KAPITEL 2
Zwangsstörung (Zwangsneurose): Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie
Der traditionelle Name der Zwangsneurose ist heute durch den Begriff der Zwangsstörung ersetzt. Im DSM-IV wird diese Störung (»obsessive-compulsive disorder«, »OCD«, 300.3) den Angststörungen subsumiert, da Zwänge vorrangig der Angstregulierung dienten. Im DSM-5 ist der Zwangsstörung unter dem Titel »Obsessive-Compulsive and Related Disorders« wieder ein eigenes Kapitel gewidmet. Parallel dazu wird auf Achse II die »zwanghafte Persönlichkeitsstörung« (301.4) als eigenständige Kategorie geführt. In der ICD-10 lauten die Synonymbezeichnungen »anankastische Syndrome, Zwangsstörungen« (F 42) bzw. »anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung« (F 60.5).
Wie schon im vorherigen Kapitel erwähnt, lässt sich mit K. Schneider (1967, S. 105) generell Zwang so definieren: »Zwang ist, wenn jemand Bewusstseinsinhalte nicht loswerden kann, obschon er sie gleichzeitig als inhaltlich unsinnig oder wenigstens als ohne angemessenen Grund beherrschend und beharrend beurteilt.« Das »ich-dystone Erleben« ist also für eine Zwangsstörung im Sinne einer Symptomneurose bezeichnend. »Störend, pathologisch und damit behandlungsbedürftig werden Denk- und Verhaltensmuster dann, wenn sie ein zumeist sehr variables und subjektives Intensitäts- und Häufigkeitskriterium überschreiten und dadurch eine deutliche Beeinträchtigung des Lebensvollzugs einer Person mit sich bringen« (Reinecker 2005).
Im Beschwerdebild lassen sich drei große Bereiche unterscheiden:
2.1 Zwangsgedanken
Bestimmte Zwangsvorstellungen oder Zwangsbefürchtungen behaupten sich anhaltend und gegen den Willen des Betroffenen im Bewusstsein. Dabei werden diese Zwangsgedanken als aufdringlich und unangemessen wahrgenommen. Inhaltlich handelt es sich oft um aggressive und sexuelle Themen bzw. um die damit verbundenen Schuldvorstellungen.
So hatten sich beim »berühmtesten Fall« Freuds (1918), dem schon genannten »Wolfsmann«, gotteslästerliche Gedanken dergestalt eingestellt, dass er immer wieder denken musste: »Gott – Schwein« oder »Gott – Kot«. Auch war er von dem Zwang gequält, an die Heilige Dreieinigkeit zu denken, wenn er drei Häufchen Pferdemist oder anderen Kot liegen sah. Erinnert sei hier an die mannigfachen Zwangsbefürchtungen der in der Einleitung erwähnten Patienten. Der Zwangsgedanke, einen Menschen überfahren zu haben oder zumindest einem möglicherweise Verunglückten nicht entsprechenden Beistand geleistet zu haben, scheint heute fast inflationär. Neben anderen Symptomen bietet diese Befürchtung ein 28-jähriger Betriebswirt, Herr E. Besonders eindrucksvoll die Selbstschilderung von Dr. S., einem Psychologen, unter dem bezeichnenden Titel »Der Autounfall, der nie stattgefunden hat« in »Der Junge, der sich immer waschen musste« (Rapoport 1989). Herr E. litt des Weiteren an der Furcht, sich mit Tollwut und AIDS infiziert zu haben und andere entsprechend anzustecken, beispielsweise den behandelnden Zahnarzt. Bezeichnend für einen Zwangsneurotiker hier das »Unsinnigkeitskriterium« seiner ich-dystonen Aussage: »Ich habe Angst Sie anzustecken, obwohl ich eigentlich weiß, dass ich kein AIDS habe«. Einem 38-jährigen Bürgermeister, Herrn R., der zugleich das Standesamt versah, drängte sich die Zwangsvorstellung auf, Heilige hätten Sex mit Tieren, sobald er den Namen eines oder einer Heiligen zu schreiben hatte – was ja bei seiner Tätigkeit häufig vorkommt. Oder es müssen bestimmte Gedankenreihen immer wieder zu Ende gedacht werden (z. B. in einem Zählzwang), dabei oft verbunden mit Befürchtungen der Fremd- oder Selbstschädigung (»wenn nicht entsprechend gedacht, gezählt oder vermieden wird, geschieht einer fremden Person oder dem Subjekt selbst etwas Schlimmes«). So musste, wie eingangs erwähnt, eine 38-jährige Frau unbedingt die Zahl Sieben vermeiden – z. B. beim Lesen eines Buches abdecken –, weil die Wahrnehmung der Zahl Sieben den Tod der Mutter bedeuten könnte. Ähnlich rigoros hatte Felix Leps (s. seine Autobiographie) die Zahl Vier zu vermeiden, weil sie mit dem möglichen Tod des Vaters verbunden war – die Familie bestand aus fünf Mitgliedern, die Zahl Vier hätte dessen »Ausschluss« bedeutet. In den Zwangsbefürchtungen der 32-jährigen Bibliothekarin Sylvia O. stand ebenfalls der Vater im Zentrum, sofern sie ständig denken musste, er sei alkoholkrank, könnte sterben, obwohl er gesund war. Oder ihr schoss sofort der Gedanke durch den Kopf, dass sie einen Menschen überfahren habe, sobald sie beim Autofahren eine Unebenheit spürte. Oder es stellte sich die Zwangsbefürchtung ein, ein Obdachloser sei am Sterben, sobald sie seiner gewahr wurde oder ihn unter einem größeren Stück Papier vermutete, das auf der Straße lag.
