Lachenmann verstehen
Jörn Peter Hiekel
«Erkenntnis als Kunst formuliert bleibt an Sinnlichkeit, Materialität, Partikularität und Zufälliges gebunden. Vor den Richterstuhl einer großen Theorie, vor die Allgemeinheitserfahrung eines Begriffes oder vor die ewige Geltungskraft einer Idee lässt sie sich nicht zerren, um dort ihrer Mängel überführt zu werden.»1 Diese Sätze des Kunsthistorikers Gottfried Boehm sollten in ihrer demonstrativen Zurückhaltung keineswegs als Absage an jede Theorie missverstanden werden. Aber sie drücken Zweifel aus gegenüber der Verengung von Kunstwerken auf bestimmte Aussagen und Theoriehorizonte. Sie entstammen einem Text, der andererseits gerade aufzuzeigen sucht, wie unübersehbar wichtig die Dimension der Erkenntnis für die Kunst der Moderne geworden ist.
Geht es um die Musik von Helmut Lachenmann, so scheint es zu den Grundeinsichten im Umgang mit ihr zu gehören, dass gerade sie – etwas formelhaft gesprochen – ein starkes Erkenntnis-Interesse in sich trägt und damit in emphatischer Weise an dem von Jürgen Habermas beschworenen «unvollendeten Projekt der Moderne»2 teilhat. Dennoch ist nicht ungeprüft davon auszugehen, dass sie das Bewusstsein mit sich führt, einer durch und durch konsistenten, widerspruchslosen Theorie verpflichtet zu sein. Oder gar einer dogmatischen Haltung – die dann im Falle von sichtbaren Abweichungen im Sinne des eben wiedergegebenen Zitats womöglich vor den Richterstuhl von wachenden musikästhetischen Scharfrichtern zu stellen wäre. Helmut Lachenmann steht im Ruf, ein vergleichsweise konsequenter Komponist zu sein. Doch gibt es in seinem Schaffen Entwicklungen und Weitungen, die leicht übersehen werden. Diese reichen bis zu punktuellen Reaktionen auf die musikalische Postmoderne, wie sie seit einiger Zeit auch im Musikbereich im Zusammenhang mit der so genannten «Zweiten Moderne» diskutiert werden, bis hin zur Auseinandersetzung mit interkulturellen Perspektiven der Gegenwartskultur und bis hin zu verschiedenen signifikanten Uneinheitlichkeiten seiner Musik. Das alles hat mit deren Verstehen zu tun, das – so viel dürfte klar sein – kein einfaches Verstehen ist.
Folgen wir Hans-Georg Gadamer, entspricht es der«Grundverfassung der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins»,«sich mit sich selbst zu vermitteln», also zu verstehen und Verstehbares hervorzubringen.3 Der Titel Musik als existentielle Erfahrung, den Helmut Lachenmann seinem 1996 erschienenen Schriftenband gab, lässt diese Grundverfassung bewusst anklingen oder ist zumindest in solcher Weise lesbar.
Dieser viel beachtete Schriftenband steht für Lachenmanns vergleichsweise intensive Tätigkeit als Autor von Texten. Wilhelm Dilthey hat davon gesprochen, dass das Verstehen stets auf eine Folge von Worten zurückzugreifen hat. Das mag vielen von uns angesichts heutiger kulturwissenschaftlicher Fragestellungen obsolet erscheinen. Doch gerade das Musikverstehen (das Dilthey in diesem Zusammenhang nicht meinte) sucht immer wieder bevorzugt Halt bei Worten. Es erscheint in der Realität unseres Umgangs vor allem mit neuesten Werken oft wie das Einbekennen der Tatsache, dass eine Folge von Klängen einer Folge von Buchstaben offenbar stets unterlegen ist. Sekundärtextschreiber greifen für Aussagen zu neuer Musik jedenfalls mit großer Vorliebe Textgebundenes heraus: entweder Kompositionen mit Texten, die für das Verstehen eine Einstiegshilfe versprechen; oder aber von Komponisten ausdrücklich als Einstiegshilfe formulierte Texte über die Musik.
Ich möchte mich in den beiden ersten Teilen meines Beitrags kurz diesen zuletzt genannten Aspekten zuwenden, im dritten Abschnitt dann auf noch spezifischere Perspektiven des Verstehens von Lachenmanns Komponieren kommen, nämlich auf die affektive und bildhafte Seite; und dann im vierten Teil auch kurz den Begriff des «Verstehens» selber ins Blickfeld rücken. Ich werde ihn dabei vorsichtig mit dem vielleicht etwas manieristisch klingenden, aber wohl hilfreichen Gegenbegriff des Nichtverstehens konfrontieren und dabei nach einer Möglichkeit suchen, das Erleben der Musik Lachenmanns in spezifischer Weise zu beschreiben.
