschaffen, würden sie eine Alternative kennen. Wer beklagt sie nicht, wenn er kann? Ineffektiv, intransparent, entmündigend! Die Vorwürfe sind immer die gleichen. Sie scheinen ihre Insassen einfach nicht glücklich zu machen, und jeder kennt Ideen, die sie bessern würden. Die lernende Organisation hat sich zwar bemüht mit dem Lernen, aber das Klassenziel nicht erreicht. Die lernende Organisation ist sitzen geblieben. Wurde sie überschätzt? Bleibt sie doof?
Fragt man ihre Insassen, sind große Organisationen jedenfalls immer irgendwie in der Krise. Immer zu langsam, immer zu träge, immer hinterher. Erfolgreich, sagt man, wären sie, wenn ihnen Passung gelänge. Wenn sie das liefern würden, was ihre relevanten Umwelten benötigen, wären alle zufrieden. Aber wie bestimmt man die Relevanz der Umwelt? Wer kann verbindlich sagen: Das ist wichtig und das lass sein? Oft scheint es, als gäbe es für jedes Unternehmensmitglied eine eigene Umwelt. Wie kann sie da passen? Da doch jeder denken muss: Ganz anders müsste es sein!
Ach, Organisationen sind eigentlich ganz anders, sie kommen nur nicht dazu. Sie waren eigentlich immer schöner gedacht, als sie real daherkommen. Und dann beschreiben und verkünden sie selbst noch die Ideale, an denen sie regelmäßig scheitern: gute Führung, kurze Entscheidungswege, passende Kultur, produktive Zusammenarbeit, attraktive Visionen, dialogische Entscheidungen, lernende Organisation sein, delegierte Verantwortung, nachhaltiges Wirtschaften, dynamische Fehlerkultur, zufriedene Mitarbeiter, starke Innovationskraft, echte Wertschätzung, interne und externe Vernetzung, dialogische Kundenorientierung.
Die Anforderungen an alle, die steuern sollen, sind paradox: Strukturen und Prozesse sollen stabil Output produzieren und sich gleichzeitig flexibel anpassen. Die Antwort auf die Frage, wer das alles richten soll, ist: der Change. Kein Unternehmen ohne ihn.
Change-Geschichte und der lange Marsch der Blumenkinder
Es begann in den 1990er-Jahren. Tom Peters und ein Team von McKinsey waren auf der Suche nach Spitzenleistungen und stellten fest: »Im Grunde spüren wir alle, dass zur Erhaltung der Lebens- und Handlungsfähigkeit einer großen Organisation viel mehr gehört, als in Grundsatzerklärungen, neuen Strategien, Plänen, Budget und Organigrammen dargestellt werden kann. Und doch tun wir allzu oft, als wüssten wir das nicht. Wenn wir was ändern wollen, basteln wir an der Strategie herum. Oder wir verändern die Struktur […] Vielleicht wäre es Zeit, einmal unser Verhalten zu ändern« (Peters/Waterman 1998, S. 25). Seit den 1990er-Jahren waren Change-Prozesse, die Struktur und Ablauf betrafen, immer auch verbunden mit der Forderung, Einstellung und Verhalten der Mitarbeiter müssten sich ändern, wenn das Neue »leben« solle.
Die Begriffsfamilie des Wandels, der Veränderung, des Aufbrechens der einengenden Verhältnisse, die Befreiung und das Empowerment, verbunden mit neuen Eigenschaftsanforderungen, die nun von allen gebraucht wurden: Autonomie, Spontaneität, Kreativität, Mobilität, Flexibilität, Netzwerkbildung, Offenheit für Neues, die Neigung zum Informellen und das Bestreben nach erfüllenden zwischenmenschlichen Kontakten, scheint direkt der Gedanken- und Ideenwelt der 1968er-Jahre entliehen. Das Aufweichen der bestimmenden Formen hierarchischer Steuerung in den Unternehmen und das Ermöglichen einer größeren Autonomie in vielen Organisationen wurden von zahlreichen Mitgliedern der antiautoritären Szene der 1970er-Jahre mit Genugtuung betrachtet.
Nicht selten wirkten diese vielen seit den 1980er-Jahren in den Unternehmen aktiv mit: Die meisten kamen aus einem Milieu, das alles durchaus kritisch beäugte, waren häufig selbst politisch und/oder therapeutisch aktiv. Sie fanden ein neues lukratives Betätigungsfeld als Coach oder Trainer in der Wirtschaft. Viele, die aus dem linken Milieu kamen, begannen in den 1980er-Jahren ihren Aufbruch in die Unternehmen, zunächst, um die Manager in Seminaren im Hinblick auf Kommunikation und Konflikte zu schulen, mit der Idee, die Wirtschaft humaner zu gestalten. Sie fühlten sich als gut bezahlte Raubtierdompteure, die sich in die Höhle des Löwen wagten, um die Welt zu verbessern.
Später – in den 1990er-Jahren – wurden sie Unternehmensberater und erlebten ihren Lebensweg durchaus als kohärent. Mit dem Elan, in den kleinen Gesellschaften der Unternehmen nun das erreichen zu können, was sie in der großen nicht erreicht hatten, starteten sie ihre Arbeit als Changer. Immer mit der Verheißung auf ein besseres Leben oder zumindest Arbeiten, auf mehr Freiheit, auf mehr Echtheit, auf mehr Authentizität.
War der alte Geist des Kapitalismus durchtränkt vom asketischen Ideal der protestantischen Pflichtethik, so umgab den Manager der 1990er- und der Folgejahre eine neue Theologie der Befreiung. Das alte Ideal der Selbstverwirklichung sollte nun in den Unternehmen realisiert werden, und die Feinde waren die Bürokraten, die Formalisten, die Zwanghaften. Solche Feinde kannte man schon aus Schule und Elternhaus. Der Kampf ging irgendwie weiter – aber besser bezahlt. Als Legionäre eben, als Kurtisanen des Großkapitals zwar, aber immerhin im Dienste der richtigen Sache. Im Falschen gibt es zwar kein Richtiges, aber im Sinne des Kaizen konnte man sich zumindest im Falschen stetig verbessern …
Change enttäuscht
Meist ist ja der Wunsch nach Veränderung des Verhaltens das eigentliche Ziel organisatorischer Umstrukturierungsmaßnahmen aller Art. Ihr Ziel erreichen sie selten. Erfahrungsgemäß werden Strukturanpassungen oder Prozessneudefinitionen von den meisten nur als Option für Veränderung begriffen, die angenommen werden kann – oder auch nicht. Alle, die in Unternehmen arbeiten, kennen die Diskrepanz zwischen Zielsetzung und Realität bei der Veränderung von Aufbau- und Ablaufstrukturen.
Diejenigen, die dafür Sorge tragen könnten, dass sich die Diskrepanz verringert – die Führungskräfte der unteren Ebenen zum Beispiel –, verstehen in vielen Fällen selbst nicht, worum es geht oder sie sind gegen die Veränderung. Nicht selten sabotieren sie offen – meist aber verdeckt – die eingeleiteten Maßnahmen. Eine Einbeziehung der unteren Führungsebenen ist meistens vorgesehen, aber häufig kommt es dann aus Zeit- oder Geldgründen nicht dazu. Klassische Veränderungsprozesse in Unternehmen beginnen immer oben und haben in der Regel das Ziel: schneller, höher, weiter. Sie beginnen oben, weil dort die Ressourcen sind, es zu tun, und es zum Rollenverständnis des oberen Managements gehört, eben das zu tun: Change. Change ist in der Regel Chefsache. Betroffene können somit immer erst...