Charakteristisch überhaupt sind »Veränderungen des Denkens«: Die Patienten müssen unablässig grübeln, bestimmte Gedanken unterdrücken, andere wiederholen. Alles im Leben muss sorgfältig überprüft, bedacht, überlegt werden, oft ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. Zentral ist bei der Zwangsstörung, wie in der Einleitung erwähnt, die alles dominierende Bedeutung des Zweifels (»maladie du doute«). Entsprechend schreibt Wyss (1973, S. 480):
»Ob die Beziehung des (Zwangs-)Kranken zur Ordnung, seine Genauigkeit (Kontrollzwänge), Skrupulosität, Pedanterie oder die seiner Abwehr gegen Verschmutzung, Staub und Bakterien, ob die Zwangsrituale oder Zwangsimpulse in den Vordergrund gestellt werden – sie alle folgen aus dem Zweifel: ob eine Handlung in bestimmter Weise durchgeführt worden sei, ob eine Verschmutzung vermieden werden konnte, ob sie stattgefunden hat, ob der Eintritt der möglichen Katastrophe, der Bedrohung durch entsprechende Rituale verhindert werden konnte.«
In der Phantasie des Patienten werden Gedanken oft wie Taten behandelt, ihnen wird eine magische Bedeutung zugesprochen: Gedanken können töten, schuldig machen, Unheil bringen, wieder gutmachen, verzaubern. Ein bekannter Patient Freuds, der sogenannte »Rattenmann«, sprach deshalb von der »Allmacht der Gedanken« (Freud 1909, S. 450). Der ungewöhnliche Name rührt daher, dass in den Zwangsvorstellungen des jungen Juristen Ernst Lanzer die Befürchtung stand, am Vater oder an der Geliebten würde eine im Orient übliche Strafe – Ratten bohren sich in den After – vollzogen.
2.2 Zwangsimpulse
Bei Zwangsantrieben kommt es zum massiven Drang, bestimmte Handlungen durchzuführen, die als »trivial, sozial beschämend, störend oder bedrohlich« (Kapfhammer 1996) imponieren. Es sind Impulse meist aggressiven Charakters, z. B. den eigenen Säugling fallen zu lassen oder, wie bei einer 30-jährigen Frau, die Heigl (1972) beschrieben hat, mit einem spitzen Gegenstand zu verletzen.
Der schon erwähnte 38-jährige Mann, von Beruf Filialleiter einer Lebensmittelkette, wird von dem Impuls geplagt, seine Frau zu erwürgen, wenn er nach intimem Beisammensein den Arm um sie legt. Erschrocken über diesen Antrieb, geht er dann schnell auf Distanz. Ein unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidender 24-jähriger Kunststudent gerät immer wieder in dumpf gespürte Episoden von Wut, die sich schließlich in Zwangsimpulsen dergestalt ausdrücken, dass es ihn drängt, der aktuellen Freundin, wenn er sie im Arm hält, »das Genick zu brechen« oder auch andere zu erstechen oder vor einen Zug zu stoßen. Er wisse, dass diese Vorstellungen unsinnig seien, könne sie aber nicht verhindern.
Hier drängen Zwangsvorstellungen zur Handlung, die mit ganzer Kraft abgewehrt werden und in der Regel, falls es sich nicht um Borderline- oder psychotische Störungen handelt, nicht zur Handlung führen.
2.3 Zwangshandlungen
Zwangshandlungen sind krankhaft erlebte Handlungen, deren Unterlassung heftige Angst auslösen kann. Magische Rituale dienen oft der Abwehr phantasierter Gefahren, Ordnungszwänge sollen »das Chaos der Impulse steuern« (Hoffmann 1986). Auch Kontrollzwänge sind häufig mit Angst und Schuldvorstellungen verbunden. Bei Vermeidungsritualen sind bestimmte Handlungen verboten oder müssen durch Gegenhandlungen wieder gutgemacht werden.
So musste der Bürgermeister sofort den Namen des Heiligen am PC löschen, hatte ihn dann neu zu schreiben, löschte ihn wieder, musste ihn erneut bringen und wieder löschen – so ging es ständig hin und her. Da der Name indessen auf der Geburts- oder Sterbeurkunde zu stehen hatte, kam er in seiner verzweifelten Situation zu einer Lösung in Form einer weiteren Zwangshandlung derart, dass er – um sich von seinem schlechten Gewissen zu entlasten – mit dem Wort »Entschuldigung« auf den Lippen zu Kollegen ging, beispielsweise sagte: »Entschuldigung, hast du mal einen Radiergummi?« Dann konnte der Name bleiben.
So musste Sylvia O. ständig kontrollieren, ob der Telefonhörer aufliegt, denn es könnte ja ein Hilferuf der Eltern kommen; ständig musste sie selbst nachschauen, ob jemand auf der Straße am Sterben wäre, musste beim Fahren »sich umschauen« oder umkehren, um sich zu vergewissern, dass sie keinen Menschen überfahren habe. Oft musste sie das mehrmals wiederholen, weil sie zweifelte, ob sie richtig gesehen habe. Dann kamen bei jeder Wiederholung Skrupel, ob nicht durch diese Rückkehr der Verkehr sich anders darstelle als sonst, deshalb gerade durch sie ein Unfall eintreten könnte. Das sei fürchterlich: Was sie auch mache, es sei falsch, das versetze sie in Panik und mache große Schuldgefühle. Ganz...