1. Verbale Verstehenshilfen
Es ist in der letzten Zeit fast ein Topos im Reden über Lachenmann geworden, dass es unzureichend ist, bei der Analyse seiner Werke zu stark Halt zu suchen bei seinen eigenen Einführungstexten und musikästhetischen Betrachtungen. Dass dieses Dilemma im Falle Lachenmanns womöglich gravierender ist als bei den meisten anderen Komponisten der Gegenwart, hat mit dem besonderen Nachdruck und auch der Brillanz seiner Texte zu tun. Diese können als Musterbeispiel dafür gelten, wie wichtig das erklärende Kommentieren von Kompositionen in der neuen Musik seit 1945 geworden ist. Die große Autorität seines Schriftenbandes Musik als existentielle Erfahrung für alles Reden über Lachenmann wird dadurch noch erhöht, dass viele Texte schon für die erste Auflage 1996 und dann nochmals für die zweite Auflage 2004 vom Komponisten sorgsam überarbeitet wurden. Und dabei ging es offenkundig nicht nur um sprachlichen Feinschliff, sondern zugleich um die Präzisierung der Gedanken.
Mit der Wirkung von Helmut Lachenmanns Texten über seine Musik hängt die Herausbildung bestimmter Formeln und Klischees zusammen. Das bekannteste Beispiel markiert wohl jener Begriff der Verweigerung, der vom Komponisten in einer Zeit ins Spiel gebracht wurde, als er selbst Autoren wie Herbert Marcuse las. Lachenmann sprach seit den 60er Jahren zuweilen von «Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit». Diese Formel entfaltete ihre eigene Dynamik. Plötzlich war vor allem in journalistischen Texten oft von der Verweigerung von Schönheit die Rede – und Lachenmann galt durch diese Verschiebung lange als Verweigerungskomponist.4 Es wäre zu fragen, ob die so ausgelöste Verschiebung das Schaffen Lachenmanns beeinflusste, etwa im Sinne der in der Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß formulierten Beobachtung, dass die Geschichte der Rezeption auf die Kunstwerke selbst zurückwirken kann. Lachenmann selbst hat jedenfalls, weil es ihm gerade nicht um die Verweigerung von Schönheit – sondern um die Suche nach einer neuen Schönheit – geht, in jüngerer Zeit immer wieder die Eigendynamik des «Verweigerungs»-Begriffs zu bremsen versucht. Er hat bei dessen Verwendung – folgt man seiner eigenen Darstellung5 – womöglich stärker unter dem Einfluss seiner eigenen Studenten und deren Politisierung gestanden als unter dem oft hervorgehobenen Einfluss seines Lehrers Luigi Nono. Verweigerung ist in der Tat eine nur bedingt taugliche Formel, um Lachenmanns Musik wirklich gerecht zu werden und ein tieferes Verständnis ihrer Ästhetik zu fördern. Denn sie suggeriert eine Nähe zu Markt-Mechanismen (respektive einem kritischen Reagieren auf diese Mechanismen), die dem Wesen dieser Musik zunächst eher fremd ist.
Man könnte an dieser Stelle noch verschiedene andere Begriffe diskutieren, die in den durch Lachenmann offerierten Verstehens-Hilfen zu seiner Musik häufiger vorkommen. Einige von ihnen sind Sprachverfestigungen im Sinne der von Gustave Flaubert reflektierten «idées reçues». Hierzu gehören vor allem die Begriffe «Musica negativa» (der mit unterschiedlichen Absichten, nicht selten mit polemischem Zungenschlag verwendet wurde) und «kritisches Komponieren». Eine gewisse Plausibilität zumindest des letztgenannten Begriffs, des kritischen Komponierens, der in Analogie zur «kritischen Theorie» verstanden werden kann, liegt allerdings auf der Hand. Es scheint erlaubt, diesen Begriff zu verwenden, obwohl Lachenmann selbst sich mit ihm nicht gerne anfreunden möchte.6 Auf den Begriff «Musica negativa» komme ich im Schlussabschnitt meines Beitrags noch kurz zurück.
2. Textbezüge in Musikwerken
Die andere eben genannte Vorliebe von Veröffentlichungen zu neuer Musik, die Hinwendung zu textgebundenen Werken, stößt bei Lachenmann an deutliche Grenzen. Denn textbezogene Kompositionen sind in seinem Schaffen bemerkenswert selten. Der Grund dafür könnte mit einer tiefen Skepsis gegenüber der von Texten ausgehenden Sogwirkung zusammenhängen, denn sie präfigurieren oft die affektiven und semantischen Dimensionen eines Musikstücks und rufen die nicht erst seit Monteverdis Zeiten diskutierte Gefahr hervor, dass die Musik sich in die Rolle der bloßen Dienerin von Texten einzufinden hat.
Zu den ersten gewichtigen Ausnahmen im Schaffen Lachenmanns gehört die Komposition «… Zwei Gefühle …» von 1992. Deren ungewöhnlich enge Textbezogenheit wird schon durch den Untertitel «Musik mit Leonardo» angezeigt (gemeint ist Leonardo da Vinci, aus dessen Codex Arundel der dominierende Text des Werks stammt, ergänzt durch einige Verse von Nietzsche). Außerdem ist hier das Musiktheaterwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern zu nennen, in das die Leonardo-Musik...