21. Mai
Alpe Mutta/Unter-Überlud, Buchboden-Sonntag, Großes Walsertal
Kostbares Krut und Unkrut
Als ich im hübschen kleinen Ort Buchboden, der zur Gemeinde Sonntag gehört, nach Susanne und Josef Türtscher frage, wird mir die Auskunft gegeben: „Es grünt und blüht prächtig ums Haus.“ Damit ist die Adresse leicht zu finden. Besucher werden von einem wohlduftenden Paradiesgarten aus Blumen und Kräutern willkommen geheißen. „Krut und Unkrut“ steht auf einem Schild neben der Eingangstür, wobei das, was gemeinhin als Unkraut gilt, oft als Heiloder Küchenkraut zum Einsatz kommen kann. Wenn man darüber Bescheid weiß.
Susanne Türtscher weiß Bescheid, sie ist Floristin und Kräuterfachfrau, die regelmäßig Seminare und Exkursionen veranstaltet. Viele der wertvollen Kräuter findet sie auf der Alp, besonders um die Alphütten herum: Silbermänteli, Frauenmänteli, Brennnessel, Guter Heinrich. Und natürlich Meisterwurz, das Heilmittel, das früher in keinem Walserhaushalt fehlen durfte und sowohl bei Mensch als auch Tier seine wohltuende Kraft entfaltet. Denn es wirkt bei geschwollenen Füßen ebenso wie bei Klauenentzündungen. Vor allem aber stärkt es das Immunsystem.
„Früher hatten die meisten Bauern ein eigenes Heustöckli mit getrockneten Kräutern“, erzählt Susanne, „das bot Kraftnahrung und Eisenzufuhr für Kälber, Kühe und Schweine. Heute wird ihnen dazu eine Spritze verabreicht. Die Kräuter sind ebenso wirksam und noch dazu billiger. Sie sind genügsam, aber man kann sie auch vertreiben, Sobald man zu viel Mist oder Gülle ausbreitet, verschwinden sie in höhere Regionen.“
Mutterkuhhaltung kompatibel mit dem Beruf
Wir verschwinden nun auch in höhere Regionen, denn es geht hinauf auf die Alp. Zuerst aufs Maisäß, das Josef Türtscher mit den dazugehörigen Weideflächen und einem Drittel der Alpe Mutta von einem Onkel übernommen hat. Josef interessierte sich schon in jungen Jahren für die Landwirtschaft, die er zuerst als klassischer Walser Bauer mit Vieh- und Milchwirtschaft betrieb. Als ihn der Ruf in die Politik ereilte und er in den Vorarlberger Landtag gewählt wurde, stellte er auf Mutterkuhhaltung um, weil diese extensive Form der Viehhaltung mit seinen vielfältigen politischen Aufgaben besser kompatibel ist. „Die Zeit der vorgegebenen Rezepte ist vorbei, heute muss jeder selber einen Weg finden, wie er seine Land- und Alpwirtschaft rentabel gestalten kann“, sagt Josef Türtscher. „Es wäre für mich finanziell vernünftiger gewesen, die Alp, die nach einem großen Lawinenschaden in den 1970ern viele Jahre lang brach lag, nicht mehr zu revitalisieren, aber diesen Vorwurf wollte ich mir nicht einhandeln, außerdem wäre es mir auch selber nicht richtig vorgekommen, meine eigene Alp nicht zu bewirtschaften.“ Auf die Frage, ob er Bio-Land- und Alpwirtschaft betreibt, sagt er: „Ja, freilich!“, fügt aber an, dass er von den Kühen nicht leben muss. „Als Milchproduzent wäre es weit schwieriger, auf Kraftfutter und Getreide zu verzichten. Mit Hochleistungskühen könnte ich die Alp nicht so naturnah bewirtschaften.“
Josef und Susanne Türtscher im Garten ihres Hauses in Buchboden.
Damit sich die Land- und Alpwirtschaft doch rentiert, helfen in der Familie alle zusammen, auch die fünf Töchter der Türtschers, die gut anpacken können und nicht nur „dem Kälbli über den Rücken streicheln“. Die Pferde der Töchter halten sich zu dieser Zeit noch in der Nähe vom Maisäß auf, wie die zehn Mutterkühe mit ihrem Nachwuchs, die allerdings auf die saftigeren Weiden dürfen.
„Über 50 verschiedene Arten pro Quadratmeter“, sagt Josef stolz und meint damit die herrlichen Blumenwiesen und Halbtrockenrasen rund ums Maisäß, die Biologen mit ihrer Artenvielfalt ins Schwärmen bringen, die aber auch für die bravsten Kühe tabu sind. Diese Wiesen sind der Beitrag der Familie Türtscher zur Biodiversität. Die Pflanzenvielfalt ist nämlich umso größer, je karger der Boden ist. Würden die Kühe ihren Mist hier hinterlassen, würden viele der Pflanzen abwandern, das habe ich zuvor bei Susanne gelernt.
Ein Blick in die Türtscher-Alphütte.
Anhänger des frühen Alpauftriebs
Es ist kaum mehr als eine halbe Stunde Fußweg vom Maisäß bis auf die Alpe Mutta, die auch Unter-Überlud genannt wird. Überlud heißt so viel wie die Terrasse über dem Fluss Lud, aber welcher Name nun eigentlich der ursprüngliche ist, wurde nie ganz geklärt. „Deshalb reden wir hier am besten von der Alpe Mutta“, sagt Josef. Er hat das Maisäß- und Alpgebiet zum Teil gepachtet, zum Teil gehört es ihm, er kann über ein Gebiet von insgesamt 15 Hektar (ohne Alpfläche gerechnet) verfügen und sich gut überlegen, auf welche der zur Verfügung stehenden Weiden er die Kühe zu welchem Zeitpunkt bringt.
„Wenn sie nicht mehr viel findet, muht die Kuh ohnedies zu mir herunter: He, Bauer, jetzt geht’s aber wieder weiter!“, sagt Josef schmunzelnd, der ein Anhänger des frühen Alpauftriebes ist. „Es ist besser, wenn die Kuh aufs Gras wartet, als wenn das Gras auf die Kuh wartet. Was im Frühling gefressen wird, wird im Sommer im jungen Zustand noch einmal gefressen. Koppelwirtschaft ist dabei hilfreich.“
Die Alpe Mutta ist schon seit frühen Zeiten eine Mischung von Maisäß und Alpe, beide wurden gleichzeitig genutzt, das ist eine Besonderheit. Deshalb gibt es auf der Unteralpe auch keine eigenen Alphütten. Bis zum Jahr 1951 war das Maisäß auf 1350 Meter ganzjährig bewohnt. Heute kommt Josef jeden oder jeden zweiten Tag während des Frühsommers von Buchboden herauf um nachzusehen, wie es den Kühen geht. Wenn die Kühe im Hochsommer in den höheren Regionen sind, ist auch das nicht mehr nötig, denn die Hirtschaft teilen sich drei Familien aus dem Bregenzerwald. Sie nutzen die Alp als Sommerrefugium, errichten die Zäune, sehen dabei nach den Kühen und verrichten Schwendarbeiten. Dass es die Familien von Bergrettern sind, ist kein Nachteil, denn das Gelände ist ziemlich steil.
Einmal mussten die Bergretter ihr Können bei der Bergung von drei abgestürzten Kälbern einsetzen. Bei zweien gelang es mit Hilfe der Mutterkuh, das dritte Kalb musste der Hubschrauber aus dem Tobel bergen. Die Rettung gelang. Vielleicht, weil der Alpsegen meistens hilft, der zu Beginn der Saison gesprochen wird: „Gottvater, du Schöpfer von Himmel und Erd, bewahr üsara Ring, bhüat üsara Herd.“ Auf Hochdeutsch: „Gottvater, du Schöpfer von Himmel und Erde, bewahr unser Gebiet, behüte unsere Herde.“
Informationen
Lage: Die Alpe Mutta, mit anderem Namen Unter-Überlud, liegt auf 1600 m Höhe und umfasst 150 ha, davon 38 ha Weidefläche. Sie gehört zu einem Drittel der Familie von Josef Türtscher und zu zwei Dritteln der Gemeinde Buchboden/Sonntag. Die Straße führt vom Zentrum von Buchboden aus zum Maisäß, von dort auf die Alpe ist es ca. ½ Stunde Gehzeit.
Besonderheiten: Das Alp-Panorama mit den beiden Kunkelspitzen im Hintergrund ist großartig. Die Aussicht auf die andere Talseite offeriert einen atemberaubenden Ausblick u. a. auf die Rote Wand und einen imposanten Berg mit dem unverdient hässlichen Namen Misthaufen. Schönes Wandergebiet mit Berg- und Goldhaferwiesen sowie Magerweiden mit großer Artenvielfalt im Natura 2000-Gebiet und Biosphärenpark Großes Walsertal.
Verpflegung: Die Alpe Mutta ist eine Privatalpe ohne Jausenstation. Die nächstgelegene Sennalpe ist die Ober-Überlud auf 1580 m, dort gibt es hervorragenden Bergkäse, den man verkosten und kaufen kann.
Josef Türtscher ist immer wieder begeistert von der Bergwelt rund um seine Alp.
Postskriptum: Gratheuen im Großen Walsertal
Im Dorfgasthaus Kreuz von Buchboden treffe ich zufällig unter dem großen Wandbild der „Walser-Einwanderung anno 1400“ ein munteres Trio, das sich viel mit Alpen beschäftigt: Christoph Türtscher, Xaver Burtscher und Helmut Nigsch. Christoph ist gerade dabei, ein Vorsäß zu renovieren, Helmut betreibt eine kleine Landwirtschaft in Blons und war 54 Sommer auf der Alpe, vor allem auf der Alpe Heimenwald von Sonntag. Xaver Burtscher aus Nenzing ist Hirte auf der Oberen Alpschelle. Die drei erzählen mir vom „Gratheuen“, eine Art Extremsport oder besser gesagt eine „Extrempflicht“, die früher die Bauern und ihre Helfer zu erfüllen hatten, weil man aus Überlebensnotwendigkeit jeden Quadratmeter Grasfläche zur Heugewinnung nutzen musste. Auch die steilsten Hänge nahe am Grat bis auf 2000 Meter, wo die Kühe nicht mehr weiden konnten, wurden mit der Sense gemäht. Diese steilen Bergflanken standen ausschließlich den jeweiligen Alpbesitzern zur Verfügung.
Vor allem das Aufstehen mit der schweren „Heuburde“ bedeutete Absturz- oder Abrutschgefahr. Aber auch das Fahren mit dem „Heuzug“ war...